Anders als früher verbringt, wer ein Museum besucht, heute durchschnittlich nur wenige Sekunden vor einem Werk. Dazu kommt bei größerem Interesse ein Blick auf das Schild mit dem Titel des Bildes und dem Namen des Künstlers oder der Künstlerin. Die inzwischen beliebten Audioguides dehnen die Aufmerksamkeitsspanne zwar auf einige Minuten aus, aber ob und wie man mit ihrer Hilfe ein Bild besser wahrzunehmen lernt ist die Frage. Es geht ja hier eher darum, Wissen über das Bild zu vermitteln. Bei Führungen ist das meistens kaum anders.
Warum wäre es so wichtig, ein Bild mit all seinen Facetten in Ruhe und geduldig wahrzunehmen? Man könnte sagen: Weil es dafür gemalt wurde. Sonst hätte sich die Künstlerin oder der Künstler mit einem schnellen Statement begnügen können, mit einer heftigen Parole oder einer emotionalen Geste. Selbst wenn dies bei heutigen künstlerischen Ausdrucksweisen ja durchaus der Fall sein kann: Auch bei ihnen geht es um die Wahrnehmung, sie soll einen Schock der Erkenntnis auslösen.
Bei den eher traditionellen Bildmedien – Gemälden, Grafiken, Plakaten, Fotografien – entsteht dieser Schock gerade durch eine genaue, langsame Betrachtung. Diese Art des Betrachtens widerspricht dem heute üblichen Umgang mit der Bilderflut im „visuellen Zeitalter“, der durch die technischen Apparate – PCs und Handys – nahegelegt und befördert wird: flüchtiges Anschauen und schnelles Wegwischen oder Weiterzappen.
Entschleunigung ist da das Gegenmittel. Entschleunigung beim Betrachten heißt auch, den Gang der Dinge zu unterbrechen, ein Stoppsignal zu setzen gegen das Weiter-so, das scheinbar notwendige ewige Wachstum und – auf der anderen Seite – die wachsenden Krisenängste.
Am 25.1.2019 brachte die Kunstzeitschrift „Monopol-Magazin“ auf ihrer Homepage einen Podcast unter dem Titel: „Slow-Art-Bewegung will Kunstbetrachtung entschleunigen“. Es gehe um einen „achtsameren Umgang mit Kunst.“ Berichtet wurde über ein neues Konzept der Tate Gallery of Modern Art in London anlässlich einer Ausstellung des französischen Malers Pierre Bonnard. “Slow looking” ist die Devise dieses Konzepts, das dem gewohnten Kunstkonsum und den eingespielten Vermittlungsformen etwas anderes entgegen setzt. “Eine großzügige Hängung und Kleingruppenführungen, in denen das Publikum eine ganze Stunde mit nur zwei bis drei Bildern verbringt, sollen beim ‚slow looking‘ helfen.“
Dies ist längst kein Einzelfall mehr. Auf der Homepage des Kollwitz-Museums Berlin heißt es beispielsweise: „Im April 2023 wurde das beliebte interaktive Führungsformat ‚Slow Art‘ wieder eingeführt. Mit dieser bereits vom Kollwitz-Museum erprobten Vermittlungsreihe soll der Museumsbesuch entschleunigt werden. Alle zwei Monate … wird zu einer intensiven Betrachtung von einigen wenigen ausgewählten Werken von Käthe Kollwitz eingeladen. Die langsame, eigenständige Kunstbetrachtung steht bei der Slow Art im Vordergrund. Durch ein unvoreingenommenes Schauen – zunächst unter Verzicht auf Informationen – und das anschließende Gespräch eröffnet sich dem Besucher eine neue Perspektive auf die Werke von Käthe Kollwitz.“
Das Kunstmuseum Singen lud anlässlich des Internationalen Slow Art Days, der 2023 bereits zum 14. Mal stattfand, zu einer „Kunstbetrachtung im Schneckentempo“ ein. Unter dem Motto „Weniger anschauen, mehr sehen“ sollte eine „eigenständige und bewusste Betrachtung, die sich offen und unvoreingenommen auf die Kunst einlässt und dabei auf kunsthistorische Urteile und Bewertungen verzichtet“ erreicht werden. „Die entschleunigte Kunstbetrachtung ermöglicht eine tiefergehende Reflexion und damit ein größeres Verständnis für das Exponat.“
Das sind nur einige Beispiele, die sich fortsetzen ließen. Denn inzwischen experimentieren weltweit immer mehr Museen mit alternativen Formen der Kunstbetrachtung. Eine Rolle mag dabei spielen, dass der Abbau von Hierarchien im Bildungsbereich zugunsten interaktiver und gleichberechtigter Kommunikation noch immer fortschreitet. Autoritative Wissensvermittlung erweist sich – zumindest in diesem Bereich – als eher dysfunktional und kaum geeignet, die selbst gesteckten Bildungsziele zu erreichen.
Als wichtiges Stichwort bei der Beschreibung von Slow Art-Konzepten der Kunstbetrachtung fällt auf, dass diese „unvoreingenommen“ sein soll. Den Teilnehmenden soll nicht vorab kunsthistorisches Wissen oder Biographisches über die Künstler:innen vermittelt werden, sie sollen nicht Interpretationen vorgesetzt bekommen, die ihnen die eigene Wahrnehmung, das eigene Verständnis und damit auch möglicherweise unter die Haut gehende, schockierende Erkenntnisse ersparen.
Eine Erfahrung, die sie machen können, wenn es tatsächlich um unvoreingenommene, offene Gespräche in der Gruppe geht, wenn die Führenden sich mehr als Moderatoren verstehen, nicht so sehr als Wissensvermittler: Andere sehen anders und anderes als man selbst. Es gibt immer mehrere Interpretationen zu einem Bild und es ist nicht möglich zu entscheiden, welche die richtige ist. Auch die Kunstwissenschaft hilft da nicht wirklich weiter. Sie liefert wissenschaftlich mehr oder weniger abgesicherte Erklärungen, aber die jeweilige subjektive Wahrnehmung und Interpretation eines Kunstwerks kann sie weder vorwegnehmen noch ersetzen.
Eine unvoreingenommene Kunstbetrachtung ist auch als Einübung in demokratische Toleranz zu verstehen. Unterschiedliche Ansichten können hier nebeneinander bestehen bleiben, verschiedene Perspektiven einander ergänzen und es kann sich ein ganzes Mosaik von Bedeutungen ergeben. Stereotype Wahrnehmungsmuster und Vorurteile können so zumindest an- oder aufgelockert werden. Damit wird der Tendenz entgegen gearbeitet, sich nur mit Gleichgesinnten in „Echokammern“ oder „Meinungsblasen“ einzuschließen.
Die KunstGesellschaft praktiziert schon seit Jahrzehnten eine Methode des Bildergesprächs, die dem entspricht, was mit dem Slow Art-Konzept der Kunstbetrachtung angestrebt wird: Konzentration auf ein Bild, das ohne weitere Vorgaben mit viel Zeit betrachtet, beschrieben und gemeinsam interpretiert wird. Die Wirkung ist enorm: Das Bild beginnt zu leben, es regt dazu an, immer neue Details zu entdecken und Geschichten zu ihm zu erzählen. Die Teilnehmenden fühlen sich, wie sie manchmal sagen, geradezu befreit und beschwingt, sich über ein Kunstwerk so miteinander austauschen zu können. Und das Gespräch bleibt nicht an der Oberfläche stehen, es bekommt manchmal eine philosophische und nicht selten auch eine politische Dimension.
Das ist nichts Ungewöhnliches, denn Kunst ist ja nicht allein um der Kunst willen da. Sie sollte nicht als Kulturgut für die Wenigen, sondern als „Lebensmittel“ für Alle betrachtet werden.
Angebote für Bildergespräche: www.kunstgesellschaft.de
Protokolle von Bildergesprächen: www.agruenberg.de
Texte zur Methode: www.bildergespraeche.de
Aus: slowArt Zeitung, Kunstfest in Butzbach-Griedel am 7. September 2024