Wider das betreute Sehen

Aus: Kulturpolitische Mitteilungen (Zeitschrift der Kulturpolitischen Gesellschaft) Nr. 138, III/2012

Wider das betreute Sehen

Die Kunst ist frei, heißt es. Aber ist es auch die Wahrnehmung von Kunst? Ist es das Sprechen über Kunst? Man sagt mit Recht, die Kunst liege im Auge des Betrachters. Aber wer kommt dabei ohne Brille aus? Und wenn er selbst keine besitzt – wer besorgt sie ihm dann? In welcher Absicht?

Fragen über Fragen bei etwas, das gemeinhin als selbstverständlich gilt. Denn Kunst ist, so das herrschende und nicht ganz falsche Verständnis, dem Druck der Verhältnisse doch noch immer einigermaßen enthoben. Sie folgt ihren eigenen Gesetzen, eröffnet Frei- und Spielräume und geht nicht auf in ihrer Nützlichkeit. Eine Zensur findet nicht statt. Wie sollte hier etwas eingeschränkt sein?

An der Oberfläche geht auch alles seinen guten Gang. Kunst wird gebraucht. Sie scheint für das Leben der Menschen eine immer größere Bedeutung zu bekommen. Bildungsbarrieren und Schwellenängste wurden abgebaut, die Zahl der Museumsbesucher wächst stetig. Die diesjährige Documenta steuert auf einen neuen Besucherrekord zu. Alte Meister ziehen in den Museen die Massen an, ebenso die klassische Moderne. Immer neue Aspekte und Themen werden entdeckt, unter denen sich erfolgreiche Ausstellungs-Events organisieren lassen.

Die Kehrseite der Medaille hat Eduard Beaucamp benannt: „Auch Museen müssen ihren Tribut an den Zeitgeist entrichten, der heute ökonomisch ist und den Erfolg im statistischen Ergebnis und wirtschaftlichen Gewinn sucht… Um zu gefallen und sich gesellschaftlich zu behaupten, muss das Museum sich zu einem guten Teil in einen Unterhaltungsbetrieb verwandeln, in den Schauladen einer ästhetischen Wechselwirtschaft“ (F.A.Z., 6.5.2011). Den Zwang dazu verursachen nicht zuletzt die Kürzungen in den öffentlichen Kulturetats und die immer größere Rolle privater Sponsoren.

Unter dem Titel „4 Minuten, 17 Sekunden“ hat Julia Voss eine Konsequenz der Entwicklung zur Event-Kultur beschrieben. Mit der Zeitangabe war die durchschnittliche Verweildauer vor einem Bild gemeint, welche die Londoner National Gallery den Besuchern einer Ausstellung von 7 Werken Leonardo da Vincis im November 2011 gewähren wollte. Der Direktor des Museums riet dazu, sich gründlich auf den Besuch vorzubereiten und sich vorher auf der Website des Museums über die Werke zu informieren. Julia Voss kommentierte das so: „Kurzum: lesen statt schauen. Wer sich gut mit da Vinci auskennt, muss die Bilder nicht so lange anstarren“ (F.A.Z., 12.5.2011).

Dieser Plan bewirkte immerhin einen Proteststurm von Kunsterziehern und Museumsverbänden: „Bisher war der Museumsbesucher, der sich die Kunstwerke nur kurz oder gar nicht ansieht, eine der liebsten Lachnummern der Kulturelite. Der Schriftsteller Thomas Bernhard mokierte sich über die Banausen, die, statt die Bilder zu betrachten, ‚die ganze Zeit in den Katalog’ schauen. Endlos sind die Witze über Museumsgänger, die sich in Trauben vor dem Schildchen einfinden, das Künstler und Datum eines Werks vermerkt, und dem Bild weiter keine Beachtung schenken.“

Julia Voss schloß ihren Artikel mit einer Kritik an der Fetischisierung von Originalen, die von den Bildungseliten ausgehe und von einem „hysterischen Marketing“ der Museen vorangetrieben werde: „Wenn es nicht mehr möglich ist zu verweilen, sich vor ein Werk zu setzen oder sich mit Freunden davor auszutauschen, dann kann man es auch bleibenlassen. Es ist eindeutig besser, ein Gemälde nie im Original gesehen zu haben – als 4 Minuten, 17 Sekunden davor in einer Blockbusterschau zu stehen.“

Nicht nur die Muße des Betrachters und seine Möglichkeit, mit anderen über das Gesehene zu sprechen, werden im heutigen Massenbetrieb Museum eingeschränkt, besonders bei dessen Mega-Events. Der Betrieb verlangt auf der anderen Seite auch nach flankierenden Maßnahmen. Die Hilflosigkeit und Vereinzelung des Museumsbesuchers vor den Bildern soll durch sie aufgefangen und in integrative Bahnen gelenkt werden.

Dazu dienen einerseits die in den letzten Jahren immer stärker propagierten und genutzten Audioguides, die den Besucher vollends zur scheinbar autarken Monade machen, der sich durch die Ausstellung schiebt und allenfalls den anderen Besuchern durch missbilligende Blicke signalisiert, dass er jetzt dran ist, ein Bild zu betrachten, weil die Stimme im Ohr, die es ihm erklären will, dies gebieterisch zu verlangen scheint. Jede spontane Kommunikation unter den Museumsbesuchern wird damit unterbunden. Aber vor allem auch die spontane Wahrnehmung des Betrachters selber.

Andererseits gibt es in wachsender Zahl den Kunstgenuß umrahmende und abrundende Angebote kulinarischer Art, bei denen dann im Small-talk auch über Bilder und Künstler gesprochen werden kann. Manchmal sind diese Angebote in die Ausstellung integriert oder werden sogar selbst zum Kunstwerk deklariert. Der Gründer und langjährige Leiter des Pariser Museums für zeitgenössische Kunst „Palais de Tokyo“, Nicolas Bourriaud, hat dies „Relationale Ästhetik“ genannt. Gemeint sind damit Kunstprojekte, die im klassischen Sinn keine Kunstwerke, Gemälde, Skulpturen oder Videoinstallationen mehr sind. So werden schon mal Museumsräume zu Küchen und sozialen Begegnungsstätten umfunktioniert.

Scharfe Kritik an solchen Projekten übte der französische Philosoph Jacques Rancière, der die beziehungsstiftende Wirkung von Kunst bestritt. Eine solche Kunst laufe Gefahr, „banal zu wirken und ihre erhoffte, bewusstseinssteigernde, lebensverändernde Wirkung vollständig zu verfehlen“. Statt subversive Kraft zu entfalten, wie autonome Kunst, diene die relationale einer freundlichen „Nachbarschaftspolitik“. „Man dürfe Kunst nicht als Instrument einer Scheinbefriedigung im abgeschotteten Kunstraum nutzen, da so die Möglichkeit verhindert werde, ‚eine neue Landschaft des Sichtbaren, des Sagbaren und des Machbaren zu zeichnen’ “ („Künstler als Köche verderben den Brei“, F.A.Z. vom 9.5.2011).

Den weitaus größten Anteil an den sozialintegrativen Maßnahmen, die die Kunst begleiten sollen, hat aber heutzutage das, was der Literaturwissenschaftler Heinz Schlaffer sarkastisch „Betreutes Sehen“ nennt. Das geht weit über die altvertrauten Führungen in den Ausstellungen hinaus, die ja durchaus ihren Sinn und ihre Qualität haben können. Heute werde, so Schlaffer, jede Kunst kommentiert, die älteste wie die neueste. Die Museumsdidaktik und die „Kunstvermittlung“ blühten auf wie nie. Die Devise heißt: Den Betrachter nicht aus den Augen lassen.

Schlaffer zitiert ein Beipiel: „Ein staatliches Museum verspricht unter dem Stichwort ‚Kunstvermittlung’ seinen Besuchern: ‚Unser Wunsch ist es, Ihnen die Inhalte unserer Sammlung und Sonderausstellungen auf spannende, unterhaltsame und kommunikative Weise zu vermitteln.’ – Die Institution, die solche Nachhilfe bereitstellt, rechnet nicht damit, dass die Kunstwerke von allein auf die Betrachter ‚spannend’, ‚unterhaltsam’, ‚kommunikativ’ wirken; stattdessen übernimmt sie die Vermittlung, den Umgang mit Kunst möglichst angenehm zu gestalten“ (Merkur, Heft 744/2011).

Damit wird nicht nur die kritische, utopische, Gewohnheiten störende oder verstörende Dimension von Kunst zugunsten eines versprochenen „Genusses ohne Reue“ unterlaufen. Sondern es wird auch das verfehlt, was angeblich angestrebt wird: ästhetische Bildung. Heraus kommt nach Schlaffer Folgendes: „Ein der Kunst fremdes Medium, Wort und Stimme des institutionell anerkannten Wissens, reglementiert die ästhetische Wahrnehmung, zu der es aber unter solchen Bedingungen gar nicht kommen kann… Die Bilderschau einer Ausstellung wird von einem Monolog umrahmt.“

Das Bedürfnis nach solcher Art von Betreuung sei universal geworden. „Zwar ist heute alle Kunst erreichbar, doch nicht für alle verständlich. Belehrung soll diesen Widerspruch auflösen. Da ‚Kultur’ als hohes Gut und das Interesse für sie als Zeichen intellektueller Distinktion angesehen werden, fürchtet jeder Betrachter von Kunstwerken, sich durch Unverständnis, spontane Abneigung oder auch nur durch Gleichgültigkeit als Spießer zu entlarven. – Diese Verlegenheit beheben die Führer: Sie reden dem Verstand gut zu, so dass das ästhetisch nicht geschulte Auge seinen Vorbehalt gegen die ästhetische Zumutung aufgeben muss.“

Kunst ziehe heute die Massen an, „weil die durch Kunstvermittlung gelenkte Teilnahme an der Kultur konträre Bedürfnisse befriedigt: Sie steht allen offen, und sie gewährt dem Einzelnen das elitäre Gefühl, sich in eine Sphäre jenseits von Alltag und Geschäft zu wagen.“ Das aber ist das genaue Gegenteil einer wirklichen Demokratisierung des Zugangs zur Kunst und des Umgangs mit ihr, das Gegenteil einer echten Befriedigung des Bedürfnisses, über das Alltägliche und „Geschäftliche“ hinaus zu kommen.

Am Schluß des Essays von Heinz Schlaffer steht das ernüchternde Fazit: „In Gesprächen über Kunst erprobten die Bürger des 18. Jahrhunderts, denen das Mitspracherecht in politischen und religiösen Angelegenheiten vorenthalten war, Tugenden einer noch nicht existierenden Demokratie. Gleichberechtigung aller Beteiligten (auch der Laien mit den Kennern, der Liebhaber mit den Gelehrten), freie Äußerung des subjektiven Urteils, zwangslose Verständigung mit den anderen. In der real existierenden Demokratie der Gegenwart werden diese Tugenden gerade im Umgang mit der Kunst geschwächt. ‚Kunstvermittlung’ bezweckt die Übernahme eines institutionell vereinbarten Expertenwissens durch das unvorbereitete, eingeschüchterte Publikum.“

Unter dem Titel „Verteidigung des Schaukastens“ hat Melanie Mühl in der F.A.Z. vom 6.8.2012 den „Multimedia-Irrsinn in den Museen“ aufgespießt. Bereits heute diene das Museum „nur noch am Rande als Kommunikationsraum“. Eines der Unternehmen, die Museen „mit immer neuen Erklärungsmaschinen ausstatten“, ist Antenna International. Für das Bode-Museum in Berlin hat die Firma zum Beispiel eine „Renaissance Faces smartphone application“ entwickelt. Da analysiert ein Schönheitschirurg ein Gemälde von Botticelli, das einen jungen Mann aus der Medici-Familie zeigt: „Die überhängende Nase, sagt der Chirurg, würde man heute wohl korrigieren, was allerdings den Gesichtsausdruck verändern und das Geheimnis des Bildes verflachen würde, zumal ja bei Männern ein Makel durchaus charmant sei.“ Zu allem Überfluss wird dann noch die Nase virtuell gerichtet, damit auch jeder begreift, was der Unterschied zwischen Kunst und Schönheitschirurgie ist. Wenn es der „Animation“ dient, ist offenbar jedes Mittel recht.

Das ist aber noch nicht alles. In den letzten Jahren ist ein Trend zu beobachten, die „Kunstvermittlung“ in den Museen zu zentralisieren und zu monopolisieren. „Fremdführungen“ durch freischaffende Kunstpädagogen oder kulturelle Initiativen und Vereine sollen immer mehr eingeschränkt oder untersagt werden. Dabei geht es keineswegs nur darum, was noch verständlich wäre, die kommerzielle Konkurrenz auszuschalten. Sondern auch darum, die Kontrolle zu behalten und ein Interpretationsmonopol für die eigenen Ausstellungen zu errichten.

Nach der überlaufenen Botticelli-Ausstellung im Frankfurter Städel 2010 verkündete die Administration des Hauses, künftig müssten bei Sonderausstellungen für das Recht, in ihnen als Gruppe aktiv zu werden, 30 Euro berappt werden. Dafür bekomme man dann das technische Equipment bereitgestellt, das heute bei Führungen eingesetzt wird: Ein drahtloses Mikro für die führende Person, Kopfhörer und Empfangsgeräte für die Teilnehmer. Eine Technik, die verhindert oder zumindest äußerst erschwert, was früher bei Führungen noch möglich war: Rückfragen an den oder die Führenden oder auch mal ein Wort an den Nachbarn. Das mögliche Gespräch über Kunst soll durch Einweg-Kommunikation ersetzt werden.

Die Städel-Administration war nicht dazu bereit, für den gemeinnützigen Frankfurter Verein KunstGesellschaft, der seit Jahrzehnten im Städel Ausstellungs- und Bildergespräche veranstaltet, eine Ausnahme zu machen. Der Versuch, den Zuständigen zu erklären, was der Unterschied zwischen einer Führung und der im Doppelsinn „freien Assoziation“ eines Gruppengesprächs über Kunstwerke ist, scheiterte. Es bleibt nur übrig, wenn man sich den Bedingungen des Hauses nicht unterwerfen will, sie zu ignorieren und einen Flashmob in den betreffenden Ausstellungen zu organisieren.

Dies haben Gruppen der KunstGesellschaft auf der Documenta in Kassel praktiziert, seitdem dort „Fremdführungen“ nicht mehr gestattet sind. Bei der vorletzten Documenta wurde die neue Regelung eingeführt. Damals protestierten noch Lehrende und Studierende der Frankfurter Städel-Schule und andere heftig dagegen. Vergeblich. Die KunstGesellschaft scherte sich nicht um das Verbot – auch weil es Bildergespräche nicht wirklich betreffen kann, und weil es sich bei den Gesprächen um ein nicht-kommerzielles Angebot handelt, das mit anderen Angeboten nicht konkurriert.

Auf der letzten Documenta wurde die Besuchergruppe des Vereins dann mehrfach vom Bewachungspersonal nach ihrer Legitimation gefragt und auf das Führungsverbot hingewiesen. Die Gruppe berief sich nun auch darauf, dass die Leitung der Documenta in Interviews stets betont hatte, es komme ihr auf mündige Besucher an, die sich mit den gezeigten Werken auseinandersetzen und nicht nur in stiller Kontemplation vor ihnen verharren.

Blieb es auf der letzten Documenta noch bei Diskussionen mit dem Personal, die damit endeten, dass die Gruppe unbehelligt weitermachen konnte, so ist bei der diesjährigen ganz anders durchgegriffen worden. Der Moderator des Gruppengesprächs wurde diesmal dazu aufgefordert, sich auszuweisen. Seine Personalien wurden aufgenommen. Er mußte eine offizielle „Schadensmeldung“ unterschreiben. Der „Schaden“ soll darin bestanden haben, dass er „eine Gruppe durch das Gebäude geführt und Kunstwerke erklärt“ habe. 22 Teilnehmerinnen und Teilnehmer könnten bezeugen, dass gerade dies nicht der Fall war – im Unterschied zu den üblichen Führungen auf der Documenta.

Man lasse sich das einmal auf der Zunge zergehen: Eine „Schadensmeldung“ der größten Kunstausstellung der Welt, die für sich den Anspruch erhebt, die jeweils avanciertesten Positionen zu präsentieren – und dann dürfen sie nicht einmal von den Besucherinnen und Besuchern frei in Gruppen besprochen werden. Weil das ein „Schaden“ sei – für wen? Der Schaden für die Documenta selbst und ihr Konzept liegt hier wohl auf der Hand. Er könnte repariert werden, wenn ein für allemal klargestellt würde, dass das Verbot „kommerzieller Fremdführungen“ für gemeinnützige Vereine und für Initiativen und Institutionen der kulturellen Bildung nicht gilt.

Bisher ist aus der „Schadensmeldung“ nichts weiter erfolgt. Vermutlich wurde sie wegen ihrer Peinlichkeit ad acta gelegt. Das wäre gut – noch besser wäre ein entschuldender Brief an einen Verein, der sich seit 30 Jahren um die Kunst bemüht, ohne daraus einen anderen als ideellen Gewinn zu ziehen.

Die Freiheit, über Kunst zu sprechen, müssen wir uns schon selbst nehmen. Eine Entheiligung der Museumshallen durch selbstbewußte Laien ist längst überfällig. Der stumme Kunde von Kunst oder der Autist mit Knopf im Ohr und Kästchen um den Hals sind nur Schwundstufen des Bildungsbürgertums. Die Kunst hat sie nicht verdient.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.