Bericht / Beitrag zur Diskussion
Am Montag, dem 20. Juni 2022, kurz nach der Eröffnung der diesjährigen Documenta waren wir in Kassel, um einen Ausstellungsbesuch der Frankfurter KunstGesellschaft vorzubereiten. Gleich unterhalb des Friedrichsplatzes betrachteten wir das große Banner „People‘s Justice“ der indonesischen Gruppe Taring Padi. Erster Eindruck: Ein Agitationsbild, wimmelig, nicht sehr strukturiert, mit Anklängen an die sozialkritische Kunst der 1920er Jahre in Europa. In der Mitte oben thront ein „Volksgericht“. Es soll über als Hunde, Schweine und anderes Getier hinter Gittern karikierte Angeklagte richten. Auf der linken Hälfte moderne Hochhäuser und Maschinen, Arbeiter im Hamsterrad und eine im Sessel sitzende überdimensionale Figur, darunter Uniformierte und Totenschädel. Auf der rechten Hälfte harmonisches Landleben, gemeinsames Essen und eine Demonstration mit einer Fahne, die zum kulturellen Widerstand aufruft. Ihr korrespondiert auf der linken Hälfte eine Aufschrift über einem Totenkopf: „Die Expansion der ‚multikulturellen‘ Hegemonie des Staates“. Die politische Stoßrichtung des Banners ist für unsere Augen nicht ganz klar, vor allem wenn man seine Entstehungsgeschichte nicht kennt.
Mein Blick fällt auf der linken Hälfte auf einen Mann mit Bowlerhut und dicker Zigarre. Aha, noch ein Unternehmertyp, denke ich, da ich die große Figur im Sessel, neben den Hochhäusern und Maschinen, auch als solchen eingeordnet hatte. Da tritt jemand auf uns zu, der mitgehört hat, und macht uns darauf aufmerksam, dass der Mann mit der Zigarre zwischen den Raffzähnen links und rechts kleine Schläfenlocken hat, also als (orthodoxer) Jude konnotiert ist. Nach all dem Streit im Vorfeld über möglichen Antisemitismus auf der Documenta – wegen vermuteter Sympathien für die “israelkritische” Boykottbewegung BDS bei beteiligten Künstler:innen und Kurator:innen – sei dies nun der ultimative Beweis und das Bild werde wohl abgehängt werden. Spontan sage ich, dass ich es vorziehen würde, das Bild zur Aufklärung darüber zu nutzen, wie aus beabsichtigter Kapitalismuskritik heraus antisemitische Stereotype entstehen, was den Antisemitismus so wirksam und attraktiv macht. Die anderen aus unserer kleinen Gruppe sehen es auch so. Schnell bildet sich um uns ein Kreis interessierter Zuhörer.
Unser Gesprächspartner ist Journalist bei der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen. Wir tauschen Karten aus und ich bitte ihn, mir seinen Artikel zu mailen, da ich annehme, dass er unser Gespräch in irgendeiner Form verwerten würde. Zurück in Frankfurt sehe ich dann, dass das nicht der Fall ist.
Skandal und Skandalisierung
In der Folge verstärkt sich immer mehr mein Eindruck, dass Aufklärung nur in Maßen gewünscht ist. Aufklärung über den Sinn einer „Ethnisierung des Kapitals“ eher nicht, mit der Antikapitalismus in Antisemitismus verwandelt wird (oder auch, nicht selten damit verbunden, in Antiamerikanismus). Damit wird Kritik an der herrschenden Wirtschaftsweise quasi unschädlich gemacht, abgelenkt auf eine diskriminierbare Minderheit oder auf eine „uns fremde“ Kultur. Das kommt der einheimischen Unternehmerschaft und ihren Interessen zupass, stört sie nicht bei der Kapitalverwertung und Gewinnerzielung. Weshalb reaktionäre und faschistische Parteien sich in ihrer Propaganda dieser Ablenkung immer gerne bedient haben und dafür Geld und Unterstützung von Unternehmerseite bekamen.
Statt über solche Zusammenhänge aufzuklären, sehen viele Medien ihre Hauptaufgabe darin, nun nach den Schuldigen für den Skandal auf der Documenta zu suchen. Die Empörung über den Skandal wird auch durch die Enttäuschung gespeist, dass der Ruf der Documenta als Weltausstellung zeitgenössischer Kunst auf deutschem Boden kaum rettbar beschädigt erscheint. Der Zentralrat der Juden in Deutschland verurteilt die Ausstellung von Hetzbildern im „Stürmer“-Stil auf das Schärfste. Er hat seit Monaten gewarnt. „Documenta der Schande“ oder gar „Antisemita“ heißt es in der Presse. Es gehe darum, dass die Gefühle von Jüdinnen und Juden verletzt worden sind. Es geht offenbar weniger darum, dass durch die betreffenden Bilder ein falsches Welt- und Gesellschaftsverständnis vermittelt wird, von dem nicht nur die jüdische Gemeinschaft betroffen ist, sondern das auch fatale Folgen für uns alle hat.
Typisch für das Ausklammern einer näheren Beschäftigung mit dem Bild des Kapitalisten als Jude oder des Juden als Kapitalist ist es, dass nicht selten in den Presseberichten überhaupt nicht von ihm die Rede ist, sondern nur allgemein von der antisemitischen Bildsprache auf dem Banner von Taring Padi, ohne zu sagen, worin sie genau besteht. Oder es wird sogar nur das zweite inkriminierte Element auf diesem Banner erwähnt: Eine Figur, die den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad darstellen soll, in einer Reihe mit anderen, westlichen Geheimdienstmännern stehend. Sie hat als einzige von ihnen ein Schweinsgesicht – eine diskriminierende Darstellung, so wird es interpretiert, in der Tradition der „Judensau“, die als Karikatur, Flugblatt oder Plastik an der Außenwand christlicher Kirchen seit dem Mittelalter ihre menschenverachtende Wirkung entfaltet.
Die „Judensau“ an einer evangelischen Kirche der Lutherstadt Wittenberg muss nach einem kürzlich ergangenen Gerichtsurteil nicht abgenommen, sondern nur mit einem erklärenden Text versehen werden. Die Mossadfigur wird nach zwei Tagen mit dem gesamten Banner von Taring Padi vom Kasseler Friedrichsplatz entfernt – ohne erklärenden Text vor Ort. Bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen könnte dies auch als zweierlei Maß gewertet werden.
Erklärungsversuche
In einem Artikel im Feuilleton der Frankfurter Rundschau beklagt der frühere Kasseler Oberbürgermeister und hessische Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) am 19. Juli 2022 als „Zwischenfazit“ die Fokussierung auf die Antisemitismus-Debatte bei der documenta fifteen und nimmt das Künstler-Kollektiv Taring Padi in Schutz. Es habe sich ja öffentlich entschuldigt dafür, „Gefühle in Deutschland verletzt zu haben“ und dargestellt, wie und in welchem Zusammenhang das Banner „People‘s Justice“ zustande kam: „Das Banner ist 2002, nach Ende der Suharto-Diktatur in der jungen Demokratie entstanden. Es befasst sich mit dem Massenmord zu Beginn der Suharto-Diktatur 1965. Damals wurden mindestens 500 000 Menschen umgebracht, vor allem Kommunisten, aber auch andere Zivilpersonen. Beteiligt daran waren auch westliche Geheimdienste, wohl auch der israelische Geheimdienst Mossad, worauf das Banner deutlich hinweist. Taring Padi in ihrer Erklärung vom 24. Juni: ‚Wir bedauern, dass wir eine mögliche Beteiligung der Regierung des Staates Israel so völlig unangemessen dargestellt haben – und entschuldigen uns aufrichtig dafür. Antisemitismus hat weder in unseren Gefühlen noch in unseren Gedanken einen Platz‘. 2002 ist das Banner entstanden als Protest dagegen, dass auch die junge Demokratie keine Anstalten machte, die Verbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.“ („Jetzt geht es immer weniger um die Kunst, die auf der documenta fifteen gezeigt wird“, FR vom 19. Juli 2022)
Ist es Zufall, dass auch Eichel in seinem Artikel nur die Mossadfigur als Stein des Anstoßes erwähnt? Oder wäre es ihm als ehemaligem Finanzminister der rotgrünen Regierung unter Kanzler Schröder, der unter anderem mit dafür gesorgt hat, dass Unternehmenssteuern gesenkt wurden, eventuell peinlich gewesen, klarstellen zu müssen, dass ein Typ mit Raffzähnen zwar als Karikatur eines Unternehmers durchaus legitim sein kann, nicht aber als Karikatur eines Juden, der für das „raffende Kapital“ stehen soll? Diese Differenz hat Ignaz Bubis, später Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, seinerzeit trennscharf definiert, als er im Zusammenhang mit dem „Häuserkampf“ im Frankfurter Westend in den frühen 1970er Jahren, bei dem er als Immobilienkaufmann in der Kritik stand, sinngemäß sagte: „Ihr dürft mich Spekulant nennen, das beleidigt mich nicht. Wenn ihr mich aber einen ‚jüdischen Spekulanten‘ nennt, dann ist das Antisemitismus.“ Weil die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Ethnie nichts wirklich aussagt über die Rolle, die jemand im Wirtschaftsleben spielt, und deshalb auch nicht mit ihr sprachlich oder begrifflich verknüpft werden soll. Die es dennoch tun, haben die Absicht, Sündenböcke zu konstruieren für Verhältnisse, die sie nicht verstanden haben oder die nicht verstanden werden sollen.
Eines kann sich Hans Eichel ebenso wenig erklären wie die meisten, die zum Skandal auf der Documenta Stellung nehmen: Wieso erst in Kassel jemandem etwas Problematisches an dem Banner von Taring Padi auffiel, während es doch schon einige Male international gezeigt worden ist: „Bei keiner Kunstausstellung in Südostasien oder Australien ist es als antisemitisch wahrgenommen worden. Taring Padi sind nicht Antisemiten, sie sind eher Klassenkämpfer und leiden in Indonesien unter den erstarkenden Islamisten. Diesen Eindruck muss man jedenfalls aus dem Interview mit der ‚Zeit‘ vom 7. Juli gewinnen.“
Spätestens hier hätte Eichel auffallen können, dass etwas nicht stimmt, wenn „Klassenkämpfer“ das Kapital als Jude darstellen. Dass dies dann eben doch ein Zeichen für die – unter Umständen nicht einmal bewusste – Übernahme eines seit dem 19. Jahrhundert bekannten judenfeindlichen Stereotyps ist. Die heutigen Mitglieder von Taring Padi, denen man Glauben schenken kann, beteuern, dass sie nicht wissen, wie die beiden inkriminierten Figuren damals auf das Banner gekommen sind und warum auch sie selbst das bisher schlicht übersehen haben.
Im „Zeit“-Interview sagen sie dazu: „Die einzige Erklärung, die wir dafür geben können, sind die Umstände der Entstehung dieses Banners… Es gab eine grobe Aufteilung in eine Seite, auf der das Gute, die für ihre Rechte kämpfenden Menschen dargestellt werden sollten, und eine, auf der das Böse gezeigt wurde. Dann aber konnte jeder malen, was er wollte. Einer malte Hunde, der andere half beim Ausmalen. So ist der Prozess kollektiver Arbeit. Im Rückblick sehen wir: Es gab keine Kontrolle, was die Beteiligten malten. Das soll nichts entschuldigen, ein Fehler bleibt ein Fehler.
Wir haben nicht begriffen, dass es sich um antisemitische Darstellungen handelt.
ZEIT: Warum nicht?
Taring Padi: Weil Antisemitismus vor zwanzig Jahren unter uns in Indonesien kein großes Thema war. Wir wussten kaum etwas darüber. Wir hatten in der Schule etwas über den Holocaust und die Nazi-Herrschaft gelernt, aber nichts zum Antisemitismus an sich. Das ist Teil unseres Lernprozesses jetzt, wenn wir über das Thema sprechen und reflektieren. Wir hätten nicht so nachlässig sein dürfen. Wir hätten einfühlsamer, umsichtiger sein müssen.
ZEIT: Sie wollten nicht bewusst provozieren?
Taring Padi: Nein. Wir haben die beiden Figuren nicht einmal wahrgenommen. Unser Thema ist Klasse, nicht Rasse.
ZEIT: Sie würden die Figuren nicht wieder malen?
Taring Padi: Selbstverständlich nicht. Diese zwanzig Jahre alten Bildelemente sind auch nicht konsistent mit unserem übrigen Werk. Auf all unseren Werken, die wir in Kassel sonst zeigen, ist keine einzige antisemitische Figur zu sehen.“ („Unser Thema ist Klasse, nicht Rasse“, Interview in der „Zeit“, 7. Juli 2022)
Bei meinem Gespräch mit Sri Maryanto, einem Mitglied der Gruppe, im Hallenbad Ost, in dem sie ihre sozialkritischen Werke ausstellt, sagt er, dass er überhaupt erst in Kassel erfahren habe, worum es sich bei der Boykottbewegung BDS handelt, für die er keine Sympathien hat. Es gehe darum, stets dazu zu lernen. Ich bestätige ihm, dass dies das Wichtigste sei.
Zum Stereotyp des „reichen Juden“
Warum hatte Taring Padi nicht begriffen, was an den beiden Figuren auf „People‘s Justice“ antisemitisch sein soll? Und warum fand bisher niemand etwas dabei, dass sie auf dem Banner prangen? Die Vermutung liegt nahe, dass zum Beispiel der „jüdische Kapitalist“ (oder der „reiche Jude“) als „Kollektivsymbol“ 1), außer vielleicht in Deutschland, wo die Sensibilität aus begreiflichen Gründen höher ist, so gut funktioniert, dass viele sich nichts weiter dabei denken und es als polemisches Bild oder zugespitzte Karikatur ohne Protest einfach hinnehmen, wenn sie ihm nicht insgeheim sogar zustimmen. Vor etlichen Jahren brachte eine Meinungsumfrage das Ergebnis, dass die Mehrheit der befragten Deutschen ein besonderes Verhältnis der Juden zum Geld für gegeben hält – wobei Geld ja oberflächlicherweise meist mit Kapital gleichgesetzt wird. Das ist in anderen Ländern kaum anders, auch in Indonesien nicht, obwohl dort nur ganz wenige Juden leben. Für das Vorurteil gegen eine Gruppe braucht es ja keine Anwesenheit der Gruppe. Wer das meint, sitzt noch der irrigen Vorstellung auf, dass Vorurteile etwas mit der Realität, mit dem Verhalten derjenigen zu tun hätten, die mit ihnen belegt werden, und nicht mit den Interessen und Bedürfnissen derer, die sie hegen.
Das traditionelle projektive Bild von den Juden ist es, dass sie Macht und Geld besitzen. Darin unterscheidet sich dieses Bild von den projektiven Bildern anderer religiöser oder ethnischer Minderheiten, die eher als Konkurrenten auf der gleichen sozialen Ebene angesehen werden. Auf Juden wird die Ablehnung und der Hass konzentriert, die eigentlich den Reichen und Herrschenden gelten, aber nicht gegen sie ausagiert werden können, weil dies riskant wäre und persönliche Nachteile mit sich brächte. Deshalb handelt es sich beim Antisemitismus auch nicht einfach um einen Rassismus wie jeder andere. Diese falsche Annahme gehört zu den Missverständnissen und Fallstricken in der seit längerem in der Bundesrepublik geführten Debatte um Postkolonialismus und Antisemitismus, die anläßlich der diesjährigen Documenta wieder aufbrandet.
In einigen Gesprächen bei meinem zweiten Besuch der Documenta habe ich nicht den Eindruck, dass wirklich verstanden wird, was es mit dem Anstößigen an dem Banner von Taring Padi auf sich hat. Auf dem Weg zum Hallenbad Ost sagen mir Entgegenkommende mit einem spöttischen Unterton, dort gebe es noch viele andere Schweinefiguren der Künstlergruppe zu sehen. Ich sage ihnen, die Nutzung von Tierbildern sei ein altes Mittel der Satire, für sich alleine und an sich ja nicht zu missbilligen. Es käme auf den Kontext und darauf an, wer oder was mit den Bildern etikettiert werden soll. Ein anderer Gesprächspartner meint, es gehe hier um eine Einschränkung der Kunstfreiheit und um Zensur – was vermutlich nicht wenige denken.
Immer wieder zeigt sich, dass es schwer fällt, zwischen begründeter und berechtigter Kritik, zum Beispiel an der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik auf der Westbank, und Ressentiments gegenüber „den Israelis“ oder gar „den Juden“ zu unterscheiden. Wenn es um antisemitische Bilder auf der Documenta geht, kommt bei manchen wie ein Reflex sofort die Rede auf Israel oder es wird der Verdacht geäußert, es handele sich wieder einmal um eine Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs.
Zu hoffen ist, dass der inzwischen eingerichtete Infostand der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, deren Leiter Meron Mendel sich engagiert für Aufklärung und Dialog auf der documenta fifteen einsetzt, hier etwas Abhilfe schafft.
Auch das erst nach dem Wechsel in der Geschäftsführung der Documenta endlich beauftragte fachwissenschaftliche Expertengremium wird hoffentlich klären können, ob die jetzt realisierte „Kontextualisierung“ einiger weiterer antisemitismusverdächtiger Exponate ausreicht und wie die Debatte fortgesetzt werden kann.
Zu hoffen ist, dass im weiteren Verlauf auch das stereotype Symbol des „jüdischen Kapitalisten“ nach allen Regeln der Kunst dekonstruiert wird, damit nicht weiter grotesk verkürzende Interpretationen wie die folgende zum Banner von Taring Padi in der Presse erscheinen: „An einer Stelle ist eine durch Kippa und Schläfenlocken als jüdisch charakterisierte, diabolische Figur mit Reißzähnen und blutunterlaufenen Augen zu sehen, auf ihrem Hut prangt eine SS-Rune. Auch weitere Werke wurden teils scharf kritisiert, etwa ‚Guernica Gaza‘, das die Zerstörung der baskischen Stadt Gernika durch die deutsche Luftwaffe 1937 zur israelischen Siedlungspolitik in Beziehung setzt.“ (Hanning Voigts: Ein Skandal mit Vorgeschichte, Lokalteil der Frankfurter Rundschau, 23./24. Juli 2022)
Hier wird ausschließlich nur eine Form des „israelbezogenen Antisemitismus“ angesprochen, der eine unterstellte Kollektivschuld der Deutschen auf das heutige Israel abwälzen will – nach dem Muster: “Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts Anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben”. Diesem Satz stimmten bei einer repräsentativen Umfrage 27 Prozent der befragten Deutschen voll zu, nimmt man die teilweise Zustimmung hinzu sind es 55 Prozent 2). Das SS-Abzeichen auf dem Hut des „jüdischen Kapitalisten“ kann in diesem Zusammenhang als symbolische Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr verstanden werden. Aber nur diesen Bezug zu sehen und über die anderen, historisch älteren und bis heute auch in Deutschland wirksamen Bedeutungen des Bildes zu schweigen – das ist schon eine Verdrängungsleistung, die nicht zufällig erscheint.
Reminiszenz an die documenta 5
An dieser Stelle möchte ich eine persönliche Erfahrung einfügen. Am 30. Juni 2022 erschien in der Frankfurter Rundschau eine Kolumne von Klaus Staeck unter dem Titel „Der Esel und die Kunst“. In ihr bezog sich Staeck auf das 50jährige Jubiläum der documenta 5 und seine Beteiligung an ihr. Ich nahm das zum Anlass, folgenden Leserbrief an die Zeitung zu schreiben:
„Gut, dass Klaus Staeck in seiner Kolumne an die documenta 5 vor fünfzig Jahren erinnert und dabei auch an deren Abteilung ‚Politische Propaganda‘, für die er zusammen mit Richard Grübling und mir verantwortlich war. Wir zeigten damals im Katalog unter anderem ein antisemitisches Naziplakat, um über dessen Wirkmechanismen aufzuklären. Der ‚Drahtzieher‘ von 1924, den wir als Beispiel nahmen, ist dem auf der documenta fifteen von der Gruppe Taring Padi gezeigten Stereotyp des ‚Juden‘ in der Machart durchaus ähnlich: In das Bild eines Kapitalisten mit Bowlerhut, Anzug und hässlichen Gesichtszügen wird ein Zeichen eingebaut, das ihn zum Juden macht. Bei dem NS-Plakat ist es der Davidstern an der Uhrkette, bei der Darstellung von Taring Padi sind es die Schläfenlocken jüdischer Orthodoxer. Während beim ‚Drahtzieher‘ die demagogische Absicht überdeutlich wird, bestreitet die indonesische Gruppe einen bösen Willen, entschuldigt sich und verspricht, dazulernen zu wollen. Es handelt sich aber in beiden Fällen – trotz unterschiedlichem historischen und kulturellen Kontext – um eine umfunktionierte, abgefälschte und letztlich scheinhafte Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem, die allein der politischen Rechten nützt. Zu hoffen bleibt, dass der Skandal bei der diesjährigen documenta zur Aufklärung und nicht nur zu Schuldzuweisungen genutzt wird.“
Mein Leserbrief wurde leider nicht gebracht.
Nicht überzeugt haben mich auch einige Stellungnahmen von linker Seite, die unter der an sich richtigen Berufung darauf, dass man Bilder unterschiedlich deuten könne, keinesfalls etwas Antisemitisches auf dem Banner „People‘s Justice“ zu entdecken vermögen, sondern nur berechtigten Zorn auf die Verbrechen des Suharto-Regimes, die auch von der damaligen Bundesregierung gedeckt und unterstützt worden sind. So schreibt Werner Ruf beispielsweise: „Ein Gesicht mit Haifischzähnen, die Zigarre eines Kapitalisten im Mund, den Kopf bedeckt mit einem Hut, auf dem SS-Runen zu sehen sind. Steht es – wie in westlich-deutscher Sicht üblich – für den hassenswerten, raffgierigen Juden oder einen Börsenmakler, der symbolhaft für das Finanzkapital steht, das die Reichtümer und Bodenschätze der Länder der ‚Dritten Welt‘ an der Börse verhökert? Die SS-Runen am Hut zielen wohl auf die Menschenfeindlichkeit und Brutalität des angeklagten kolonialen Systems, als Charakteristikum für Juden können sie wohl kaum gedeutet werden. Das Interpretationsproblem verlagert sich also eher ins Auge des westlichen, genauer deutschen Betrachters, als dass es eine eindeutige Aussage über ‚das Judentum‘ wäre.“ („Antisemitismus auf der documenta fifteen“, Nachdenkseiten, 14. Juli 2022)
Rufs Interpretation, die ein Entweder-oder konstruiert („raffgieriger Jude oder Börsenmakler“) verkennt das Sowohl-als-auch, das für das antisemitische Stereotyp vom „jüdischen Kapitalisten“ charakteristisch ist und es so wirkmächtig macht – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Antikapitalismus = Antisemitismus?
Die inkriminierten Figuren auf dem Banner von Taring Padi werden von interessierter Seite dazu benutzt, um kapitalismuskritische Positionen mit Antisemitismus in Verbindung zu bringen oder gar gleichzusetzen und die konzeptionellen Ansätze der documenta fifteen in ein schlechtes Licht zu rücken. Als bezeichnendes Beispiel dafür sei hier eine Glosse von Rainer Hank ausführlich zitiert, die Anfang Juli 2022 in der FAZ erschienen ist:
„Wer ‚westliche Werte‘ vertreten will, wie es jetzt immer heißt, muss auch für den Individualismus des Westens kämpfen. Die Documenta jedenfalls ist ein Dokument des Antiliberalismus.
Statt einzelner Künstler gibt es auf der aktuellen Documenta ausschließlich Kollektive. Diese propagieren eine ökonomische Alternative des ‚globalen Südens‘ gegen den Individualismus, Elitismus und entfesselten Kapitalismus des ‚globalen Nordens‘. Individualismus und Kapitalismus gelten ihnen als die Ursachen für alles Böse in der Welt: Geldgier, Patriarchat, Kolonialismus. Die Opfer dieser Unterdrückung begehren nicht nur auf, sie bringen auch ein alternatives Konzept zur Darstellung, wie wir künftig besser leben und wirtschaften können.
Statt Kapitalismus propagiert die Documenta 2022 die Idee eines nachhaltigen Kreislaufs von Waren und Werten (genannt Ekosistem), welcher sich der mörderischen Ausbeutung der Ressourcen durch den Kapitalismus widersetzt.
Vermutlich wäre dies alles von der Öffentlichkeit mit antikolonialistischer Sympathie zur Kenntnis genommen worden, wäre es in der vergangenen Woche nicht zum Eklat gekommen. Sharing-Ökonomie, ‚Teilen statt Haben‘, ist ja auch hierzulande ein Lieblingskind der Kritiker des Raubtierkapitalismus. Erst die wüst antisemitischen Fratzen auf dem monumentalen Wimmelbild ‚People’s Justice‘ des Kollektivs ‚Taring Padi‘, von dem merkwürdigerweise vorher niemand gewusst hatte, führten zum Skandal und zur Wende. Darauf sieht man unter anderem Bankiers mit Zigarre und SS-Runen auf den Hüten und Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad.“
Die fälschliche „Vervielfältigung“ der antisemitischen Figuren soll wohl die Empörung beim Lesen steigern. Und dann kommt Rainer Hank auf den Punkt:
„(Linker) Antisemitismus und (linker) Antikapitalismus sind seit dem 19. Jahrhundert Geschwister. Verbinden sie sich mit dem Kollektivismus, dann kann am Ende niemand für den Schaden der Volks- und Kapitalistenverhetzung zur Verantwortung gezogen werden. Die Künstler geben sich arglos (‚wir meinen es nur gut‘), die Generaldirektorin der Documenta gibt sich machtlos, die zuständige hessische Ministerin nennt sich unzuständig, und die Kulturstaatsministerin nennt sich vertrauensselig. Der deutsche Steuerzahler erfährt am Ende, dass er, ohne gefragt worden zu sein, 42 Millionen Euro zahlen muss für eine Kampagne zur Abschaffung des Kapitalismus. Einzig bei den Honoraren und den üppigen Gehältern für das Documenta-Management scheint der Kapitalismus zugelassen zu sein. Aufsicht und Kontrolle (‚compliance und corporate governance‘) haben versagt.“ („Hanks Welt: Keiner schuld in Kassel“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, aktualisiert am 3. Juli 2022)
Diese polemisch aufgeladene Kritik in der angesehensten bürgerlichen Zeitung des Landes zeigt, dass die documenta fifteen durchaus einen Nerv getroffen hat, und dass der Antisemitismus-Skandal auch dazu dient, davon abzulenken.
In ähnlicher Weise, wenngleich mit anderem Schwerpunkt, greift Alan Posener in der mittlerweile dem rechten Spektrum der Publizistik zuneigenden Zeitung Die Welt die Documenta an:
„Die Documenta präsentiert den ‚globalen Süden‘ als gemeinschaftlich, gerecht und als Alternative zur westlichen Lebensweise. Das geht jedoch völlig an der Realität vorbei. Denn nur ohne Clan- und Sippenstrukturen gibt es mehr Entwicklung, Wohlstand und Freiheit.
Man muss den Macherinnen der Documenta 15 dankbar sein. Sie wollten auf der Kasseler Kunstschau die Sichtweise des ‚globalen Südens‘ präsentieren. Und es ist ihnen gelungen, auch renitenten Romantikern vor Augen zu führen, dass jene Sichtweise hoch problematische Aspekte hat, etwa den Antisemitismus.
Es wäre jedoch schade, wenn man nach dem Abhängen des übelsten Machwerks und dem Rücktritt der uneinsichtigsten Verantwortlichen zur Tagesordnung übergehen und den Beteuerungen des kuratierenden Kollektivs Glauben schenken wollte, die Sozialstruktur indonesischer Dörfer – zusammengefasst in dem Begriff ‚Lumbung‘ – fuße ‚auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung‘ und sei damit eine progressive Alternative zur westlichen Lebensweise…
Wer unter dem Stichwort ‚Lumbung‘ zurück zur Sippe will, soll es dürfen. Doch im Gegensatz zum idealisierten Konstrukt von Sippe, das die Kuratoren der Documenta propagieren, gehört zur real existierenden Sippe nicht nur ‚Kollektivität‘, sprich Gruppenzwang, sondern meist auch Misstrauen und Hass gegen alle, die nicht zur Sippe gehören. Insofern ist der Antisemitismus der Documenta
kein Ausrutscher; er bringt vielmehr das Wesen der reaktionären Ideologie eines so verstandenen ‚globalen Südens‘ und seiner westlichen Bewunderer auf den Begriff.“ (Alan Posener: Die seltsame Sippen-Romantik der Documenta, Die Welt vom 21. Juli 2022)
Wie gut doch, wenn der Skandal auf der Documenta es möglich macht, den Antisemitismus als Sippen-Problem des Südens von uns wegzuschieben. Und damit zugleich seine enge historische Verschwisterung mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zu leugnen: Seine skandalöse Funktion als notwendiges Ablenkungsinstrument von deren Schattenseiten auf eine Gruppe angeblich an ihnen Schuldiger.
Worum es wirklich geht
Ganz anders die Sicht der Präsidentin der Goethe-Institute, Carola Lentz. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, das am 26. Juli 2022 erschien, spricht sie darüber, wie der Streit um die Documenta in anderen Teilen der Welt wahrgenommen wird:
„Hierzulande fokussiert sich die Debatte nahezu ausschließlich auf den Antisemitismus-Vorfall. Im Ausland wird dies durchaus kritisch betrachtet. In der internationalen Presse wurde es weithin begrüßt, dass die Documenta ein innovatives Kuratorenteam wie Ruangrupa eingeladen hat. Und dort wird auch der kuratorische Ansatz Ruangrupas diskutiert, der auf die gesellschaftliche und soziale Relevanz von Kunst und Kultur abzielt, etwa auf Modelle des Teilens von Wissen und Ressourcen, auf eine kritische Überwindung des globalen kommerziellen Kunstbetriebs und die Idee, daraus tragfähige internationale Netzwerke zur Lösung globaler Probleme zu entwickeln – mit künstlerischen Mitteln. Das ist in den letzten Wochen leider zu kurz gekommen. Wir gehen davon aus, dass der dezentral angelegte kuratorische Ansatz von Ruangrupa international Einfluss auf Kunstpraktiken, Museumspolitiken und Kulturveranstaltungen ausüben wird.“
Und zur Notwendigkeit, die Diskussion zu versachlichen, sagt sie: „Weltweit sind wir mit großen globalen Herausforderungen konfrontiert: den Folgen der Pandemie, die keineswegs beendet ist, Klimawandel, Armut und daraus resultierenden Fluchtbewegungen, der Zunahme autoritärer Regime … All dies können wir nur gemeinsam bewältigen. Wir brauchen die Kreativität aus vielen unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Gesellschaften. Die neuen geostrategischen Dynamiken befördern leider vielerorts eine Polarisierung der Debatten und die Einforderung von einseitigen Loyalitäten. Ich sehe darin Gefahren für die Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Ich wünsche mir, dass wir offene und ehrliche Diskussionen führen über Antisemitismus und Rassismus, über Kolonialismus und Völkermord – und dass diese Diskussionen von einer produktiven Haltung der Inklusion und des Willens zum Brückenbauen geprägt sind. Und von Respekt für Vielfalt.“ („Es ist wichtig, dass die Goethe-Institute in Russland geöffnet bleiben“, Frankfurter Rundschau vom 26. Juli 2022)
Auch die dann folgende Entdeckung weiterer als antisemitisch gewerteter Kunstwerke, die Forderungen nach Unterbrechung oder sogar Schließung der Documenta und nach personellen Konsequenzen ändern nichts daran, dass die durch den Antisemitismus-Skandal gegebene Chance zur Aufklärung und zum Dialog im Interesse von uns allen dringend genutzt werden sollte. Während der Laufzeit der Ausstellung und auch danach.
1) Kollektivsymbole sind allgemein verbreitete Denk- und Sprachbilder, mit denen sich „jeder ein Gesamtbild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. der politischen Landschaft machen kann. Die Kollektivsymbole implizieren spezifische Deutungen der Wirklichkeit. Gedeutet wird sowohl von den Mitgliedern selbst als auch von Medien, die ihre Interpretationen den Gesellschaftsmitgliedern vermitteln.“ (Aus dem Wikipedia-Stichwort „Kollektivsymbolik“)
2) Ergebnis der „Mitte Studie“ 2018/29 der Friedrich-Ebert-Stiftung, zit. nach: „Antisemitische Einstellungsmuster in der Mitte der Gesellschaft“, www.endstation-rechts.de
6. August 2022