Kunstaneignung – Kunstdialog – Bildergespräche

im Anschluß an Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“

Vortrag auf der Tagung der Stiftung Gegenstand in der Villa Palagione bei Volterra, August 2009

 Vorbemerkung
Ich möchte über eine Methode der Kunstvermittlung oder Aneignung von Werken der bildenden Kunst reden, die in der Kultur- und Bildungsarbeit genutzt werden kann. Es geht um stehende Bilder, und darum, wie sie in Bewegung gesetzt werden können. Ich fange an mit der „Ästhetik des Widerstands“, weil Peter Weiss dort diese Methode in Ansätzen beschrieben hat und weil sie eine wichtige Rolle für seine Konzeption der Kunstaneignung spielt.

Das „Kunstgespräch“ bei Peter Weiss

„Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein“, so beginnt der Roman „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Erst nach mehr als einer Seite plastischer und dramatischer Beschreibung von Kampfszenen folgt ein Hinweis auf die Situation: „Ein leises Klingen und Rauschen tönte auf hin und wieder, das Hallen von Schritten und Stimmen umgab uns Augenblicke lang, und dann war aufs neue nur diese Schlacht nah, unser Blick glitt über die Zehen in der Sandale, sich abstoßend vom Schädel eines Gestürzten, über den Sterbenden, dessen lahmwerdende Hand zärtlich auf dem Arm der Göttin lag, die ihn am Schopf hielt“ (ÄdW 1: 8).

Es handelt sich, so kann man daraus schließen, ganz offensichtlich um einen Besuch im Museum, einem dieser Kunsttempel, in denen möglichst nicht zu laut gesprochen werden soll, um die Andacht der Kunstgenießer und Bildungshungrigen nicht zu stören, in denen aber, weil es so viele sind, Schritte und Stimmen widerhallen. Die Konzentration der Besucher, um die es hier geht, wird aber kaum dadurch gestört. Sie betrachten langsam und genau, was zu sehen ist, sie bemerken Einzelheiten beim Gleiten ihres Blicks über das Werk. Die ausführliche Beschreibung des Gesehenen erscheint als das zunächst Wichtigste.

Erst auf der zweiten Seite des Romans wird deutlich, wie diese Besucher an die Sache herangehen, und sie bleiben nicht länger anonym: „…Coppis Gesicht, mit kurzsichtigen Augen hinter Brille mit dünnem Stahlrand, näherte sich den Schriftzeichen, die Heilmann, mit Hilfe eines mitgebrachten Buchs, entzifferte“ (ÄdW 1: 9) Das entspricht dem, was Besucher eines Museums üblicherweise tun: Sie nutzen Informationsmaterial, Bücher oder Kataloge, um sich über die Bedeutung dessen, was sie sehen, aufzuklären. Doch dann nimmt die Kunstbetrachtung eine andere Wendung: „…und wir gaben den Gegnern in diesem Gemenge ihre Namen und besprachen, im Schwall der Geräusche, die Anlässe des Kampfs“ (ebd.).

Es beginnt ein Gespräch über das Kunstwerk, wobei einer besser informiert ist und die Führung übernimmt: „Heilmann, der Fünfzehnjährige, der jede Ungewissheit von sich wies, der keine unbelegte Deutung duldete, bisweilen aber auch der poetischen Forderung auf bewußte Entreglung der Sinne anhing, …erklärte uns … den Sinn dieses Reigens, in dem die gesamte, von Zeus geführte Götterschar zum Sieg schritt über ein Geschlecht von Riesen und Fabelwesen“ (ebd.). Coppi und der Ich-Erzähler sind ein paar Jahre älter, kennen schon das Arbeitsleben und auch die Arbeitslosigkeit. Coppi, heißt es, saß ein Jahr im Gefängnis „wegen Verbreitung staatsfeindlicher Schriften.“

Im Folgenden wird die Deutung des Kunstwerks – es handelt sich um den Pergamon-Altar im Museum in Berlin – mehr oder weniger direkt auf die Situation der drei Freunde bezogen, die aus der Arbeiterschaft kommen, wenig Zugang zu höherer Bildung hatten und im NS-Regime von politischer Verfolgung bedroht sind: „In mythischer Verkleidung erschienen historische Ereignisse, ungeheuer greifbar, Schrecken, Bewundrung erregend, doch verständlich nicht als von Menschen hervorgerufen, sondern hinnehmbar nur als überpersönliche Macht, die Geknechtete und Versklavte wollte, in Unzahl, und wenige in der Höhe, die mit einem Fingerzeig die Geschicke bestimmten. Kaum wagte das Volk, als es vorbeizog an feierlichen Tagen, aufzublicken zum Abbild seiner eigenen Geschichte“ (ebd.).

Das Kunstwerk wird hier nicht als „ewiges“ Bildungsgut gewertet, sondern in seiner Entstehungsgeschichte und Funktion so betrachtet, wie es Walter Benjamin meinte, als er schrieb, dass alles, was Teil der hohen Kultur ist, zugleich auch die Zeichen der Barbarei an sich trägt. Das ist eine Form der Kunstbetrachtung, die der bis heute vorherrschenden widerspricht:

„Die Eingeweihten, die Spezialisten sprachen von Kunst, sie priesen die Harmonie der Bewegung, das Ineinandergreifen der Gesten, die andern aber, die nicht einmal den Begriff der Bildung kannten, starrten verstohlen in die aufgerissnen Rachen, spürten den Schlag der Pranke im eigenen Fleisch. Genuß vermittelte das Werk den Privilegierten, ein Abgetrenntsein unter strengem hierarchischen Gesetz ahnten die andern“ (ebd.)

Zweierlei Arten, mit Kunst umzugehen, werden angedeutet. Die eine, privilegierte, setzt auf Genuß, der wie selbstverständlich sich ergibt durch das, was am Kunstwerk harmonisch ist, was gute Form ist, schöne Gestaltung. Die andere muß erst einmal das „Abgetrenntsein“ durch vorenthaltene Bildung überwinden, sich dem Werk annähern und es bewusst aneignen. Dieser Prozeß kann sich, das wird in der Eingangsszene des Romans von Peter Weiss entwickelt, darauf stützen, daß das Kunstwerk den Widerspruch zur Harmonie, zu den herrschenden Verhältnissen mit ihren Privilegien in sich selbst enthält:

„Doch gehörte dem Werk immer noch der selbe Zwiespalt an, der zu der Zeit galt, als es entstanden war. Dazu berufen, königliche Macht auszustrahlen, konnte es gleichzeitig befragt werden nach seinen Eigenarten des Stils, nach seiner plastischen Überzeugungskraft. Pergamon war zu seiner Glanzzeit, ehe es im Byzantinischen Reich verfiel, berühmt für seine Gelehrten, seine Schulen und Bibliotheken, und die besondren Schreibblätter aus aufgeweichter, geschabter, polierter Kalbshaut machten die Resultate politischer Erfindung und wissenschaftlicher Forschung beständig. Das Verstummen, die Lähmung derer, deren Los es war, in die Erde gestampft zu werden, war weiterhin spürbar. Sie, die eigentlichen Träger des ionischen Staats, des Lesens und Schreibens nicht kundig, ausgeschlossen vom künstlerischen Wirken, taugten nur dazu, einer kleinen Schicht von Begünstigten den Reichtum und der Elite des Geistes die notwendige Muße zu schaffen. Das Dasein der Himmlischen war für sie unerreichbar, in den knienden vertierten Wesen aber konnten sie sich erkennen. Diese trugen, in Grobschlächtigkeit, Erniedrigung und Geschundenheit, ihre Züge. Daß die Apotheose des Götterflugs und der Vernichtung der andrängenden Gefahr nicht den Kampf des Guten gegen das Böse zum Ausdruck brachte, sondern den Kampf zwischen den Klassen, wurde nicht nur in unsrer heutigen Betrachtung, sondern vielleicht auch schon von manchem geheimen Blick damaliger Leibeigner erkannt. Doch auch die Nachgeschichte des Altars wurde bestimmt von der Unternehmungslust der Begüterten.“ (ebd.: 13)

Die Möglichkeit, das Kunstwerk zu befragen, sich in ihm zu erkennen, setzt den möglichst vorurteilslosen, nicht verbildeten Blick und ein bestimmtes Interesse voraus. Bei Peter Weiss, bei seinen drei Besuchern des Pergamon-Museums ist es von vornherein ein politisches Interesse. Damit es zur Geltung kommen kann, muß die rein rezeptive Haltung gegenüber dem Kunstwerk überwunden werden: „Wir konnten uns die Ausführung eines Buches, eines Bilds, noch nicht vorstellen, waren der Kunst bisher nur rezeptiv begegnet…“ (ebd.: 81)

Eine aktive Aneignung von Kunstwerken durch Laien, wie sie exemplarisch in der „Ästhetik des Widerstands“ beschrieben wird, bedeutet ihre unmittelbare Vergegenwärtigung: „Es war nicht mehr notwendig, daß wir die Aussagen so verstanden, wie sie vielleicht vor sechshundert Jahren gemeint waren, sondern daß sie sich in unsre Zeit versetzen ließen, daß sie hier, in dieser Parkanlage, neben dem Kinderspielplatz, hier, zwischen diesen frisch aufgeschütteten Gräbern unterhalb der Sankt Sebastian Kirche, Leben annahmen, denn das war es, was sie dauerhaft machte, daß sie unsre eigenen Erwägungen weckten, daß sie nach unsern Antworten verlangten.“ (ebd.: 82)

Sich selbst ein Bild machen, das ist die Quintessenz einer aktiven, nicht bloß rezeptiven Aneignung von Kunst, die, das zeigt die Eingangsszene des Romans von Peter Weiss in exemplarischer Weise auf, am besten in und über die Kommunikation mit anderen gelingt.

Aneignung von Kunst und Geschichte

 Im Editorial von Heft 2/2007 der vom BdWi herausgegebenen Zeitschrift „Forum Wissenschaft“ schrieb Claudia Stellmach zum kulturpolitischen Themenschwerpunkt dieses Heftes: “Auch heute geht es darum, wer welche Zugänge hat zu den Mitteln des Wissens, zum Wissen selbst wie zu andren Lebens-Mitteln. Kunst, Kultur, Wissen: Formen des Gedächtnisses der Menschheit, die legitim oder räuberisch, produktiv oder vernichtend angeeignet werden können.“ Die Betonung lag nicht von ungefähr auf den Zugängen und auf den Aneignungsformen, und darauf, dass Kunst, Kultur, Wissen Lebensmittel, Mittel zum Leben sind oder sein können – für alle!

Der erste Beitrag im Heft, von Werner Jung, trug den programmatischen Titel „Kunst und Kultur. Autonomie – Erinnerung gegen Entfremdung“. In ihm wurde Kunst – im Blick auf ihre Produktion wie auf ihre Rezeption – so beschrieben: „Sie stellt das Gedächtnis der Menschheit dar, skizziert Möglichkeiten und Alternativen, enthält auch unabgegoltene Perspektiven und lädt dazu noch die Phantasie zum freien Spiel ihrer Kräfte ein“ (Jung 2007: 9). Es scheint nach dieser Definition wohl kaum möglich zu sein, sich der Kunst so zu nähern, als ob es um die bloße Vermittlung gesicherten Wissens durch Expertinnen und Experten geht – oder im Rahmen kultureller Events, die auf größtmögliche Popularität und Breitenwirkung angelegt sind. Besser gesagt: Das ist möglich und wird auch vielfach praktiziert, aber dann verliert Kunst ihre alternativen Möglichkeiten, sie wird zum verdinglichten Kulturgut oder zur Ware mit beschränktem Gebrauchswert.

An zwei Stellen seines Beitrags betonte Jung quasi als Gegengift dazu: „Es muss eben immer auch noch darüber (über kulturelle Produkte – R. D.) kommuniziert werden“, und zum Schluß erinnerte er exemplarisch an den „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ und an Peter Weiss’ Roman „Ästhetik des Widerstands“: Es gehe um die „praktische, selbsttätig kollektive Entwicklung von kreativen Potentialen“ (ebd.).

Was das konkret bedeuten kann, stellte Armin Bernhard im darauf folgenden Beitrag dar: „Mittel des Widerstands. Die Aneignung von Kunst für und bei Peter Weiss“. Für Peter Weiss selbst war die Beschäftigung mit Kunst nicht nur eine Sache der mehr oder weniger kreativen Rezeption. In den dreißiger Jahren, nach der Emigration aus dem faschistischen Deutschland, betätigte sich Weiss zunächst als bildender Künstler, als Maler. Anfang der 50er Jahre machte er in Schweden Dokumentarfilme zu sozialen Themen. In der Nachfolge von Max Ernst experimentierte er mit Collagen. Daneben begann sein Schreiben, zunächst auf Schwedisch, dann auf Deutsch – mit allen Widerständen des Emigranten, der, wie er sagte, „nie Deutscher war“.

Daß die Auseinandersetzung mit Kunstwerken in der „Ästhetik des Widerstands“, die doch den Kampf gegen den Faschismus und die Geschichte der Arbeiterbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Thema hat, einen so großen Raum einnimmt, hat zunächst also mit Peter Weiss’ eigenem Entwicklungsgang zu tun. Vor allem hängt es aber mit den Eigenschaften von Kunst zusammen, die in dem Beitrag von Bernhard so beschrieben wurden: „Anders als Geschichtswissenschaft dringt Kunst als ästhetische Geschichtsschreibung zu tabuisierten, ausgeblendeten, begrifflich nicht zugänglichen Regionen des gesellschaftlichen Daseins vor, macht die unterirdische Geschichte transparent, ermöglicht den Nachvollzug des Fühlens und Denkens, eines Leidens und Hoffens der handelnden Akteurinnen und Akteure“ (Bernhard 2007: 12).

In seinem Aufsatz „Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss als authentischer Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung“ schrieb Wolfgang Abendroth 1985 über die Grenzen einer wissenschaftlichen Geschichtsschreibung: „Sie knüpft an Organisationen an, an Ideologien, die sie tragen, an die Parolen, die sie vertreten. Sie kann nur deren gleichsam äußeres Auftreten schildern. Was ihr kaum möglich ist, ist das Denken und Fühlen derer lebendig zu machen, die die politische Arbeit einst geleistet haben.“ (Abendroth 1985) Dies sei aber  notwendig, um Jüngeren diese Geschichte nahe zu bringen und auch dann, „wenn man den Kampf … gegen die Verlagerung aller Lasten der Wirtschaftskrise auf die abhängig arbeitende Klasse führen will und muß“ (ebd.)

Die „ungewöhnliche Verknüpfung von kunstgeschichtlicher und – hinsichtlich der Diskussionen mit Brecht – auch literaturgeschichtlicher Betrachtung mit der Erzählung über die Lebensverhältnisse und Aktivitäten der beteiligten Personen in den drei Bänden“ verweise darauf, dass die „alte Arbeiterbewegung“ „von ihren Anfängen an (auch) eine kulturelle Bewegung“ war, bei der es darum ging, „die bürgerlichen kulturellen Güter, den höchsten Stand ihrer Kunst und Literatur anzueignen“. „Ob und inwieweit ihnen (den Aktiven – R. D.) dabei klar war, dass sie die Kunst, die sie umgab, dabei uminterpretieren mussten … war eine andere Frage.“ (ebd.) Bei Peter Weiss wird dieses Uminterpretieren als gemeinsamer diskursiver Prozess dargestellt.

Die Beschäftigung mit Kunst stärkt das, was Peter Weiss „Bewußtsein der Ambivalenz“ genannt hat, die Fähigkeit, Widersprüche, auch bei sich selbst und im eigenen Lager, wahrzunehmen, mit ihnen umzugehen und sie möglichst produktiv zu wenden. Denn, so Bernhard in seinem schon zitierten Beitrag, „wirkliche Kunstwerke aus der Sicht von Weiss zeichnen sich durch Tiefenschärfe, Mehrschichtigkeit und Vieldeutigkeit aus“ (Bernhard: 13). Deshalb sind sie dazu in der Lage, „herkömmliche Aneignungsformen“ zu durchbrechen und „oftmals schockhaft – tradierte Wahrnehmungsweisen“ umzuwälzen (ebd.). Daher ergeben sich auch „die politischen Bildungswirkungen … in der ‚Ästhetik des Widerstands’ nicht direkt über die in Kunstwerken liegenden politischen Inhalte. Politisch relevant werden ästhetische Produktionen dann, wenn sie in den Subjekten Wahrnehmungsweisen und Bewusstseinsformen verändern und diese damit zu neuen Einsichten befähigt haben“ (ebd.: 14).

Es geht hier nicht darum, „politische Inhalte“ für nebensächlich zu erklären. Im Fall von Kunstwerken sind sie aber, wie alle anderen möglichen Inhalte auch, „nicht direkt“ wahrzunehmen, weil über die Form vermittelt. Das macht den Charakter von Kunstwerken aus. Die Form ihrer Rezeption oder Aneignung wiederum entscheidet darüber, ob politische Inhalte überhaupt bzw. in welcher Komplexität sie wahrgenommen werden können. Bernhard stellt die diskursive Rezeption von Kunst als diejenige Aneignungsform heraus, die in der „Ästhetik des Widerstands“ politische Bildungsprozesse ermöglicht:

„Vor dem Pergamonfries in Berlin beginnt die Romanhandlung mit einem Diskurs der drei Widerstandskämpfer Horst Heilmann, Hans Coppi und dem Ich-Erzähler über die in diesem antiken Kunstwerk dargestellten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.“ (ebd.: 12) „Inszeniert wird das Geschehen zwischen Kunstwerk und aneignenden Subjekten als ein schöpferischer Bildungsprozess… Keine kontemplative Betrachtung wie in der traditionellen Kulturarbeit kennzeichnet den Aneignungsprozess; vielmehr müssen wir, wie Hans Coppi formuliert, die Kunst ‚gegen den Strich behandeln’ (ÄdW 1, S. 41)… Die kreative Schicht des von Weiss angelegten Aneignungs- und Lernprozesses besteht primär darin, den künstlerischen Gegenstand in Beziehung zur eigenen Lebenssituation zu setzen, ihn auf seine aktuelle Relevanz für die geschichtliche Situation, in der die drei Lernenden stehen, zu befragen. Kunstwerke erhalten für uns und unsere Situation nur dann einen Sinn, wenn wir sie mit unseren Erfahrungen und Entwicklungspotenzialen anreichern und so zu neuen (politischen) Erkenntnissen gelangen. Der Pergamonfries ist so für die aneignenden Individuen kein toter Gegenstand, vielmehr fordert er sie zur Klärung ihres Selbstverständnisses, zu aktiven Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Epoche heraus. Er wird wiederbelebt im Vollzug seiner aktiven, kreativen Rezeption und Interpretation durch die Selbstentwicklungskräfte der aneignenden Subjekte. Im Lernvorgang im Pergamon-Museum wird der Bruch mit traditionaler Bildung konkretisiert: Indem wir uns nicht damit begnügen, den geschichtlichen Sinn eines Kunstwerks zu identifizieren, sondern mit seiner Hilfe unsere Gegenwart durchdringen, werten wir den ursprünglichen Charakter des antiken Monuments um und sind in die Lage versetzt, eine produktive ‚Umkehrung’ einzuleiten. Der Pergamonaltar bleibt nicht länger Dekoration der Stärke eines Herrschergeschlechts, verborgene Dimensionen und Aspekte kommen zum Vorschein: ‚Und nach längerem Schweigen sagte Heilmann, dass Werke wie jene, die aus Pergamon stammen, immer wieder neu ausgelegt werden müssten, bis eine Umkehrung gewonnen wäre und die Erdgebornen aus Finsternis und Sklaverei erwachten und sich in ihrem wahren Ansehn zeigten.’ (ÄdW 1, S. 53) Diese Umkehrung ist der im Kontext der ästhetisch-politischen Bildung vollzogene Bruch mit einer herrschaftskonformen Aneignung von Geschichte.“ (ebd.: 14)

Es ist auch der Bruch mit einer herrschaftskonformen Aneignung von Kunst. Diese wird unter anderem auch dadurch abgesichert, dass die Wahrnehmung und Interpretation von Kunstwerken zunehmend zur Sache von Experten wurde, die das, was die Laien – also alle anderen – sehen und sagen, als naiv, subjektivistisch oder unwissenschaftlich abzutun geneigt sind, um ihre Profession zu rechtfertigen. In Bezug auf das Gespräch von Heilmann, Coppi und dem Ich-Erzähler vor dem Pergamonaltar hat Jürgen Habermas ziemlich emphatisch festgestellt: „In solchen Beispielen einer Aneignung der Expertenkultur aus dem Blickwinkel der Lebenswelt wird etwas von der Intention der aussichtslosen surrealistischen Revolte, mehr noch von Brechts, selbst von Benjamins experimentellen Überlegungen zur Rezeption nicht-auratischer Kunstwerke gerettet“ (Habermas 1981: 462).

Jörg Wollenberg, der das in seinem 2005 als Supplement der Zeitschrift Sozialismus erschienenen Essay „Pergamonaltar und Arbeiterbildung“ zitierte, berichtete dort von einem Besuch im Pergamonmuseum mit 50 Mitgliedern der IG Metall-Verwaltungsstelle Nürnberg, im Rahmen von Veranstaltungen zu 100 Jahren Metallarbeiter-Gewerkschaft 1991: „’Was hat der Pergamonaltar mit der Arbeiterbewegung zu tun?’ Eine geeignete Fragestellung, um den Spuren der Metallarbeiter zwischen Verfolgung, Unterdrückung und Widerstand nachzugehen – mit der in Vorbereitungsseminaren behandelten ‚Ästhetik des Widerstands’ von Peter Weiss in der Hand und der Vertiefung der Problematik angesichts des Pergamonaltars? Ließen sich über ästhetische Kategorien geistige Erkenntnisprozesse mit politischen und sozialen Einsichten auch in der damaligen Umbruchphase verbinden?“ (Wollenberg 2005: 34). Auf jeden Fall habe dieser Einstieg dazu beigetragen, „die Bedingungen für eine handlungsorientierte Kultur- und Bildungsarbeit in Kooperation mit den Gewerkschaften“ zu verbessern.

Erfahrungen mit Bildergesprächen

An dieser Stelle möchte ich über eigene Erfahrungen berichten, als wir, der Verein KunstGesellschaft (1981 in Frankfurt am Main gegründet, gegenwärtig etwa 200 Mitglieder), eine Zeit lang Bildergespräche für Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Fortbildungsveranstaltungen der IG Metall machen konnten. Die meisten von ihnen hatten bisher wenig Gelegenheit gehabt, Kunstmuseen zu besuchen. Sie wurden im Frankfurter Städel damit konfrontiert, dass sie ohne Vorbereitung oder eine Einführung durch Experten über Kunst sprechen sollten. Da dafür aber keinerlei Hürden aufgerichtet wurden und sie unzensiert ihre Meinung sagen konnten, gab es keine Probleme damit. Es passierte das, was für den Diskurs über Bilder in der „Ästhetik des Widerstands“ schon beschrieben wurde: Die Kunstwerke wurden unmittelbar auf die eigene Lebenssituation bezogen, in die Gegenwart geholt. So konnten auch ihre verborgenen politischen Aspekte entfaltet werden.

Ein Beispiel: Eines der beliebtesten Bilder im Städel ist das „Paradiesgärtlein“ vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Mit seinem „weichen“ gotischen Stil, seiner harmonischen Anordnung der Figuren, seinen vielen Blumen und seiner frischen Farbigkeit strahlt es etwas Paradiesisches aus. Etwas von der Utopie des guten Lebens, wenngleich eindeutig, an der Kleidung, den goldnen Kronen und den es begrenzenden Burgzinnen ablesbar, dem Adel zugeordnet.

Eine am Bildergespräch über das „Paradiesgärtlein“ teilnehmende Gewerkschafterin machte plötzlich auf etwas aufmerksam, das ganz prosaisch war. Sie sagte, es gehe auf dem Bild so zu wie – manchmal oder oft, je nach Betrachtungsweise – heute noch: Die Frauen würden „was schaffen“, während sich die Männer in Gesprächen ergehen würden. In der Tat sind alle der dargestellten Frauen tätig: Maria liest in der Bibel, eine Heilige unterrichtet den Jesusknaben im Zitherspiel, eine andere pflückt Früchte vom Baum, eine schöpft Wasser aus dem Brunnen. Die Männer scheinen im Moment nichts zu tun zu haben, aber einer zumindest hat schon etwas getan: den Drachen erlegt, der tot auf dem Rücken liegt. Den Männern zugeordnet ist auch der kleine Teufel, der wie ein gezähmter Affe aussieht.

Die Teilnehmerin des Bildergesprächs hatte so die Tür aufgestoßen für eine Unterhaltung über Geschlechterrollen, Arbeitsteilung und den unterschiedlichen Naturbezug der Geschlechter (beherrschend oder eher reproduktiv) – anhand eines Bildes, bei dem bei den üblichen Führungen nur die Attribute und Legenden der Heiligen, der religiöse Gehalt und die theologische Bedeutung erklärt werden. In der kunstwissenschaftlichen Literatur zum „Paradiesgärtlein“ findet sich dementsprechend auch kaum ein Hinweis auf die dem unbefangenen Blick sich unmittelbar erschließende Differenz zwischen der Frauen- und der Männergruppe, die jeweils einen Kreis für sich bilden.

Ein anderes Beispiel, zusammenfassend zitiert: „Mit einer Gruppe von Beschäftigten und Funktionären der IG Metall wird im Rahmen eines Fortbildungsseminars über das Bild ‚Die Argonauten’ (1990) von Anselm Kiefer gesprochen… Zunächst zeigt die Gruppe eine starke Abwehr. Das Bild sehe ja furchtbar aus, als habe der Künstler beliebiges Zeug angehäuft und aufgeklebt… Die Farben seien schrecklich: Schwarz, Grau, Braungeld, schmutziges Weiß. Nachdem der erste Schock überwunden ist, kommt nicht die übliche Frage, was das denn mit Kunst zu tun habe, sondern ein Deutungsversuch. ‚Das ist ein Bild der Zerstörung … Krieg … Tschernobyl … Müllhalde unserer Zivilisation …’ Das Bild wird von den Teilnehmern wörtlich und ganz gegenwärtig genommen – sein Titel interessiert zunächst niemanden, weil niemand sich in den Sagen des klassischen Altertums auskennt. Die abwehrende Reaktion gegen die ‚Materialität’ des Bildes bleibt nicht gegen das Bild oder den Künstler gerichtet, sondern bezieht sich – beim zweiten Blick – auf das, was das Bild symbolisch zu repräsentieren scheint.“ (Diederich 1993: 219 f.)

Das Gespräch ging weiter mit der Beschreibung von Details und der Strukturen des Bildes, und mit Assoziationen zum Bedeutungsgehalt. Am Schluß erklärte der Moderator, was es mit dem Titel auf sich habe, auf welche Geschichte er sich beziehe. „Nachdem die Erzählung von Jason und den Argonauten skizziert worden war, gab die Gruppe dem Bild noch eine weitere Bedeutung: Die Jagd nach dem ‚Goldenen Vlies’ habe kein Glück gebracht, und diese Lehre der Argonautensage könne man vermittels des Bildes auch auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft anwenden.“ (ebd.: 220)

Die Methode des Bildergesprächs, die hier angewandt wurde, ist zuerst von Gabriele Sprigath, übrigens auch im Zusammenhang mit Bildungsseminaren der IG Metall, entwickelt und von uns in langjähriger Praxis modifiziert worden. Sprigaths Buch dazu, „Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen“, ist 1986 im Marburger Jonas-Verlag erschienen. Bildergespräche mit Arbeitern (allerdings sehr „lernzielorientiert“ geführte) dokumentierte auch Max Imdahl in seinen Anfang der 80er Jahre erschienenen Büchern: „Arbeiter diskutieren moderne Kunst – Seminare im Bayerwerk Leverkusen“ und: „Diskussionen über Malerei – Seminare mit Vertrauensleuten der Bayer AG“.

 

Zur Methode des Bildergesprächs

Wichtig ist, dass am Beginn des Bildergesprächs die subjektiven Geschmacksurteile über das betrachtete Kunstwerk ausgesprochen und damit bewusst gemacht werden können. So können auch Distanz, Abwehr und Unverständnis einbezogen und im weiteren Verlauf abgemildert oder überwunden werden. Zum Sinn der Methode Gabriele Sprigath: „Erst im Gespräch kann sich der Betrachter seine persönliche Beziehung zum Bild in Form von Assoziationen bewusst machen. Hat er dazu keine Gelegenheit, dann werden ihm auch die dabei hervortretenden Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Erwartungen nicht bewusst, die er stattdessen weiter verinnerlicht. Die im Gespräch realisierte Phantasietätigkeit, in der der Betrachter sich ein eigenes Stück Selbstbewusstsein erobert, findet nicht statt. (Sprigath 1986: 102)

Bei der gemeinsamen Beschreibung und Interpretation eines Bildes machen die Teilnehmer die Erfahrung, dass jeder anders und etwas Anderes sieht und dass das ohne rechthaberischen Streit nebeneinander stehen bleiben kann. Voraussetzung dafür ist, dass die Moderatoren eine neutrale Haltung bewahren. Sie dürfen die Aussagen der Teilnehmer nicht bewerten, weil nur so die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit des Werks zum Vorschein kommt.

Die Gruppe leistet selbst, was sonst von den Experten vorgegeben wird, und mehr als das. Sie macht sich selbsttätig ein Bild von einem Bild – und diese Erfahrung kann dann im günstigen Fall auch auf andere Situationen und Gegenstände übertragen werden. Es handelt sich bei dieser Art Bildungsprozeß um die Selbstermächtigung von Laien, angeleitet von denen, die etwas mehr wissen, aber sich von den immer wieder neuen Gruppenergebnissen gerne überraschen lassen, weil sie auch ihnen einen Zuwachs an Erkenntnis bringen.

Dem naheliegenden und manchmal auch erhobenen Einwand, diese Methode fördere den Subjektivismus und die postmoderne Beliebigkeit – anything goes – kann entgegen gehalten werden, dass die Assoziationen und Interpretationen der Teilnehmer von Bildergesprächen nicht beliebig sind, sondern viel mit kulturellen Codes und Alltagsdiskursen zu tun haben. Indem diese im Gespräch aufeinander treffen und zugleich mit der Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit des Bildes konfrontiert werden, können „kognitive Dissonanzen“ entstehen, die stereotype Wahrnehmungsformen und Vorurteile aufzubrechen in der Lage sind.

Eine Absicherung gegen Beliebigkeit ist es auch, dass die Aussagen der Teilnehmer immer auf das Bild rückbezogen werden, sich an ihm bewähren müssen. Schließlich können am Ende des Gesprächs kunstwissenschaftliche Erkenntnisse zum Bild zitiert werden, mit denen die Gruppe ihre Ergebnisse vergleichen kann. Dabei wird oft deutlich, dass die vorliegenden wissenschaftlichen Interpretationen interessegeleitet einseitig sind oder nicht das ganze Spektrum dessen abdecken, was im Gruppengespräch herauskam.

Das Bildergespräch, das in der „Ästhetik des Widerstands“ nur ansatzweise beschrieben, nicht als Methode ausgearbeitet ist, findet in ihr seine prinzipielle Rechtfertigung. Dazu ein Zitat aus dem 1983 in der edition suhrkamp erschienenen Begleitband zum Roman: „Anders … als jede archäologische und kunstgeschichtliche Darstellung hebt Peter Weiss von vornherein das auf, was im allgemeinen als ästhetische, als wissenschaftliche Distanz bezeichnet wird, was jedoch kaum mehr ist als die Anerkennung und Aufrechterhaltung bestimmter ästhetischer Autoritäten, und zudem die Verdrängung der Angst vor dem ästhetischen Objekt. In der Ästhetik des Widerstands gibt es die von den Wissenschaftlern so gering geschätzte ‚naive’ Betrachtung der Kunstwerke nicht mehr, und die Interpretationen der angeblich Berufenen sind dem Erzähler manchmal ‚zuwider’, weil diese ‚mit erhobnem Zeigefinger die Vieldeutigkeit jedes einzelnen Werks vergessen’ (ÄdW, I, 77). Diese Vieldeutigkeit ist aber im Roman zunächst eine jedem Betrachter zugestandene Kompetenz, die sich in der Auseinandersetzung mit den anderen Betrachtern realisiert und konkretisiert. Der alte bürgerliche Anspruch, dass die Kunst – anders etwa als die Wissenschaft – ein Unternehmen ist, über das jeder sprechen kann und es auch tut, wird hier beim Wort genommen und konsequent durchgeführt.“ (Dilly 1983: 299)

Exkurs zur Geschichte des Sprechens über Bilder

 Der „alte bürgerliche Anspruch“, über Kunst zu sprechen, datiert seit den Zeiten, als die Fürsten ihre Kunstsammlungen für das gebildete Publikum öffneten und allmählich die ersten Museen entstanden – seit dem 18. Jahrhundert. Louis Marin schrieb in seinem Buch „Über das Kunstgespräch“ dazu: „Vom Jahr 1725 an veranstaltete die Académie Royale de Peinture et Sculpture im Salon Carré du Louvre regelmäßig Kunstausstellungen. In diesen kam von Seiten der Besucher der Wunsch nach Kommentaren zu den Bildern auf, die in Gesprächsform schließlich durch qualifizierte Personen erteilt wurden“ (Marin 2001: 72).

Das Kunstgespräch, wenn auch zunächst offenbar recht didaktisch geführt, stellte also gewissermaßen eine Frühform bürgerlicher Öffentlichkeit dar. Marin: „Dazu fügt sich jener andere ebenfalls historische Grund, dass das Kunstwerk in seiner Bewegung des ‚Autonomwerdens’ in gewissen Augenblicken und an gewissen Orten einen Diskurs verlangt, der es als solches, d.h. als Kunstwerk anerkennt“ (ebd.: 25) Das Kunstwerk braucht nicht nur den stillen Betrachter, sondern auch die Auseinandersetzung mit ihm und über es, um zur Geltung zu kommen. Damit verbunden: Es ist für alle da, nicht nur für Gebildete und Experten.

In Deutschland finden sich die Anfänge dieses Gedankens in der Frühromantik, in der der Impuls der französischen Revolution ja noch zu spüren und die reaktionäre Wende der Spätromantik noch nicht vollzogen war. August Wilhelm Schlegels Buch „Die Gemählde. Gespräch“ erschien zuerst 1799. Hier geht es darum, dass die subjektiven, emotionalen und unterschiedlichen „Eindrücke eines Kunstwerks“, das, „was der Betrachter mit hinzubringt“, ausgesprochen werden können, statt ihm einen „Maulkorb“ umzuhängen und ihn auf das „trockene Urteilen“ des „Kunstverständigen“ zu verweisen. Es geht um „Selbsttätigkeit“ der „Laien“. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden diese Ansätze zurückgedrängt zugunsten des Anspruchs der Museen auf fachliche Führung.

Gabriele Sprigath beschreibt in ihren Veröffentlichungen, wie die Kunstgeschichte als „späte Wissenschaft“ sich, um ihre Wissenschaftlichkeit zu beweisen, auf positivistische Verfahren, ikonografische Vergleiche und die Konstruktion von Kunstepochen und „Stilen“ verlegte. Die Seite der Rezeption wurde vernachlässigt, die „subjektive Wahrnehmung“ galt als eher unwissenschaftlich. Die „Gefühlswirkung der Kunst“ (Sprigath) blieb außerhalb des Horizonts der Kunsthistoriker, die auch die Aufklärung des Kunstpublikums über Kataloge und Führungen in die Hand nahmen. Joachim Penzel spricht in diesem Zusammenhang von einer „Monopolisierung des lauten Sprechens über Kunstwerke“ durch die Experten (Penzel 2007: 249).

Dialogische Vermittlungsformen kamen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch die Volkserziehungs- und Kunsterziehungsbewegung auf. Hier ist als Pionier Alfred Lichtwark zu nennen, der als Leiter der Hamburger Kunsthalle 1886 mit Schulklassen „Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken“ machte. Seine Methode („einfache Frage-Antwort-Struktur in der Art eines katechetischen Unterrichts vor den Originalen“ – ebd.: 363) machte bei
Lehrern Schule. Auch bei der Führung von Gruppen aus der Industriearbeiterschaft durch die Museen wurde sie angewandt.

Seither ist das Sprechen über Bilder in der einen oder anderen Form, aber kaum als ausgearbeitete Methode, Teil museumspädagogischer Vermittlungsarbeit.

Inwieweit das Bildergespräch im Rahmen reformpädagogischer Ansätze und Praxen vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Zeit aufgegriffen und entwickelt worden ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint es erst im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben reformpädagogischer Ansätze Ende der 60er Jahre wieder aufgegriffen worden zu sein. Zu nennen sind hier vor allem Max Imdahl (vgl. Imdahl 1982), Peter Faulstich (vgl. Faulstich 2003) und Gabriele Sprigath (vgl. Sprigath 1986).

In der DDR gab es Ansätze zu Bildergesprächen mit Betriebs- und Besuchergruppen bei den zentralen Kunstausstellungen in Dresden, bei denen Bilder direkt auf die Lebens- und Arbeitssituation der Beteiligten bezogen wurden. In mindestens einem Museum gab es ein „Kunstkabinett“ mit methodischen Bildergesprächen für Schüler.

Inzwischen gibt es in der Bundesrepublik vermehrt Angebote zu „Kunstgesprächen“ in den Museen, dialogische Führungen und Mischformen mit Gesprächsteil und darauf folgendem erklärendem Vortrag (beispielsweise die seit Jahren mit Erfolg laufende Reihe „Prüfen Sie Ihr Kunsturteil“ im Frankfurter Städel). Auch als kommerzielles Angebot für das Training von Führungskräften beginnt sich mittlerweile schon hier und da „Kommunikation über Kunst“ zu etablieren.

In einem strengeren methodischen und bewusst demokratischen Sinn wird das Bildergespräch aber nach wie vor nur am Rande praktiziert.

Noch einmal: Peter Weiss

Über die Rolle und Eigenart von Kunst schreibt Peter Weiss in der „Ästhetik des Wider-stands“: „Die Kunst besaß also, neben ihrem bestimmten Klassencharakter, eine Eigenschaft, mit der sie den sozialen, ökonomischen und politischen Prozessen, die unser Leben bestimmten, überlegen war, sie befand sich oft auf der Schwelle, von der aus das gesellschaftliche Sein verändert wurde, und eben diese Eigenschaft war es wohl, die die Ideologen ratlos machte. Sie vermochten nicht, der Anregung zu folgen, die Kunst als eine ständige, überall vorhandne Kraft zur Erneurung wirken zu lassen…“ (ÄdW 1: 78).

Im ersten Band seiner Notizbücher 1971-1980 heißt es noch zugespitzter: „Große Kunst ist immer klassenlos, weil sie sich an alle richtet, die aufnahmefähig sind“ (Weiss 1981: 188).

Wie das gemeint sein kann, dazu folgende Stelle aus der „Ästhetik des Widerstands“: „In vielen Werken, gleichgültig, ob Fürsten, Prälaten oder spekulierende Mäzene Anspruch darauf erhoben hatten, sie zu besitzen, war, in der Befolgung des eigenen Wahrheitssinns, in der Überwindung von Vorurteilen und Grenzziehungen, seit jeher das Element der Klassenlosigkeit enthalten. Die soziale Erneurung, die Übernahme von Entdeckungen und Eroberungen aus den Händen der Herrschenden, die Herstellung der eigenen Macht, die Begründung unsres eignen wissenschaftlichen Denkens, dies waren Themen, die wir uns in der Kunst, der Literatur vorstellen konnten“ (ÄdW 1: 78).

Zu dieser Konzeption gab es seit dem Erscheinen des Romans kritische Einwände. Peter Weiss wurde ein vereinfachtes und vereinfachendes Klassenkampf-Schema vorgeworfen. Eine differenzierende Auseinandersetzung, die neuere Fragestellungen aufgreift, sei im Folgenden zitiert.

Michael Hofmann schreibt in seiner Einführung in die interkulturelle Literaturwissenschaft, dass die „Ästhetik des Widerstands“ zu einer „Aufhebung des Fremden in der interkulturellen Konstellation“ tendiere, „weil der Roman einem universalistischen, marxistisch inspirierten Konzept folgt, nach dem die Welt allgemein aufgeteilt ist in Herrscher und Beherrschte, in                ‚Hohe’ und ‚Niedrige’“, und es auf die Gemeinsamkeit der Unterdrückten ankomme (Hofmann 2006: 131). Kulturelle Differenzen könnten in dieser Perspektive nicht zureichend wahrgenommen werden. Für die gegenwärtige Lage gelte aber, „dass Widerstand der Ästhetik in der globalisierten Welt, die zur Herstellung von Identität neigt, für uns nicht Überwindung der Differenzen, sondern gerade das Beharren auf Differenzen angesichts einer nivellierenden kommerziellen Weltkultur ist“ (ebd.).

Die Rezeption von Kunstwerken im Roman von Peter Weiss arbeite der universalistischen Tendenz aber entgegen. Hofmann nennt als Beispiel die Beschreibung der von Antonio Gaudi errichteten Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona: „Den Kopf weit zurückgebogen, starrten wir hinauf in das wuchernde Gestein, sahn eine Gotik, die Erinnerungen an Ägypten und Babylon trug, die durch Zwingburgen, Barockschlösser und indische Tempel, durch Jugendstil und Kubismus gegangen war.“ (ÄdW 1: 193) „Wir … nahmen dieses Bauwerk aus Gegensätzen wahr, überlastet und kahl, vom Harten sich zum Weichen suchend, vom Rauhen zum Glatten, aus Uraltem kommend und Zukünftiges erahnend, nirgends einzuordnen.“ (ebd.: 195)

Die Auseinandersetzung des Ich-Erzählers und seines Freundes Ayschmann mit der spanischen Kultur intensiviert sich bei der gemeinsamen Betrachtung von Picassos Werk, insbesondere von „Guernica“ und dessen Vorstufen, zum Beispiel der „Minotauromachie“ von 1935. Sie erkennen dabei, dass ihnen bestimmte Motive, vor allem diejenigen, die sich auf den Stierkampf beziehen, letztlich undurchschaubar, widersprüchlich und fremd bleiben.

Hofmann belegt das durch die Deutung der Rolle des Pferdes in „Guernica“. Da im Verlauf von Picassos Erarbeitung des Bildes „der Stier immer menschlicher wurde, und das Pferd immer bestienhafter, meinten wir, im Taurus die Dauerhaftigkeit des spanischen Volks dargestellt zu sehn, und im engäugigen, starr schraffierten Hengst den verhassten, vom Faschismus aufgezwungnen Krieg“ (334) Dem stand entgegen, dass in einer der Vorstufen der Wunde des Pferdes ein kleines geflügeltes Roß entsprang: „Doch wenn wir nun, ausgehend vom Strom der Nebenbilder, der Auftürmung menschlichen und kreatürlichen Leidens noch eine Klage über die Flucht des Pegasus hinzufügen wollten, so mussten wir auch den Kritikern recht geben, die dem Werk, von dem sie Agitation verlangten, eine Undurchschaubarkeit und Gebrochenheit vorwarfen.“ (ebd.)

Die Kritiker fanden sich vor allem in der spanischen KP, die das Bild 1937 aus dem spanischen Pavillon der Weltausstellung in Paris entfernt sehen wollte, weil es „völlig ungeeignet sei, die Sache des Proletariats auszudrücken“ (Weiss 1981: 187) Hofmann schreibt zu der sich, wie beim Pergamonaltar, über viele Buchseiten erstreckenden Beschreibung und Interpretation von „Guernica“: „Die Unmöglichkeit, eindeutig positive und negative Figuren zu bestimmen, entspricht aber nur zu genau den Erfahrungen des spanischen Bürgerkrieges, die der Ich-Erzähler referiert, wurden hier doch zahlreiche Republikaner zum Opfer der Auseinandersetzung in den eigenen Reihen. Die interkulturelle Konstellation mit der Bewahrung der Fremdheit im Hinblick auf faszinierende und verstörende Momente der spanischen Kultur verhilft somit dem Ich-Erzähler oder doch zumindest den Rezipienten von Weiss’ Roman zur Einsicht in die Widersprüchlichkeit der dargestellten historischen Situation“ (Hofmann 206 : 142).

Möglich wird eine solche Darstellung und Erkenntnis im Roman durch die modellhaft beschriebene diskursive Aneignung von Kunstwerken. Deren Eigenschaft, immer vielschichtig und mehrdeutig zu sein, kommt am Besten zur Geltung und Sprache, wenn Menschen miteinander über sie sprechen.

Peter Weiss schrieb im ersten Band seiner Notizbücher: „Man muß das Lesen lernen, das Bilderansehn lernen, das lernt man nicht in der Schule, ich hatte das Glück, dahin gelenkt zu werden, darauf gestoßen, davon angelockt zu werden, es ließ uns dann nicht mehr los, obgleich es, in unsrer Situation, eigentlich etwas Unmögliches war.“ (Weiss 1981: 203)

Zu unserer Praxis in der KunstGesellschaft

Wir gehen als Gruppe in Ausstellungen, ohne uns anzumelden. Museen sind für uns öffentliche Orte, die für jeden zugänglich sein sollten, und in denen man ohne Erlaubnis miteinander sprechen können soll. Manche Besucher tun das überlaut, und es geht ihnen nicht immer um die Kunst. Andere haben einen Knopf im Ohr, aus dem ihnen zugeflüstert wird, was sie sehen sollen. Sie sind schon beschallt, können also kaum gestört werden. Wenn uns Führungen kreuzen, unterbrechen wir unser Gespräch, hören zu und verwenden das Gehörte.

Wir nehmen uns das Recht, in Ausstellungen über Bilder zu sprechen. Das ist nicht selbstverständlich. Bei der letzten Documenta beispielsweise gab es ein Verbot für Fremdführungen, weil die Leitung die Interpretation des Gezeigten in der Hand behalten wollte bzw. die Führungen outgesourct hatte, damit jemand daran verdiente und die Documenta GmbH ebenfalls ein paar Einnahmen hatte. Wir ignorierten das Verbot und begannen an den verschiedenen Ausstellungsorten mit Bildergesprächen. Nach kurzer Zeit wurden wir jeweils vom Bewachungspersonal unterbrochen und nach unserer Legitimation für Führungen befragt. Wir verwiesen darauf, dass wir keine Führungen machten, sondern Gespräche. Die Documenta-Leitung habe die Besucherinnen und Besucher zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der gezeigten Kunst aufgefordert und eben das würden wir tun. Die Wärter mussten uns gewähren lassen.

In der Berliner Sammlung Berggruen gelang uns das vor Jahren nicht. Das lag daran, dass es sich hier um eine Art Public-Private-Partnership handelt. Der Berliner Senat hatte Heinz Berggruen dafür, dass er seine Sammlung in eine Stiftung einbrachte, ein Museum eingerichtet, in dem er offensichtlich Hausrecht hatte. Mit der Begründung: „Herr Berggruen mag das nicht“, wurde unser Gruppengespräch sofort unterbunden.

Studenten der Frankfurter Städelschule, die eine Ausstellung ihrer Kolleginnen und Kollegen bewachten, ließen nur widerwillig ein Gespräch über das Ausgestellte zu – weil da doch eh nur inkompetent geredet werde und Kunst heute nur mit viel Vorwissen verstanden werden könne.

Als wir mit Jugendlichen einer Jugendkulturwerkstatt, fast alle aus Migrantenfamilien, im Frankfurter Städel ein Gespräch vor einem Bild von Max Ernst machten, passten die Wärter mit Argusaugen auf, dass niemand zu dicht an die Wände oder an die Bilder kam. Diese Besucher waren ihnen ungewohnt und nicht ganz geheuer.

Manchmal aber hört das Personal bei unseren Gesprächen interessiert zu und mischt sich ein – so wie Museumsbesucher bei uns stehen bleiben, zuhören und spontan mitreden. Beispielsweise in der Ausstellung „60 Jahre. 60 Werke“ in Berlin zum 60sten Jahrestag des Grundgesetzes, in der für die Jahre bis zum Mauerfall nur Westkunst aus der Bundesrepublik gezeigt wurde. Mit unseren laut geführten Gesprächen wollten wir auch der Feierlichkeit dieser verspäteten Kalte-Kunst-Kriegs-Veranstaltung etwas entgegen setzen.

In der Frankfurter Schirn lief in den letzten Monaten die Ausstellung „The Making of Art“, in der die ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen der Kunstproduktion anhand von Werken, die diese reflektieren, dargestellt werden sollten. Das an die Besucherinnen und Besucher verteilte Informationsheft enthielt ein Schaubild dazu. Was die Seite des Kaufs von Kunstwerken betrifft, waren private Käufer und Kunsthändler zusammen in eine Kategorie gesteckt worden. Die großen „institutionellen Anleger“ in Malerei als Wandaktie oder in Plastiken und Installationen als spekulative Investition, wie beispielsweise die Werbeagentur Saatchi & Saatchi, die Piroschka Dossi in ihrem Buch „Hype. Kunst und Geld“ beschreibt, waren in dem Schaubild ausgespart bzw. nicht extra benannt.

Uns gelang es aber, sie zur Sprache zu bringen: Bei der Betrachtung und Besprechung des Bildes eines kenianischen Malers, auf dem sich von beiden Seiten aus dem Raum außerhalb des Bildes weiße Arme danach strecken, dem auf dem Bild dargestellten Künstler – es handelt sich um ein Selbstportrait – das von ihm Gemalte abzunehmen, um es auf den internationalen Kunstmarkt zu bringen.

Es geht beim Bildergespräch also nicht (nur) um eine kunstimmanente Interpretation, sondern immer auch um den Kontext, in dem das Bild steht oder in den es gestellt werden kann. Die Teilnehmer von Bildergesprächen sorgen stets dafür, dass dieser Kontext hergestellt wird – zunächst zu ihren Erfahrungen, dann auch zu ihrem Wissen und zu ihren Positionen in der sozialen und politischen Auseinandersetzung.

Seit einem Jahr experimentieren wir damit, die Methode zu übertragen, bieten Musikgespräche an, bei denen ein Stück ohne Vorinformationen gehört und dann besprochen wird. Die Erfahrungen sind ähnlich wie beim Bildergespräch: Die Vielfalt der Höreindrücke kommt zur Sprache und kann miteinander verglichen werden. Informationen zu den Komponisten und zum musikgeschichtlichen Hintergrund werden danach gegeben.

 

 Literatur:

 Abendroth, Wolfgang: Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss als authentischer Beitrag zur Geschichte der Arbeiterbewegung, in ders.: Die Aktualität der Arbeiterbewegung. Frankfurt a. M. 1985

 Bernhard, Armin: Mittel des Widerstands. Die Aneignung von Kunst für und bei Peter Weiss, in Forum Wissenschaft 2/2007 (neu bearbeitete und gekürzte Fassung eines Essays, der 1992 anlässlich des zehnten Todestages des Schriftstellers in Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, Jg. 31, Nr. 127, S. 31-45, erschien)

Diederich, Reiner: Das Bildergespräch – eine Methode sozialer Kulturarbeit, in Hans-Jürgen Häßler / Christian von Heusinger (Hrsg.): Frieden, Tradition und Zukunft als Kulturaufgabe, Würzburg 1993
Dilly, Heinrich: Die Kunstgeschichte in der Ästhetik des Widerstands, in Alexander Stephan (Hrsg.): Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M. 1983

Faulstich, Peter: Bildergespräche – Vermittlung des Ästhetischen in der Erwachsenenbildung, in Karl Ermert/Dieter Gnahs/Horst Siebert (Hrsg.): Kunst-Griffe. Über Möglichkeiten künstlerischer Methoden in Bildungsprozessen. Wolfenbüttel 2003

 Habermas, Jürgen: Kleine Politische Schriften. Frankfurt a. M. 1981

Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung, Paderborn 2006

Imdahl, Max: Arbeiter diskutieren moderne Kunst – Seminare im Bayerwerk Leverkusen. Berlin 1982

Jung, Werner: Kunst und Kultur. Autonomie – Erinnerung gegen Entfremdung, in Forum Wissenschaft 2/2007

Marin, Louis: Über das Kunstgespräch. Diaphanes Verlag 2001

Penzel, Joachim: Der Betrachter ist im Text. Berlin 2007

Sprigath, Gabriele: Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen. Marburg 1986

Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands, Bd. 1-3. Frankfurt a. M. 1975, 1978, 1981

 Weiss, Peter: Notizbücher 1971-1980, Erster Band, Frankfurt a. M. 1981

Wollenberg, Jörg: Pergamonaltar und Arbeiterbildung. „Linie Luxemburg-Gramsci – Voraussetzung: Aufklärung der historischen Fehler“ (Peter Weiss), Supplement der Zeitschrift Sozialismus 5/2005

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