Anmerkungen zu Jörg Ratgeb*

Jörg Ratgeb steht als Künstler, der in der Zeit von Reformation und Bauernkrieg für die Bauern Partei ergriff, in einer Reihe mit Tilman Riemenschneider und Matthias Grünewald. Er wurde wie der radikale Reformator und Luther-Gegner Thomas Müntzer nach der Niederschlagung der Bauernaufstände auf grausame Weise hingerichtet. Im Wikipedia-Artikel über Ratgeb ist zu lesen, dass sein Werk seit dessen Wiederentdeckung im 19. Jahrhundert „Gegenstand kontroverser Interpretationen“ gewesen sei: „Sein tragisches Ende motivierte wiederholt Kunsthistoriker, allen voran Wilhelm Fraenger, sein schmales erhaltenes Werk als politisches Manifest zu lesen. Diese Deutungen werden von der gegenwärtigen Kunstgeschichte überwiegend als kurzschlüssig abgelehnt.“

Kurzschlüssig ist es in der Tat, bei Künstler:innen zwischen Person, Weltanschauung, politischer Haltung und Werk einfach Gleichheitszeichen zu setzen. Dann wären die Werke ja auch nichts anderes als Illustrationen der Anschauungen des Künstlers oder der Künstlerin. Sie aber vollkommen unabhängig von deren Biographie, den Zeitumständen und den gesellschaftlichen Verhältnissen zu betrachten, quasi rein „werkimmanent“, entspricht einer ästhetischen Position, die mit „L‘art pour l‘art“ bezeichnet wird: Kunst soll sich selbst genügen und immer nur bezogen auf andere Kunst interpretiert werden.

Hier zunächst eine Kurzdarstellung zum Leben und Werk Jörg Ratgebs:

„Der zwischen 1480 und 1485 in der Reichsstadt Schwäbisch Gmünd geborene Maler führte den archivalischen Quellen nach ein bewegtes Leben. 1509 trat er erstmals öffentlich in Erscheinung. Als freier Bürger war er – entgegen den gültigen Standesregeln – mit einer Leibeigenen des Herzogs von Württemberg verheiratet. Ratgeb ersuchte durch Bittschriften vergeblich, seine Frau von Herzog Ulrich freizukaufen zu dürfen. Zwischen 1514 und 1517 hielt er sich für die Gestaltung von Wandmalereien des Karmeliterklosters in Frankfurt auf. Nach der Vollendung des Herrenberger Altars war er in Stuttgart ansässig. 1524/25 gehörte er einer Delegation der Stadt Stuttgart an, die mit Beteiligten des Bauernaufstandes in Böblingen verhandeln sollte. Kurz darauf wechselte er jedoch die Seite und wurde zum Kriegsrat und Kanzler der Aufständischen gewählt. Über die Gründe seines Gesinnungswandels wurde vielfach spekuliert, seine Beweggründe liegen jedoch bis heute im Dunkeln. Er wurde 1526 wegen Hochverrats gegen den württembergischen Herzog verurteilt. Ein auf 1611 datierter Bericht enthält Zeugenberichte, denen zufolge er gevierteilt wurde. Die Grausamkeit seines Todes bestimmt noch immer das heutige Bild des Künstlers, obwohl die Geschichte seiner Vierteilung bislang nicht schlüssig nachgewiesen werden konnte.“ (Aus: 500 Jahre Herrenberger Altar. Das Programmheft zum Jubiläum 2019)

Wilhelm Fraenger hat in seiner Monographie „Jörg Ratgeb. Ein Maler und Märtyrer aus dem Bauernkrieg“, die zuerst 1972 im Verlag der Kunst in Dresden erschien und später auch in der Büchergilde Gutenberg (Frankfurt am Main, Wien, Zürich) versucht nachzuweisen, dass Ratgeb zeitgenössischen „schwarmgeistigen“ und sozialrevolutionären Strömungen zuneigte, wie sie mit der Reformation aufkamen. Sie wollten Ernst machen mit dem Gleichheitsversprechen, das in der christlichen Botschaft enthalten ist, mit dem Bibelspruch: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als dass ein Reicher in den Himmel kommt.“ Am klarsten hat das Thomas Müntzer in seinen Forderungen nach einer Aufhebung der Ungleichheit des Besitzes und der Macht ausgedrückt: „Omnia sunt communia“ (alles gehöre allen) und „Die Gewalt soll gegeben werden dem gemeinen Volk“.

Fraenger belegt seine These mit dem Werk Ratgebs, sowohl was die ungewöhnliche, expressive und manchmal bis ins Karikaturhaft-Verzerrte gehende Formensprache angeht, die als Kritik an der feudalen Herrschaft und an der Kirche zu lesen sei, als auch die Verwendung von entsprechenden Symbolen und das „volksnahe“ Erzählen. Ein Beispiel aus Ratgebs Fresken im Kreuzgang des Karmeliterklosters in Frankfurt am Main: „Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten spielt vor dem Hintergrund eines Waldes mit Rehen und Hirschen. Es ist eine der wenigen Szenen, in denen Josef im Zentrum steht. Durch die alltäglichen Gegenstände wie Josefs Zimmermannsgeräte und durch die am Sattel hängenden Kochutensilien wird die heilige Geschichte ins Leben des frühen 16. Jahrhunderts übertragen.“ (Text des Frankfurter Instituts für Stadtgeschichte) Es versteht sich, dass Maria keinen Heiligenschein mehr hat wie auf früheren Bildern der Legende, sondern einen Hut, der gegen Sonne und Regen schützt. Beide tragen einfache, ländliche Kleidung.

Im Audioguide des Instituts zum Freskenzyklus ist mit Hinweis auf die – im Gegensatz zu dieser Szene – in anderen Teilen des Wandbilds dargestellten Symbole für Reichtum, Geld und Gier von „kapitalismuskritischen“ Momenten im Werk Ratgebs die Rede. Die weitergehenden Interpretationen Wilhelm Fraengers werden allerdings nicht erwähnt.

Gegen Fraengers Deutung wird heute von kunstwissenschaftlicher Seite eingewandt, dass keine schriftlichen Zeugnisse und anderen Überlieferungen für sie vorliegen. Es erscheint dann aber als Ansichtssache, wie weit man ihr folgt, ob man sie für eine Überinterpretation hält oder eine alternative Interpretation bevorzugt. Dazu Auszüge aus dem Feature „Kirchenmaler und Bauernkrieger“ von Kirsten Serup-Bilfeldt, das der Deutschlandfunk am 20.5.2013 sendete:

„Bis heute gilt der Herrenberger Altar als das Hauptwerk Jörg Ratgebs. Gemalt hat er ihn zwischen 1518 und 1522 für die ‚Brüder des Gemeinsamen Lebens‘, die ab 1481 die Herrenberger Chorherren ersetzen.

Diese neuen ‚Fraterherren‘ sind Vertreter der ‚devotio moderna‘, einer neuen religiösen Strömung innerhalb der spätmittelalterlichen Kirche. Die eigenständige Frömmigkeitsbewegung sucht einen Mittelweg zwischen weltlichem und klösterlichem Leben. Sie ist in gewisser Weise kirchen- und liturgiegelöst und ermöglicht dem Menschen die Ausübung einer ganz privaten Form von Religiosität. Die ‚Brüder des Gemeinsamen Lebens‘ predigen eine ‚praktische‘ Frömmigkeit und erklären dem unwissenden Volk die Bibel.

Für diese Bruderschaft stellt Ratgeb einen Christus dar, der dem Volk zugewandt ist. In den anwesenden Häschern und Henkersknechten des Kreuzigungsgeschehens dagegen mag man Karikaturen hochmütiger Fürsten und feister Pfaffen erkennen. Ähnliche Anspielungen hat der Künstler schon in seinen Frankfurter Wandmalereien gewagt, als er den Teufel in Gestalt eines Glücksspielers porträtierte, mit Würfel und prallem Geldbeutel, vielleicht Anspielungen auf Macht und Reichtum der Handelshäuser Fugger und Welser?

Ratgebs Malerei spiegelt auch immer auch etwas von den sozialen Unruhen seiner Zeit wider. Er setzt teilweise die Hoffnungen des Volkes in künstlerische Darstellung um.  (…)


Ob ihn das allerdings auch zum Revolutionär und Säulenheiligen der marxistischen Geschichtsdeutung des frühen 16. Jahrhunderts macht, wozu Wilhelm Fraenger neigt, darf eher bezweifelt werden.

Dazu Rainer Koch, ehemaliger Direktor des Historischen Museums in Frankfurt am Main:

‚Ratgebs Kunst war eben nicht visionär im Sinne einer sozialen Revolution als Folge einer Veränderung des ökonomischen Unterbaus, sondern ist ganz wesentlich aus der spätmittelalterlichen Frömmigkeit, aus eschatologischen Erwartungen und aus der heilsbezogenen Zielsetzung seiner Auftraggeber und Stifter zu deuten.‘

Ähnlich sieht das die Kunsthistorikerin Sabine Oth, die darauf hinweist, dass bisher nur der amerikanischen Ratgeb-Forscherin Lisa de la Mare Farber ein ‚objektiver Blick auf den Maler‘ gelungen sei:

‚Mit dem Hinweis auf die positive Sicht der Deutschen auf den Bauernkrieg erklärt sie die Befangenheit der deutschen Forscher und die damit einhergehende Mystifizierung Ratgebs. Sie zeigt, dass die These von Ratgeb als sozialem Revolutionär nicht haltbar ist. Unentschuldbar erscheint ihr die Interpretation seines Werks auf der fraglichen Annahme eines Sympathisierens Ratgebs mit den Zielen der Bauern während weniger Wochen im Frühjahr 1525.‘“

Noch zugespitzter heißt es in einem Text zu Ratgeb, der im Internet unter „Kulturstiftung der Länder – Länderporträt Baden-Württemberg“ zu finden ist, mit dem Titel „Vom Kirchenmaler zum Bauernkrieger. Jerg Ratgeb: Der einst vergessene Maler wird heute wiederentdeckt“:

„Natürlich verzichtete auch Werner Tübke, der Maler des Bauernkriegspanoramas in Bad Frankenhausen, nicht auf Ratgeb. Das als mögliches Selbstbildnis identifizierte Porträt auf der Rückseite des Herrenberger Altars ist bei Tübke zwischen den Porträtnachmalungen von Tilmann Riemenschneider und Albrecht Dürer angeordnet. So war Ratgeb in die vermeintliche Ahnenreihe der Vorkämpfer des DDR-Sozialismus eingereiht und kam in dieser Eigenschaft noch 1989 auf eine Briefmarke des kurz danach abgeschafften Staates. Für Ratgeb als Früh-Revolutionär sprach außerdem, dass er versucht hatte, seine Frau aus den Fängen der Leibeigenschaft zu befreien. Zwei Bittgesuche an Herzog Ulrich sind bekannt. Die beiden Ablehnungsschreiben ebenso. Doch war Ratgeb wirklich mit einer Leibeigenen verheiratet oder nur liiert, nachdem seine erste Frau gestorben war? Für die DDR-Ideologen war das egal. Aus der Perspektive einer unideologischen historischen Forschung überwiegen allerdings die Zweifel an einer solchen Theorie. Trotzdem existieren die beiden Gesuche. Dass die Bitten Ratgebs nach 1512 aufhörten, lag wohl daran, dass die Frau, für die er bat, gestorben war. Das Interesse an solchen – für die Kunst eines Malers eher marginalen – Dokumenten zeigt, wie groß die Bewunderung für Ratgebs Kunst ist und wie stark der Drang, mehr über diesen Maler zu erfahren.

Wilhelm Fraenger beschrieb seine Besonderheit so: ‚Er war ein ausgesprochener Novellist und unerschöpflicher Erzähler, der die kurz angebundene Anekdote ebenso beherrschte wie den breit ausgesponnenen Bildroman.‘ In eben diesem finden sich die heutigen Besucher wieder. Sie sehen nicht nur Typen, sondern blicken in Welten, die vielen von ihnen fremd in ihrer Religiosität sind, doch vertraut in ihrer Grausamkeit und in ihrer Menschlichkeit.“

Wie „eher marginal für die Kunst eines Malers“ die Situation seiner Lebensgefährtin für Ratgeb in Wirklichkeit war, dafür gibt es im Herrenberger Altar ein von Wilhelm Fraenger entdecktes und beschriebenes Detail. Auf der Tafel „Verlobung Mariae“ interpretiert er den links oben dargestellten Kopf eines Mannes, der „aus dem Bild heraus in die Ferne schaut, als horche er auf einen plötzlichen Appell von draußen her“ als Selbstbildnis Jörg Ratgebs. So ist es von Werner Tübke in dessen Panoramabild in Bad Frankenhausen aufgenommen worden. Und weiter: „Ebenso auffallend ist das genau im Mittelpunkt der Tafel angebrachte ‚Bildnis‘ einer Frau mit eng anliegenden Haaren zwischen den biblischen Gestalten Maria und Joseph. Dieser Frauenkopf steht so selbständig und zusammenhanglos im Bild, als schaue die Frau aus einem Fenster zu uns heraus. Durch die hohe Haube, die sie trägt, entsteht der sonderbare Eindruck, als sei dieses Frauenantlitz seiner Bedeutung wegen isoliert und wie von einem weißen Grunde abgehoben worden.“ (S. 123) Siehe dazu die Abbildung.

„Kunsthistoriker vermuten das Selbstbildnis und das Bildnis seiner Frau im Herrenberger Altar an den gekennzeichneten Stellen.“ Abbildung und weitere Informationen und Interpretationen zum Werk Ratgebs auf der Seite www.bauernkriege.de von Hans Holger Lorenz.

Fraenger führt noch weitere Besonderheiten der Darstellung an: „Während alle Gemälde Ratgebs in ihrem eigenen dramatischen Konnex beschlossen bleiben, setzt sich dieses Frauenbild in einen unmittelbaren Blickrapport zu dem Beschauer. Auch im Kostümlichen ist eine größere Gegenwartsbeziehung hergestellt. Während die in der Prozession wie ‚wandelnde Glocken‘ einhergehenden Beginen phantastisch aufgeputzt sind, ist diese zentrale Figur schlicht-bürgerlich gekleidet. Sie trägt ein blaues Kränzchen auf ihrem braunen Haar, einen bestickten Halsausschnitt und ein moosgrünes Gewand, über das sie ihre Hände kreuzt. Das hausfrauliche Gesicht mit seinem etwas besorgten Blick ist so ganz individuell gegeben, dass es – sobald man sich nur etwas darauf eingeschaut hat – die ganze Darstellung zu beherrschen und den Blick auf sich zu ziehen beginnt.“ (S. 124)

Fraenger interpretiert den Frauenkopf als Porträt der Lebensgefährtin Ratgebs – korrespondierend mit seinem Selbstporträt auf dieser Tafel des Altars.

Auf sakralen Bildern sind üblicherweise nur die Stifter und ihre Familien „verewigt“ worden. Dass Ratgeb sich hier selbst und seine Frau mit ins Bild bringt – sein Verhältnis zu ihr in der Verlobung der Heiligen Maria spiegelt und damit „nobilitiert“ – ist ein Hinweis darauf, wie sehr er sie geschätzt und verehrt hat. Umso mehr musste es ihn kränken, dass all seine Versuche vergeblich blieben, sie aus der Leibeigenschaft zu befreien. Wegen der Verbindung zu ihr verlor er sein Bürger- und Aufenthaltsrecht in Heilbronn und musste die Stadt 1512 verlassen. Für Fraenger war allein das bereits Motiv genug, sich gegen die feudale Unterdrückung zur Wehr zu setzen und auf die Seite der Bauern zu schlagen. Er schreibt: „Es leuchtet ein, dass der in diesen harten Sozialkonflikt verstrickte Maler schon um seiner eigenen Sache willen künftig dem bäuerlichen Freiheitsbanner folgen musste.“ Das allerdings ist eine Schlussfolgerung, kein Beweis.

In einem Gespräch über das Bild wird deutlich, welche Assoziationen sich hier außerdem ergeben können: Maria trägt im Vorgriff auf ihre spätere Rolle als „Himmelskönigin“ einen brokatgesäumten Umhang, der durch eine große goldene Brosche zusammengehalten wird und ein goldenes Diadem mit einem Edelstein in der Mitte. Sie ist in ihrer Haltung Ratgebs Frau zugeneigt, beider Köpfe bilden zusammen im Zentrum des Bildes quasi eine „weibliche Einheit“ über die ständischen Grenzen hinweg. Dies könnte auch eine Anspielung darauf sein, dass Maria selbst einfacher Herkunft war. Damit lasse sich die Szene nicht nur als Kritik am Patriarchat lesen, sondern auch als indirekte Kritik an der feudalen Klassengesellschaft. Wenn der schützende soziale Abstand, den der weltliche und geistliche Adel mit Macht um sich herum aufrecht erhielt, derart aufgehoben wird und eine Frau aus dem Volk so im Mittelpunkt steht, wie es sonst nur Herrscher:innen und Heiligen gebührt, dann sei das eine symbolische Umkehrung, ein Umsturz der Verhältnisse im Bild.

Diejenigen, die das Bildprogramm Ratgebs und dessen ekstatische Ausführung nur wie Rainer Koch, der als Direktor des Frankfurter Historischen Museums 1985 dazu eine kulturkonservative Ausstellung im Karmeliterkloster machte, nur aus der „spätmittelalterlichen Frömmigkeit“ des Künstlers, aus seinen „eschatologischen Erwartungen und aus der heilsbezogenen Zielsetzung seiner Auftraggeber und Stifter“ deuten wollen, verkennen, dass dies kein Gegensatz zu einer sozialkritischen Lesart sein muss. Sozialkritik kann auch im religiösen Gewand auftreten und Karl Marx damit Recht haben, dass Religion nicht bloßer Priestertrug ist, wie die französischen Aufklärer meinten, sondern „Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist“.

In diesem Sinne hat auch der Holzschneider HAP Grieshaber 1977 den „Jerg-Ratgeb-Preis für Freiheit der Kunst und für Gewaltlosigkeit im Kampf um mehr Menschlichkeit“ gestiftet, der alle vier Jahre für ein künstlerisches Lebenswerk vergeben wird. Zuletzt bekam ihn 2022 der bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit in der DDR lebende und arbeitende Maler und Filmregisseur Jürgen Böttcher, bekannt unter dem Pseudonym Strawalde.

* Begleitmaterial für eine Studiengruppe anläßlich einer Führung im Frankfurter Karmeliterkloster, August 2023

(Text zur Abbildung:)

„Kunsthistoriker vermuten das Selbstbildnis und das Bildnis seiner Frau im Herrenberger Altar an den gekennzeichneten Stellen.“ Abbildung und weitere Informationen und Interpretationen zum Werk Ratgebs auf der Seite www.bauernkriege.de von Hans Holger Lorenz.

Erfahrungen mit der documenta fifteen

Bericht / Beitrag zur Diskussion

Am Montag, dem 20. Juni 2022, kurz nach der Eröffnung der diesjährigen Documenta waren wir in Kassel, um einen Ausstellungsbesuch der Frankfurter KunstGesellschaft vorzubereiten. Gleich unterhalb des Friedrichsplatzes betrachteten wir das große Banner „People‘s Justice“ der indonesischen Gruppe Taring Padi. Erster Eindruck: Ein Agitationsbild, wimmelig, nicht sehr strukturiert, mit Anklängen an die sozialkritische Kunst der 1920er Jahre in Europa. In der Mitte oben thront ein „Volksgericht“. Es soll über als Hunde, Schweine und anderes Getier hinter Gittern karikierte Angeklagte richten. Auf der linken Hälfte moderne Hochhäuser und Maschinen, Arbeiter im Hamsterrad und eine im Sessel sitzende überdimensionale Figur, darunter Uniformierte und Totenschädel. Auf der rechten Hälfte harmonisches Landleben, gemeinsames Essen und eine Demonstration mit einer Fahne, die zum kulturellen Widerstand aufruft. Ihr korrespondiert auf der linken Hälfte eine Aufschrift über einem Totenkopf: „Die Expansion der ‚multikulturellen‘ Hegemonie des Staates“. Die politische Stoßrichtung des Banners ist für unsere Augen nicht ganz klar, vor allem wenn man seine Entstehungsgeschichte nicht kennt.

Mein Blick fällt auf der linken Hälfte auf einen Mann mit Bowlerhut und dicker Zigarre. Aha, noch ein Unternehmertyp, denke ich, da ich die große Figur im Sessel, neben den Hochhäusern und Maschinen, auch als solchen eingeordnet hatte. Da tritt jemand auf uns zu, der mitgehört hat, und macht uns darauf aufmerksam, dass der Mann mit der Zigarre zwischen den Raffzähnen links und rechts kleine Schläfenlocken hat, also als (orthodoxer) Jude konnotiert ist. Nach all dem Streit im Vorfeld über möglichen Antisemitismus auf der Documenta – wegen vermuteter Sympathien für die “israelkritische” Boykottbewegung BDS bei beteiligten Künstler:innen und Kurator:innen – sei dies nun der ultimative Beweis und das Bild werde wohl abgehängt werden. Spontan sage ich, dass ich es vorziehen würde, das Bild zur Aufklärung darüber zu nutzen, wie aus beabsichtigter Kapitalismuskritik heraus antisemitische Stereotype entstehen, was den Antisemitismus so wirksam und attraktiv macht. Die anderen aus unserer kleinen Gruppe sehen es auch so. Schnell bildet sich um uns ein Kreis interessierter Zuhörer.

Unser Gesprächspartner ist Journalist bei der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen. Wir tauschen Karten aus und ich bitte ihn, mir seinen Artikel zu mailen, da ich annehme, dass er unser Gespräch in irgendeiner Form verwerten würde. Zurück in Frankfurt sehe ich dann, dass das nicht der Fall ist.

Skandal und Skandalisierung

In der Folge verstärkt sich immer mehr mein Eindruck, dass Aufklärung nur in Maßen gewünscht ist. Aufklärung über den Sinn einer „Ethnisierung des Kapitals“ eher nicht, mit der Antikapitalismus in Antisemitismus verwandelt wird (oder auch, nicht selten damit verbunden, in Antiamerikanismus). Damit wird Kritik an der herrschenden Wirtschaftsweise quasi unschädlich gemacht, abgelenkt auf eine diskriminierbare Minderheit oder auf eine „uns fremde“ Kultur. Das kommt der einheimischen Unternehmerschaft und ihren Interessen zupass, stört sie nicht bei der Kapitalverwertung und Gewinnerzielung. Weshalb reaktionäre und faschistische Parteien sich in ihrer Propaganda dieser Ablenkung immer gerne bedient haben und dafür Geld und Unterstützung von Unternehmerseite bekamen.

Statt über solche Zusammenhänge aufzuklären, sehen viele Medien ihre Hauptaufgabe darin, nun nach den Schuldigen für den Skandal auf der Documenta zu suchen. Die Empörung über den Skandal wird auch durch die Enttäuschung gespeist, dass der Ruf der Documenta als Weltausstellung zeitgenössischer Kunst auf deutschem Boden kaum rettbar beschädigt erscheint. Der Zentralrat der Juden in Deutschland verurteilt die Ausstellung von Hetzbildern im „Stürmer“-Stil auf das Schärfste. Er hat seit Monaten gewarnt. „Documenta der Schande“ oder gar „Antisemita“ heißt es in der Presse. Es gehe darum, dass die Gefühle von Jüdinnen und Juden verletzt worden sind. Es geht offenbar weniger darum, dass durch die betreffenden Bilder ein falsches Welt- und Gesellschaftsverständnis vermittelt wird, von dem nicht nur die jüdische Gemeinschaft betroffen ist, sondern das auch fatale Folgen für uns alle hat.

Typisch für das Ausklammern einer näheren Beschäftigung mit dem Bild des Kapitalisten als Jude oder des Juden als Kapitalist ist es, dass nicht selten in den Presseberichten überhaupt nicht von ihm die Rede ist, sondern nur allgemein von der antisemitischen Bildsprache auf dem Banner von Taring Padi, ohne zu sagen, worin sie genau besteht. Oder es wird sogar nur das zweite inkriminierte Element auf diesem Banner erwähnt: Eine Figur, die den israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad darstellen soll, in einer Reihe mit anderen, westlichen Geheimdienstmännern stehend. Sie hat als einzige von ihnen ein Schweinsgesicht – eine diskriminierende Darstellung, so wird es interpretiert, in der Tradition der „Judensau“, die als Karikatur, Flugblatt oder Plastik an der Außenwand christlicher Kirchen seit dem Mittelalter ihre menschenverachtende Wirkung entfaltet.

Die „Judensau“ an einer evangelischen Kirche der Lutherstadt Wittenberg muss nach einem kürzlich ergangenen Gerichtsurteil nicht abgenommen, sondern nur mit einem erklärenden Text versehen werden. Die Mossadfigur wird nach zwei Tagen mit dem gesamten Banner von Taring Padi vom Kasseler Friedrichsplatz entfernt – ohne erklärenden Text vor Ort. Bei aller Unterschiedlichkeit der Situationen könnte dies auch als zweierlei Maß gewertet werden.

Erklärungsversuche

In einem Artikel im Feuilleton der Frankfurter Rundschau beklagt der frühere Kasseler Oberbürgermeister und hessische Ministerpräsident Hans Eichel (SPD) am 19. Juli 2022 als „Zwischenfazit“ die Fokussierung auf die Antisemitismus-Debatte bei der documenta fifteen und nimmt das Künstler-Kollektiv Taring Padi in Schutz. Es habe sich ja öffentlich entschuldigt dafür, „Gefühle in Deutschland verletzt zu haben“ und dargestellt, wie und in welchem Zusammenhang das Banner „People‘s Justice“ zustande kam: „Das Banner ist 2002, nach Ende der Suharto-Diktatur in der jungen Demokratie entstanden. Es befasst sich mit dem Massenmord zu Beginn der Suharto-Diktatur 1965. Damals wurden mindestens 500 000 Menschen umgebracht, vor allem Kommunisten, aber auch andere Zivilpersonen. Beteiligt daran waren auch westliche Geheimdienste, wohl auch der israelische Geheimdienst Mossad, worauf das Banner deutlich hinweist. Taring Padi in ihrer Erklärung vom 24. Juni: ‚Wir bedauern, dass wir eine mögliche Beteiligung der Regierung des Staates Israel so völlig unangemessen dargestellt haben – und entschuldigen uns aufrichtig dafür. Antisemitismus hat weder in unseren Gefühlen noch in unseren Gedanken einen Platz‘. 2002 ist das Banner entstanden als Protest dagegen, dass auch die junge Demokratie keine Anstalten machte, die Verbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen vor Gericht zu bringen.“ („Jetzt geht es immer weniger um die Kunst, die auf der documenta fifteen gezeigt wird“, FR vom 19. Juli 2022)

Ist es Zufall, dass auch Eichel in seinem Artikel nur die Mossadfigur als Stein des Anstoßes erwähnt? Oder wäre es ihm als ehemaligem Finanzminister der rotgrünen Regierung unter Kanzler Schröder, der unter anderem mit dafür gesorgt hat, dass Unternehmenssteuern gesenkt wurden, eventuell peinlich gewesen, klarstellen zu müssen, dass ein Typ mit Raffzähnen zwar als Karikatur eines Unternehmers durchaus legitim sein kann, nicht aber als Karikatur eines Juden, der für das „raffende Kapital“ stehen soll? Diese Differenz hat Ignaz Bubis, später Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, seinerzeit trennscharf definiert, als er im Zusammenhang mit dem „Häuserkampf“ im Frankfurter Westend in den frühen 1970er Jahren, bei dem er als Immobilienkaufmann in der Kritik stand, sinngemäß sagte: „Ihr dürft mich Spekulant nennen, das beleidigt mich nicht. Wenn ihr mich aber einen ‚jüdischen Spekulanten‘ nennt, dann ist das Antisemitismus.“ Weil die Zugehörigkeit zu einer Religion oder Ethnie nichts wirklich aussagt über die Rolle, die jemand im Wirtschaftsleben spielt, und deshalb auch nicht mit ihr sprachlich oder begrifflich verknüpft werden soll. Die es dennoch tun, haben die Absicht, Sündenböcke zu konstruieren für Verhältnisse, die sie nicht verstanden haben oder die nicht verstanden werden sollen.

Eines kann sich Hans Eichel ebenso wenig erklären wie die meisten, die zum Skandal auf der Documenta Stellung nehmen: Wieso erst in Kassel jemandem etwas Problematisches an dem Banner von Taring Padi auffiel, während es doch schon einige Male international gezeigt worden ist: „Bei keiner Kunstausstellung in Südostasien oder Australien ist es als antisemitisch wahrgenommen worden. Taring Padi sind nicht Antisemiten, sie sind eher Klassenkämpfer und leiden in Indonesien unter den erstarkenden Islamisten. Diesen Eindruck muss man jedenfalls aus dem Interview mit der ‚Zeit‘ vom 7. Juli gewinnen.“

Spätestens hier hätte Eichel auffallen können, dass etwas nicht stimmt, wenn „Klassenkämpfer“ das Kapital als Jude darstellen. Dass dies dann eben doch ein Zeichen für die – unter Umständen nicht einmal bewusste – Übernahme eines seit dem 19. Jahrhundert bekannten judenfeindlichen Stereotyps ist. Die heutigen Mitglieder von Taring Padi, denen man Glauben schenken kann, beteuern, dass sie nicht wissen, wie die beiden inkriminierten Figuren damals auf das Banner gekommen sind und warum auch sie selbst das bisher schlicht übersehen haben.

Im „Zeit“-Interview sagen sie dazu: „Die einzige Erklärung, die wir dafür geben können, sind die Umstände der Entstehung dieses Banners… Es gab eine grobe Aufteilung in eine Seite, auf der das Gute, die für ihre Rechte kämpfenden Menschen dargestellt werden sollten, und eine, auf der das Böse gezeigt wurde. Dann aber konnte jeder malen, was er wollte. Einer malte Hunde, der andere half beim Ausmalen. So ist der Prozess kollektiver Arbeit. Im Rückblick sehen wir: Es gab keine Kontrolle, was die Beteiligten malten. Das soll nichts entschuldigen, ein Fehler bleibt ein Fehler.

Wir haben nicht begriffen, dass es sich um antisemitische Darstellungen handelt.

ZEIT: Warum nicht?

Taring Padi: Weil Antisemitismus vor zwanzig Jahren unter uns in Indonesien kein großes Thema war. Wir wussten kaum etwas darüber. Wir hatten in der Schule etwas über den Holocaust und die Nazi-Herrschaft gelernt, aber nichts zum Antisemitismus an sich. Das ist Teil unseres Lernprozesses jetzt, wenn wir über das Thema sprechen und reflektieren. Wir hätten nicht so nachlässig sein dürfen. Wir hätten einfühlsamer, umsichtiger sein müssen.

ZEIT: Sie wollten nicht bewusst provozieren?

Taring Padi: Nein. Wir haben die beiden Figuren nicht einmal wahrgenommen. Unser Thema ist Klasse, nicht Rasse.

ZEIT: Sie würden die Figuren nicht wieder malen?

Taring Padi: Selbstverständlich nicht. Diese zwanzig Jahre alten Bildelemente sind auch nicht konsistent mit unserem übrigen Werk. Auf all unseren Werken, die wir in Kassel sonst zeigen, ist keine einzige antisemitische Figur zu sehen.“ („Unser Thema ist Klasse, nicht Rasse“, Interview in der „Zeit“, 7. Juli 2022)

Bei meinem Gespräch mit Sri Maryanto, einem Mitglied der Gruppe, im Hallenbad Ost, in dem sie ihre sozialkritischen Werke ausstellt, sagt er, dass er überhaupt erst in Kassel erfahren habe, worum es sich bei der Boykottbewegung BDS handelt, für die er keine Sympathien hat. Es gehe darum, stets dazu zu lernen. Ich bestätige ihm, dass dies das Wichtigste sei.

Zum Stereotyp des „reichen Juden“

Warum hatte Taring Padi nicht begriffen, was an den beiden Figuren auf „People‘s Justice“ antisemitisch sein soll? Und warum fand bisher niemand etwas dabei, dass sie auf dem Banner prangen? Die Vermutung liegt nahe, dass zum Beispiel der „jüdische Kapitalist“ (oder der „reiche Jude“) als „Kollektivsymbol“ 1), außer vielleicht in Deutschland, wo die Sensibilität aus begreiflichen Gründen höher ist, so gut funktioniert, dass viele sich nichts weiter dabei denken und es als polemisches Bild oder zugespitzte Karikatur ohne Protest einfach hinnehmen, wenn sie ihm nicht insgeheim sogar zustimmen. Vor etlichen Jahren brachte eine Meinungsumfrage das Ergebnis, dass die Mehrheit der befragten Deutschen ein besonderes Verhältnis der Juden zum Geld für gegeben hält – wobei Geld ja oberflächlicherweise meist mit Kapital gleichgesetzt wird. Das ist in anderen Ländern kaum anders, auch in Indonesien nicht, obwohl dort nur ganz wenige Juden leben. Für das Vorurteil gegen eine Gruppe braucht es ja keine Anwesenheit der Gruppe. Wer das meint, sitzt noch der irrigen Vorstellung auf, dass Vorurteile etwas mit der Realität, mit dem Verhalten derjenigen zu tun hätten, die mit ihnen belegt werden, und nicht mit den Interessen und Bedürfnissen derer, die sie hegen.

Das traditionelle projektive Bild von den Juden ist es, dass sie Macht und Geld besitzen. Darin unterscheidet sich dieses Bild von den projektiven Bildern anderer religiöser oder ethnischer Minderheiten, die eher als Konkurrenten auf der gleichen sozialen Ebene angesehen werden. Auf Juden wird die Ablehnung und der Hass konzentriert, die eigentlich den Reichen und Herrschenden gelten, aber nicht gegen sie ausagiert werden können, weil dies riskant wäre und persönliche Nachteile mit sich brächte. Deshalb handelt es sich beim Antisemitismus auch nicht einfach um einen Rassismus wie jeder andere. Diese falsche Annahme gehört zu den Missverständnissen und Fallstricken in der seit längerem in der Bundesrepublik geführten Debatte um Postkolonialismus und Antisemitismus, die anläßlich der diesjährigen Documenta wieder aufbrandet.

In einigen Gesprächen bei meinem zweiten Besuch der Documenta habe ich nicht den Eindruck, dass wirklich verstanden wird, was es mit dem Anstößigen an dem Banner von Taring Padi auf sich hat. Auf dem Weg zum Hallenbad Ost sagen mir Entgegenkommende mit einem spöttischen Unterton, dort gebe es noch viele andere Schweinefiguren der Künstlergruppe zu sehen. Ich sage ihnen, die Nutzung von Tierbildern sei ein altes Mittel der Satire, für sich alleine und an sich ja nicht zu missbilligen. Es käme auf den Kontext und darauf an, wer oder was mit den Bildern etikettiert werden soll. Ein anderer Gesprächspartner meint, es gehe hier um eine Einschränkung der Kunstfreiheit und um Zensur – was vermutlich nicht wenige denken.

Immer wieder zeigt sich, dass es schwer fällt, zwischen begründeter und berechtigter Kritik, zum Beispiel an der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik auf der Westbank, und Ressentiments gegenüber „den Israelis“ oder gar „den Juden“ zu unterscheiden. Wenn es um antisemitische Bilder auf der Documenta geht, kommt bei manchen wie ein Reflex sofort die Rede auf Israel oder es wird der Verdacht geäußert, es handele sich wieder einmal um eine Instrumentalisierung des Antisemitismus-Vorwurfs.

Zu hoffen ist, dass der inzwischen eingerichtete Infostand der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, deren Leiter Meron Mendel sich engagiert für Aufklärung und Dialog auf der documenta fifteen einsetzt, hier etwas Abhilfe schafft.

Auch das erst nach dem Wechsel in der Geschäftsführung der Documenta endlich beauftragte fachwissenschaftliche Expertengremium wird hoffentlich klären können, ob die jetzt realisierte „Kontextualisierung“ einiger weiterer antisemitismusverdächtiger Exponate ausreicht und wie die Debatte fortgesetzt werden kann.

Zu hoffen ist, dass im weiteren Verlauf auch das stereotype Symbol des „jüdischen Kapitalisten“ nach allen Regeln der Kunst dekonstruiert wird, damit nicht weiter grotesk verkürzende Interpretationen wie die folgende zum Banner von Taring Padi in der Presse erscheinen: „An einer Stelle ist eine durch Kippa und Schläfenlocken als jüdisch charakterisierte, diabolische Figur mit Reißzähnen und blutunterlaufenen Augen zu sehen, auf ihrem Hut prangt eine SS-Rune. Auch weitere Werke wurden teils scharf kritisiert, etwa ‚Guernica Gaza‘, das die Zerstörung der baskischen Stadt Gernika durch die deutsche Luftwaffe 1937 zur israelischen Siedlungspolitik in Beziehung setzt.“ (Hanning Voigts: Ein Skandal mit Vorgeschichte, Lokalteil der Frankfurter Rundschau, 23./24. Juli 2022)

Hier wird ausschließlich nur eine Form des „israelbezogenen Antisemitismus“ angesprochen, der eine unterstellte Kollektivschuld der Deutschen auf das heutige Israel abwälzen will – nach dem Muster: “Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern macht, ist im Prinzip auch nichts Anderes als das, was die Nazis im Dritten Reich mit den Juden gemacht haben”. Diesem Satz stimmten bei einer repräsentativen Umfrage 27 Prozent der befragten Deutschen voll zu, nimmt man die teilweise Zustimmung hinzu sind es 55 Prozent 2). Das SS-Abzeichen auf dem Hut des „jüdischen Kapitalisten“ kann in diesem Zusammenhang als symbolische Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr verstanden werden. Aber nur diesen Bezug zu sehen und über die anderen, historisch älteren und bis heute auch in Deutschland wirksamen Bedeutungen des Bildes zu schweigen – das ist schon eine Verdrängungsleistung, die nicht zufällig erscheint.

Reminiszenz an die documenta 5

An dieser Stelle möchte ich eine persönliche Erfahrung einfügen. Am 30. Juni 2022 erschien in der Frankfurter Rundschau eine Kolumne von Klaus Staeck unter dem Titel „Der Esel und die Kunst“. In ihr bezog sich Staeck auf das 50jährige Jubiläum der documenta 5 und seine Beteiligung an ihr. Ich nahm das zum Anlass, folgenden Leserbrief an die Zeitung zu schreiben:

„Gut, dass Klaus Staeck in seiner Kolumne an die documenta 5 vor fünfzig Jahren erinnert und dabei auch an deren Abteilung ‚Politische Propaganda‘, für die er zusammen mit Richard Grübling und mir verantwortlich war. Wir zeigten damals im Katalog unter anderem ein antisemitisches Naziplakat, um über dessen Wirkmechanismen aufzuklären. Der ‚Drahtzieher‘ von 1924, den wir als Beispiel nahmen, ist dem auf der documenta fifteen von der Gruppe Taring Padi gezeigten Stereotyp des ‚Juden‘ in der Machart durchaus ähnlich: In das Bild eines Kapitalisten mit Bowlerhut, Anzug und hässlichen Gesichtszügen wird ein Zeichen eingebaut, das ihn zum Juden macht. Bei dem NS-Plakat ist es der Davidstern an der Uhrkette, bei der Darstellung von Taring Padi sind es die Schläfenlocken jüdischer Orthodoxer. Während beim ‚Drahtzieher‘ die demagogische Absicht überdeutlich wird, bestreitet die indonesische Gruppe einen bösen Willen, entschuldigt sich und verspricht, dazulernen zu wollen. Es handelt sich aber in beiden Fällen – trotz unterschiedlichem historischen und kulturellen Kontext – um eine umfunktionierte, abgefälschte und letztlich scheinhafte Kritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem, die allein der politischen Rechten nützt. Zu hoffen bleibt, dass der Skandal bei der diesjährigen documenta zur Aufklärung und nicht nur zu Schuldzuweisungen genutzt wird.“

Mein Leserbrief wurde leider nicht gebracht.

Nicht überzeugt haben mich auch einige Stellungnahmen von linker Seite, die unter der an sich richtigen Berufung darauf, dass man Bilder unterschiedlich deuten könne, keinesfalls etwas Antisemitisches auf dem Banner „People‘s Justice“ zu entdecken vermögen, sondern nur berechtigten Zorn auf die Verbrechen des Suharto-Regimes, die auch von der damaligen Bundesregierung gedeckt und unterstützt worden sind. So schreibt Werner Ruf beispielsweise: „Ein Gesicht mit Haifischzähnen, die Zigarre eines Kapitalisten im Mund, den Kopf bedeckt mit einem Hut, auf dem SS-Runen zu sehen sind. Steht es – wie in westlich-deutscher Sicht üblich – für den hassenswerten, raffgierigen Juden oder einen Börsenmakler, der symbolhaft für das Finanzkapital steht, das die Reichtümer und Bodenschätze der Länder der ‚Dritten Welt‘ an der Börse verhökert? Die SS-Runen am Hut zielen wohl auf die Menschenfeindlichkeit und Brutalität des angeklagten kolonialen Systems, als Charakteristikum für Juden können sie wohl kaum gedeutet werden. Das Interpretationsproblem verlagert sich also eher ins Auge des westlichen, genauer deutschen Betrachters, als dass es eine eindeutige Aussage über ‚das Judentum‘ wäre.“ („Antisemitismus auf der documenta fifteen“, Nachdenkseiten, 14. Juli 2022)

Rufs Interpretation, die ein Entweder-oder konstruiert („raffgieriger Jude oder Börsenmakler“) verkennt das Sowohl-als-auch, das für das antisemitische Stereotyp vom „jüdischen Kapitalisten“ charakteristisch ist und es so wirkmächtig macht – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.

Antikapitalismus = Antisemitismus?

Die inkriminierten Figuren auf dem Banner von Taring Padi werden von interessierter Seite dazu benutzt, um kapitalismuskritische Positionen mit Antisemitismus in Verbindung zu bringen oder gar gleichzusetzen und die konzeptionellen Ansätze der documenta fifteen in ein schlechtes Licht zu rücken. Als bezeichnendes Beispiel dafür sei hier eine Glosse von Rainer Hank ausführlich zitiert, die Anfang Juli 2022 in der FAZ erschienen ist:

„Wer ‚westliche Werte‘ vertreten will, wie es jetzt immer heißt, muss auch für den Individualismus des Westens kämpfen. Die Documenta jedenfalls ist ein Dokument des Antiliberalismus.

Statt einzelner Künstler gibt es auf der aktuellen Documenta ausschließlich Kollektive. Diese propagieren eine ökonomische Alternative des ‚globalen Südens‘ gegen den Individualismus, Elitismus und entfesselten Kapitalismus des ‚globalen Nordens‘. Individualismus und Kapitalismus gelten ihnen als die Ursachen für alles Böse in der Welt: Geldgier, Patriarchat, Kolonialismus. Die Opfer dieser Unterdrückung begehren nicht nur auf, sie bringen auch ein alternatives Konzept zur Darstellung, wie wir künftig besser leben und wirtschaften können.

Statt Kapitalismus propagiert die Documenta 2022 die Idee eines nachhaltigen Kreislaufs von Waren und Werten (genannt Ekosistem), welcher sich der mörderischen Ausbeutung der Ressourcen durch den Kapitalismus widersetzt.

Vermutlich wäre dies alles von der Öffentlichkeit mit antikolonialistischer Sympathie zur Kenntnis genommen worden, wäre es in der vergangenen Woche nicht zum Eklat gekommen. Sharing-Ökonomie, ‚Teilen statt Haben‘, ist ja auch hierzulande ein Lieblingskind der Kritiker des Raubtierkapitalismus. Erst die wüst antisemitischen Fratzen auf dem monumentalen Wimmelbild ‚People’s Justice‘ des Kollektivs ‚Taring Padi‘, von dem merkwürdigerweise vorher niemand gewusst hatte, führten zum Skandal und zur Wende. Darauf sieht man unter anderem Bankiers mit Zigarre und SS-Runen auf den Hüten und Agenten des israelischen Geheimdienstes Mossad.“

Die fälschliche „Vervielfältigung“ der antisemitischen Figuren soll wohl die Empörung beim Lesen steigern. Und dann kommt Rainer Hank auf den Punkt:

„(Linker) Antisemitismus und (linker) Antikapitalismus sind seit dem 19. Jahrhundert Geschwister. Verbinden sie sich mit dem Kollektivismus, dann kann am Ende niemand für den Schaden der Volks- und Kapitalistenverhetzung zur Verantwortung gezogen werden. Die Künstler geben sich arglos (‚wir meinen es nur gut‘), die Generaldirektorin der Documenta gibt sich machtlos, die zuständige hessische Ministerin nennt sich unzuständig, und die Kulturstaatsministerin nennt sich vertrauensselig. Der deutsche Steuerzahler erfährt am Ende, dass er, ohne gefragt worden zu sein, 42 Millionen Euro zahlen muss für eine Kampagne zur Abschaffung des Kapitalismus. Einzig bei den Honoraren und den üppigen Gehältern für das Documenta-Management scheint der Kapitalismus zugelassen zu sein. Aufsicht und Kontrolle (‚compliance und corporate governance‘) haben versagt.“ („Hanks Welt: Keiner schuld in Kassel“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, aktualisiert am 3. Juli 2022)

Diese polemisch aufgeladene Kritik in der angesehensten bürgerlichen Zeitung des Landes zeigt, dass die documenta fifteen durchaus einen Nerv getroffen hat, und dass der Antisemitismus-Skandal auch dazu dient, davon abzulenken.

In ähnlicher Weise, wenngleich mit anderem Schwerpunkt, greift Alan Posener in der mittlerweile dem rechten Spektrum der Publizistik zuneigenden Zeitung Die Welt die Documenta an:

„Die Documenta präsentiert den ‚globalen Süden‘ als gemeinschaftlich, gerecht und als Alternative zur westlichen Lebensweise. Das geht jedoch völlig an der Realität vorbei. Denn nur ohne Clan- und Sippenstrukturen gibt es mehr Entwicklung, Wohlstand und Freiheit.

Man muss den Macherinnen der Documenta 15 dankbar sein. Sie wollten auf der Kasseler Kunstschau die Sichtweise des ‚globalen Südens‘ präsentieren. Und es ist ihnen gelungen, auch renitenten Romantikern vor Augen zu führen, dass jene Sichtweise hoch problematische Aspekte hat, etwa den Antisemitismus.

Es wäre jedoch schade, wenn man nach dem Abhängen des übelsten Machwerks und dem Rücktritt der uneinsichtigsten Verantwortlichen zur Tagesordnung übergehen und den Beteuerungen des kuratierenden Kollektivs Glauben schenken wollte, die Sozialstruktur indonesischer Dörfer – zusammengefasst in dem Begriff ‚Lumbung‘ – fuße ‚auf Grundsätzen wie Kollektivität, gemeinschaftlichem Ressourcenaufbau und gerechter Verteilung‘ und sei damit eine progressive Alternative zur westlichen Lebensweise…

Wer unter dem Stichwort ‚Lumbung‘ zurück zur Sippe will, soll es dürfen. Doch im Gegensatz zum idealisierten Konstrukt von Sippe, das die Kuratoren der Documenta propagieren, gehört zur real existierenden Sippe nicht nur ‚Kollektivität‘, sprich Gruppenzwang, sondern meist auch Misstrauen und Hass gegen alle, die nicht zur Sippe gehören. Insofern ist der Antisemitismus der Documenta

kein Ausrutscher; er bringt vielmehr das Wesen der reaktionären Ideologie eines so verstandenen ‚globalen Südens‘ und seiner westlichen Bewunderer auf den Begriff.“ (Alan Posener: Die seltsame Sippen-Romantik der Documenta, Die Welt vom 21. Juli 2022)

Wie gut doch, wenn der Skandal auf der Documenta es möglich macht, den Antisemitismus als Sippen-Problem des Südens von uns wegzuschieben. Und damit zugleich seine enge historische Verschwisterung mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zu leugnen: Seine skandalöse Funktion als notwendiges Ablenkungsinstrument von deren Schattenseiten auf eine Gruppe angeblich an ihnen Schuldiger. 

Worum es wirklich geht

Ganz anders die Sicht der Präsidentin der Goethe-Institute, Carola Lentz. In einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, das am 26. Juli 2022 erschien, spricht sie darüber, wie der Streit um die Documenta in anderen Teilen der Welt wahrgenommen wird:

„Hierzulande fokussiert sich die Debatte nahezu ausschließlich auf den Antisemitismus-Vorfall. Im Ausland wird dies durchaus kritisch betrachtet. In der internationalen Presse wurde es weithin begrüßt, dass die Documenta ein innovatives Kuratorenteam wie Ruangrupa eingeladen hat. Und dort wird auch der kuratorische Ansatz Ruangrupas diskutiert, der auf die gesellschaftliche und soziale Relevanz von Kunst und Kultur abzielt, etwa auf Modelle des Teilens von Wissen und Ressourcen, auf eine kritische Überwindung des globalen kommerziellen Kunstbetriebs und die Idee, daraus tragfähige internationale Netzwerke zur Lösung globaler Probleme zu entwickeln – mit künstlerischen Mitteln. Das ist in den letzten Wochen leider zu kurz gekommen. Wir gehen davon aus, dass der dezentral angelegte kuratorische Ansatz von Ruangrupa international Einfluss auf Kunstpraktiken, Museumspolitiken und Kulturveranstaltungen ausüben wird.“

Und zur Notwendigkeit, die Diskussion zu versachlichen, sagt sie: „Weltweit sind wir mit großen globalen Herausforderungen konfrontiert: den Folgen der Pandemie, die keineswegs beendet ist, Klimawandel, Armut und daraus resultierenden Fluchtbewegungen, der Zunahme autoritärer Regime … All dies können wir nur gemeinsam bewältigen. Wir brauchen die Kreativität aus vielen unterschiedlichen kulturellen Kontexten und Gesellschaften. Die neuen geostrategischen Dynamiken befördern leider vielerorts eine Polarisierung der Debatten und die Einforderung von einseitigen Loyalitäten. Ich sehe darin Gefahren für die Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Ich wünsche mir, dass wir offene und ehrliche Diskussionen führen über Antisemitismus und Rassismus, über Kolonialismus und Völkermord – und dass diese Diskussionen von einer produktiven Haltung der Inklusion und des Willens zum Brückenbauen geprägt sind. Und von Respekt für Vielfalt.“ („Es ist wichtig, dass die Goethe-Institute in Russland geöffnet bleiben“, Frankfurter Rundschau vom 26. Juli 2022)

Auch die dann folgende Entdeckung weiterer als antisemitisch gewerteter Kunstwerke, die Forderungen nach Unterbrechung oder sogar Schließung der Documenta und nach personellen Konsequenzen ändern nichts daran, dass die durch den Antisemitismus-Skandal gegebene Chance zur Aufklärung und zum Dialog im Interesse von uns allen dringend genutzt werden sollte. Während der Laufzeit der Ausstellung und auch danach.

1) Kollektivsymbole sind allgemein verbreitete Denk- und Sprachbilder, mit denen sich „jeder ein Gesamtbild von der gesellschaftlichen Wirklichkeit bzw. der politischen Landschaft machen kann. Die Kollektivsymbole implizieren spezifische Deutungen der Wirklichkeit. Gedeutet wird sowohl von den Mitgliedern selbst als auch von Medien, die ihre Interpretationen den Gesellschaftsmitgliedern vermitteln.“ (Aus dem Wikipedia-Stichwort „Kollektivsymbolik“)

2) Ergebnis der „Mitte Studie“ 2018/29 der Friedrich-Ebert-Stiftung, zit. nach: „Antisemitische Einstellungsmuster in der Mitte der Gesellschaft“, www.endstation-rechts.de

6. August 2022

Über Bilder sprechen

Text und Thesen für die gemeinsame Veranstaltung mit Prof. Dr. Georg Bussmann: „Über Bilder sprechen. Von August Wilhelm Schlegels ‚Die Gemälde. Gespräch‘ bis zum Bildergespräch heute“ am 5. Februar 2020 in der Denkbar, Frankfurt am Main. Vorgestellt wurden die Methode des Bildergesprächs und langjährige praktische Erfahrungen mit ihr.

Bilder sagen mehr als tausend Worte, heißt es. Über Bilder zu sprechen erscheint deshalb als fast paradox. Dennoch geschieht es, um das, was Bilder sagen können, in Worte zu fassen und sich mit anderen darüber zu verständigen, soweit das möglich ist.

Auch Kunstwerke sind in diesem Sinn Anlass und Mittel zur sprachlichen Kommunikation. Sie gehen aber nicht auf in dieser Funktion. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens über sie hat der Kunsthistoriker Georg Schmidt einmal gesagt: „Das Wort kann nie mehr sein als günstigenfalls der Schlüssel, der die Pforte zum eigenen Erlebnis auftut. Kunst kann wohl missverstanden werden, aber es genügt nie, sie bloß verstanden zu haben.“ (Schmidt 1966, Motto)

Befreites Sehen

Die Formen des Sprechens über Bilder hängen eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. So bekommt das „Kunstgespräch“ in der Renaissance eine Rolle bei der Emanzipation von kirchlichen und weltlichen Autoritäten:

„Die Bilder, die über Jahrhunderte zur Vermittlung autoritärer Botschaften und dogmatischer Aussagen gedient haben, sind unversehens zum Medium öffentlicher Auseinandersetzung geworden… Nicht selten werden die Kunstgespräche der Renaissance unmittelbar vor den Bildern geführt. Die Dialoge über allgemeine Fragen der Kunst dokumentieren zugleich den konkreten Umgang mit den Kunstwerken selbst. Dabei entwirft das kultivierte Gespräch, das Künstler, Auftraggeber, Intellektuelle, Kunstkenner und lernbegierige Kunstfreunde versammelt, eine gesellschaftliche Utopie. Über mehr als ein Jahrhundert erscheint das Kunstgespräch als Dialog auf Augenhöhe, bis es um die Mitte des 16. Jahrhunderts wiederum alten (kirchlichen) und neuen (akademischen) Autoritäten unterstellt wird, die dann über lange Zeit das Recht in Anspruch nehmen werden, über die richtige Art der Darstellung und die angemessene Form der Betrachtung von religiösen und weltlichen Bildern zu befinden.

Kennzeichnend für das Kunstgespräch der Renaissance ist der offene Meinungsaustausch mit unterschiedlichen Positionen und gegensätzlichen Vorstellungen. Durch Rede und Gegenrede sollen Kunstfertigkeit der Künstler und Kunstverständnis der Betrachter gleichermaßen erweitert und vertieft werden.“ (Held 2016: 26 f.)

Das freie Sprechen über Kunst und vermittels der Kunst hat also etwas mit Befreiung zu tun – mit der Emanzipation von vorgegebenen Interpretationsmustern, von „autoritären Botschaften und dogmatischen Aussagen“. Es blüht auf in gesellschaftlichen Umbruchzeiten. So auch wieder im Zusammenhang mit der beginnenden Emanzipationsbewegung des Bürgertums inmitten der noch feudalen Gesellschaftsordnung.

In der Einladung zu dieser Veranstaltung zitieren wir aus einem Text des  Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer, der unter dem sarkastisch gemeinten Titel „Betreutes Sehen“ 2011 in der Zeitschrift „Merkur“ erschienen ist: „In Gesprächen über Kunst erprobten die Bürger des 18. Jahrhunderts, denen das Mitspracherecht in politischen und religiösen Angelegenheiten vorenthalten war, Tugenden einer noch nicht existierenden Demokratie. Gleichberechtigung aller Beteiligten (auch der Laien mit den Kennern, der Liebhaber mit den Gelehrten), freie Äußerung des subjektiven Urteils, zwanglose Verständigung mit den anderen.“

Entsprechend hat es der Kunsthistoriker Heinrich Dilly in einem Beitrag über den Umgang mit Bildern in der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss als „alten bürgerlichen Anspruch“ bezeichnet, „dass die Kunst – anders etwa als die Wissenschaft – ein Unternehmen ist, über das jeder sprechen kann und es auch tut“ (Dilly 1983: 299).

Dieser Anspruch datiert seit den Zeiten, als die Fürsten ihre Kunstsammlungen für das gebildete Publikum öffneten und allmählich die ersten Museen entstanden. Louis Marin schreibt in seinem Buch „Über das Kunstgespräch“ dazu: „Vom Jahr 1725 an veranstaltete die Académie Royale de Peinture et Sculpture im Salon Carré du Louvre regelmäßig Kunstausstellungen. In diesen kam von Seiten der Besucher der Wunsch nach Kommentaren zu den Bildern auf, die in Gesprächsform schließlich durch qualifizierte Personen erteilt wurden“ (Marin 2001: 72).

Das Kunstgespräch, wenn auch zunächst offenbar recht didaktisch geführt, stellte also gewissermaßen eine Frühform bürgerlicher Öffentlichkeit dar. Marin: „Dazu fügt sich jener andere ebenfalls historische Grund, dass das Kunstwerk in seiner Bewegung des ‚Autonomwerdens’ in gewissen Augenblicken und an gewissen Orten einen Diskurs verlangt, der es als solches, d.h. als Kunstwerk anerkennt“ (ebd.: 25) Das Kunstwerk braucht nicht nur den stillen Betrachter, der sich in es versenkt, sondern auch die kommunikative Auseinandersetzung mit ihm und über es, um zur Geltung zu kommen. Damit verbunden: Es ist potenziell für alle da, für ein breites Publikum, nicht nur für Gebildete und Experten.

August Wilhelm Schlegels „Gemäldegespräch“

In Deutschland finden sich die Anfänge dieses Gedankens in der Frühromantik, in der der Impuls der französischen Revolution ja noch zu spüren und die reaktionäre Wende der Spätromantik noch nicht vollzogen war. August Wilhelm Schlegels Buch „Die Gemählde. Gespräch“ erschien zuerst 1799. Hier geht es unter anderem darum, dass die subjektiven, emotionalen und unterschiedlichen „Eindrücke eines Kunstwerks“, das, „was der Betrachter mit hinzubringt“, ausgesprochen werden können, statt ihm einen „Maulkorb“ umzuhängen und ihn auf das „trockene Urteilen“ des „Kunstverständigen“ zu verweisen. Es geht also um die „Selbsttätigkeit“ von „Laien“.

August Wilhelm Schlegels Text beruht auf Gesprächen über Kunst, die im Kreis der Frühromantiker um die Gebrüder Schlegel in der Dresdner Gemäldegalerie geführt wurden, deren berühmtestes Bild die „Sixtinische Madonna“ von Raffael war.

Melanie Waldheim schreibt dazu in ihrem Buch „Kunstbeschreibungen in Ausstellungsräumen um 1800“: „Die königliche Gemäldegalerie in Dresden gehörte in der Entstehungszeit und bis heute zu den wichtigen Sammlungen alter Meister in Europa… Mit der Öffnung der Sammlungen stieg ihr Ansehen in der Öffentlichkeit. Anfangs konnte sich trotz des uneingeschränkten Zugangs nicht jeder das hohe Trinkgeld für die Wärter und Inspektoren leisten, was die Zahl der Besucher indirekt regulierte. Ab 1784 gab es regelmäßige Öffnungszeiten, zu denen jeder ohne Voranmeldung kommen konnte.“ (Waldheim: 50 f.)

Es handelt sich bei „Die Gemählde. Gespräch“ nicht um die literarische Wiedergabe von realen Gesprächen vor Bildern, sondern um eine idealtypische Konstruktion: Drei Personen, eine Frau und zwei Männer, unterhalten sich am Elbufer über ihre Eindrücke von Gemälden der Dresdner Galerie und vertreten dabei unterschiedliche Positionen: „Louise (spricht) aus subjektiver Erfahrung, Reinhold (ein Maler – R.D.) aus berufspraktischer Erfahrung und Waller aus kunsttheoretischer Kenntnis heraus“ (a.a.O.: 70). Die drei tauschen sich aus, widersprechen sich auch, aber es entsteht bei der Leserin und dem Leser nicht der Eindruck, dass die Spezifik und die Widersprüche ihrer Wahrnehmungen und Interpretationen nach einer Seite hin aufgehoben werden könnten.

Nach Melanie Waldheim lässt August Wilhelm Schlegels Text als „geschriebene Galerie“ (AWS: 77) „polyperspektivische Sichtweisen“ zu: „Dazu agiert das Gemäldegespräch auf allen drei Ebenen einer ‚geselligen Wechselberührung‘ (AWS: 20): Malerei – Plastik, Malerei – Literatur, Betrachter – Malerei und Betrachter – Betrachter.“ (Waldheim: 49)

Wozu das im Weiteren führen kann, stellt Melanie Waldheim so dar: „Die ‚gesellige Wechselberührung‘ geht über die Interaktion der Künste hinaus und umfasst ebenso die Interaktion der Betrachter. Das Museum, so argumentiert Louise gegen die Selbstbezogenheit von Kunst, ist ein Ort, in dem der Austausch stattfinden kann. ‚So arbeitete ja der Künstler immer nur für den Künstler; Eine Gemähldesammlung würde auf die andre gepfropft, und die Kunst fände, wie es leider oft der Fall ist, in ihrem eignen Gebiete den Ursprung und das Ziel ihres Daseyns. Nein, mein Freund, Gemeinschaft und gesellige Wechselberührung ist die Hauptsache.‘ (AWS: 20) Das bedeutet, dass Galerien nicht nur der Rezeption von Künstlern dienen, sondern darüber hinaus auch die Interaktion zwischen Betrachter und Kunstwerk ermöglichen und dem Kontakt mit anderen menschlichen Ausdrucksformen Raum geben, wie es für Sprache und Poesie maßgeblich ist. Die Kunst braucht einen Rezipienten und eine sprachliche Aneignung. Damit würde der Wirkungskreis über den Ort der Galerie und die Personengruppe der Künstler hinausreichen zu allen Menschen. Louise betont mehrfach die Aneignung der visuellen Kunst über Sprache und löst dies auch mit ihren Beschreibungen ein. Gleichzeitig vermittelt sie durch die Beschreibung die Kunst an weitere Personen.“ (a.a.O.: 78 f.)

Diese Position könnte man als frühe Begründung für den Sinn des freien Sprechens über Kunst sehen – gewissermaßen als Geburt des Bildergesprächs aus dem Geist der Frühromantik. Sie richtet sich zugleich gegen eine L‘art pour l‘art-Haltung bei den Künstlern wie gegen die Auffassung, es komme darauf an, individuell möglichst viel Bildungswissen über Kunst als „kulturelles Kapital“ anzusammeln, um in der Konkurrenz mit anderen einen „Distinktionsgewinn“ (Pierre Bourdieu) einzustreichen. Die „Aneignung der visuellen Kunst über Sprache“ soll, so das Ziel, gemeinsam und in gleicher Weise „allen Menschen“ möglich sein.

Melanie Waldheim beschreibt, welche „immense Auswirkung“ August Wilhelm Schlegels „Gemäldegespräch“ hatte. Der Museumsbesuch und die Auseinandersetzung mit den im Museum gezeigten Werken großer Meister wurden immer attraktiver: „Etliche Besucher pilgerten zu Raffaels Sixtinischer Madonna und notierten ihre Erlebnisse in Reisetagebüchern und Schriften.“ (a.a.O.)

Kleist und die „gegenseitige Belehrung“

Auch Heinrich von Kleists 1810 in den von ihm herausgegebenen Berliner Abendblättern veröffentlichter Artikel „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ bezog sich, zumindest indirekt, auf Schlegels „Gemäldegespräch“. Grundlage für den Artikel waren Unterhaltungen von Besucherinnen und Besuchern in der Ausstellung von Caspar David Friedrichs Bild „Mönch am Meer“ in der Berliner Akademie, die Kleists Dichterkollegen Clemens von Brentano und Achim von Arnim notiert hatten.

Am Schluss von Kleists Text steht eine eklatante Wendung hin zum Betrachter, zu dessen Subjektivität und Souveränität – und zur Betrachtung als aktiver Aneignung von Kunst. Für seine Wahrnehmungen und Fragen vor dem Bild sucht Kleist nicht etwa Rat und Hilfe bei Kunstexperten oder Aufklärung durch das Lesen gelehrter Bücher. Vielmehr will er sich von anderen Betrachtern des Bildes dadurch Anregungen holen, dass er ihren Kommentaren zuhört: „Doch meine eigenen Empfindungen, über dies wunderbare Gemälde, sind zu verworren; daher habe ich mir, ehe ich sie ganz auszusprechen wage, vorgenommen, mich durch die Äußerungen derer, die paarweise, von Morgen bis Abend, daran vorübergehen, zu belehren.“

Den Schritt zum Bildergespräch, zum offenen Diskurs mit anderen, wagt Kleist noch nicht. Immerhin ist es ein virtueller oder imaginärer Austausch mit dem Ziel der Klärung von Positionen, den er sich vorstellt. Damit würde ein Bild der Einsamkeit, vor dem der Betrachter zunächst einsam steht, zum Mittel der Stiftung eines sozialen Zusammenhangs. Dieser könnte auch das Gefühl aufheben oder mildern, das Kleist – und nicht nur er – vor dem Bild empfindet: „Der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis zu sein“. Nichts könne „trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt“, schreibt er. Indem Kleist beschließt, „von Morgen bis Abend“ anderen dabei zuzuhören, was sie zu dem Bild zu sagen haben, könnte er seine eigene Isolation, seine Stellung in der Welt potenziell zumindest eine Zeit lang aufheben oder aufgeben.

Voraussetzung dafür ist, dass die vorübergehenden Betrachter des Gemäldes ihre Empfindungen und Wahrnehmungen nicht für sich behalten, dass sie sie den anderen – ihren Partnerinnen und Partnern – preisgeben und dabei darauf vertrauen, ernst genommen zu werden, weil sie die Erfahrungen der anderen auch ernst nehmen. Die gegenseitige Bereicherung und „Belehrung“, die dabei entsteht, hat nichts von der autoritativen Wissensvermittlung durch Experten oder trockener Gelehrsamkeit an sich. Alle können und dürfen etwas sagen und einander zuhören. Auch derjenige wird geduldet, der, wie Kleist, allen anderen nur zuhören möchte, bevor er seine eigene Meinung „ganz auszusprechen wagt“. Dies entspricht dem Ideal eines demokratischen Umgangs miteinander, das Kleist hier, ohne es bewusst zu wollen oder vielleicht auch nur zu ahnen, formuliert hat.

Wider die „kunsthistorische Halbbildung“

Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Ansätze zu einer freien Kommunikation der Besucherinnen und Besucher in Galerien und Museen zurückgedrängt zugunsten des Anspruchs der Häuser auf fachliche Führung. Die Kunsthistorikerin Gabriele Sprigath, die in ihrem Buch „Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen“ ein Konzept für Bildergespräche und Erfahrungen damit dargestellt hat,  beschreibt in ihren Veröffentlichungen, wie die Kunstgeschichte als „späte Wissenschaft“ sich, um ihre Wissenschaftlichkeit zu beweisen, auf positivistische Verfahren, ikonografische Vergleiche und die Konstruktion von Kunstepochen und Stilen verlegte. Die Seite der Rezeption wurde vernachlässigt, die subjektive Wahrnehmung von Kunstwerken durch ihre Betrachterinnen und Betrachter galt als eher unwissenschaftlich. Die „Gefühlswirkung der Kunst“ (Sprigath) blieb außerhalb des Horizonts der Kunsthistoriker, die auch die Aufklärung des Kunstpublikums über Kataloge und Führungen in die Hand nahmen. Joachim Penzel bezeichnet diese Entwicklung als „Monopolisierung des lauten Sprechens über Kunstwerke“ durch die Experten (Penzel 2007: 249).

Damit einher ging die einseitige Orientierung der Kunstvermittler auf die Kunstgeschichte, im engeren Sinn auf die Stilgeschichte als das, was zum Verständnis eines Kunstwerks angeblich unabdingbar notwendig sei. Heinrich Wölfflin, der an das „Erklären von Kunstwerken“ (so der Titel eines Aufsatzes von ihm) die strengsten Maßstäbe anlegte, hat in seinem Text „Über kunsthistorische Verbildung“ von 1909 dazu gesagt: „Kunstgeschichte kennen gilt als gleichbedeutend mit Kunst verstehen. Und eben das ist falsch, und das Laienpublikum kommt in ein ganz schiefes Verhältnis zur Kunst, indem es die Vorteile seines natürlich-unhistorischen Standpunktes preisgibt, ohne doch den andern Standpunkt, den fachmännisch-historischen, gewinnen zu können.“ (Wölfflin 1961: 45) Was so bestenfalls entstehe, sei „kunsthistorische Halbbildung“ und „eine Art von falschem Kennertum“ (a.a.O.: 48).

Der „natürlich-unhistorische Standpunkt“ von im Sinne Wölfflins unverbildeten Kunstbetrachtern und Kunstbetrachterinnen bezieht Bilder dagegen unmittelbar auf die Gegenwart, auf eigene Bedürfnisse und Interessen, lässt Bilder auf sich wirken, statt sich von vorneherein an einem Bildungskanon zu orientieren.

Wölfflins Unterscheidung zwischen dem kunstwissenschaftlichen Blick und dem des Laienpublikums ist zwar von der Kunstpädagogik aufgenommen worden, hat aber bis heute wenig Konsequenzen im Kunst- und Kulturbetrieb. Man nehme nur die dickleibigen Ausstellungskataloge, in denen Fachwissen ausgebreitet und popularisiert werden soll. Oder die Vielzahl von Führungen in Museen und Galerien, bei denen der Standpunkt der Laien überhaupt nicht zur Geltung kommt, wie man an der Stummheit des Publikums beobachten kann. Nur bei dialogischen Formen des Umgangs mit Kunst könnte das anders sein.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich solche Formen des Dialogs über Kunst erneut im Rahmen der Volkserziehungs- und Kunsterziehungsbewegung. Hier ist als Pionier Alfred Lichtwark zu nennen, der als Leiter der Hamburger Kunsthalle 1886 mit Schulklassen „Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken“ machte. Auch bei der Führung von Gruppen aus der Industriearbeiterschaft durch die Museen wurde seine – allerdings noch sehr lernzielorientierte – Methode des angeleiteten gemeinsamen Sprechens über Kunst angewandt.

Dass das Kunst- oder Bildergespräch im Rahmen reformpädagogischer Ansätze und Praxen vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Zeit aufgegriffen worden ist, steht zu vermuten. Quellen dazu sind mir leider nicht bekannt.

Kunst als Lebensmittel für alle

Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint das Bildergespräch als explizite Methode erst im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben reformpädagogischer Ansätze in den 1960er Jahren – dann auch in Folge der 68er-Bewegung – erneut praktiziert worden zu sein. Zu nennen sind hier vor allem der Kunsthistoriker Max Imdahl, der mit Arbeitern von Bayer Leverkusen Gespräche über moderne Kunst führte (vgl. Imdahl 1982) und, wie schon erwähnt, Gabriele Sprigath, an deren Methode sich auch die Frankfurter KunstGesellschaft bei ihren Bildergesprächen seit den 1990er Jahren orientierte (vgl. Sprigath 1986 und Diederich 2014).

In der DDR gab es Ansätze zu Bildergesprächen mit Betriebs- und Besuchergruppen bei den zentralen Kunstausstellungen in Dresden, bei denen Bilder direkt auf die Lebens- und Arbeitssituation der Beteiligten bezogen wurden. In mindestens einem Museum gab es ein „Kunstkabinett“ mit methodischen Bildergesprächen für Schülerinnen und Schüler.

Zum Sinn des freien Sprechens über Kunst hat Gabriele Sprigath angemerkt: „Erst im Gespräch kann sich der Betrachter seine persönliche Beziehung zum Bild in Form von Assoziationen bewusst machen. Hat er dazu keine Gelegenheit, dann werden ihm auch die dabei hervortretenden Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Erwartungen nicht bewusst, die er stattdessen weiter verinnerlicht. Die im Gespräch realisierte Phantasietätigkeit, in der der Betrachter sich ein eigenes Stück Selbstbewusstsein erobert, findet nicht statt.“ (Sprigath 1986)

Erkenntnistheoretische Begründungen und Rechtfertigungen für eine Methode, die vom Subjektiven, von den unterschiedlichen Perspektiven und Betrachtungsweisen ausgehend zum Objektivierbaren und Objektiven voranschreiten will, gibt es selbstverständlich auch. Als Beispiel sei hier ein Diktum von Friedrich Nietzsche zitiert: „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein.” (Nietzsche 1887)

Die Methode des Kunst- oder Bildergesprächs ist, trotz aller inzwischen erfolgten Aufnahme dialogischer Elemente in die Museumspädagogik und die Kunstvermittlung, nach wie vor eher randständig und erscheint im gegenwärtigen Kulturbetrieb als fast schon etwas subversiv. Ihr geht es um die „freie Assoziation“ in des Wortes doppelter Bedeutung: Als Freisetzung von Wahrnehmungen und Interpretationen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die nur moderiert, aber nicht auf ein schon vorgegebenes Ergebnis hin geführt werden. Und als gemeinsame Aktivität einer Gruppe, die der demokratischen Forderung „Kultur für alle“ nachkommt. Dieser emanzipatorische Anspruch widerspricht dem Bemühen von verschiedenen Seiten, die Interpretationshoheit über kulturelle Erzeugnisse zu behalten.

Dabei geht es auch um die Rolle der Kunst in der und für die Gesellschaft. Jürgen Habermas hat das einmal so beschrieben: Sobald Kunst nicht mehr dem Prinzip L‘art pour l‘art folge, sondern „auf Lebensprobleme bezogen“ werde, höre sie auf, eine Sache der „Expertenkultur“ zu sein. „Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretation der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen…“ (Habermas 1980: 50).

Wenn Kunst nicht mehr als Kulturgut für eine Minderheit der Wissenden und Gebildeten betrachtet wird, sondern als „Lebensmittel“ für jede und jeden, wenn die Formen ihrer Aneignung dem entsprechen, dann kann sich ihr kritischer und potenziell utopischer Gehalt besser entfalten. Ganz im Sinne von Walter Benjamins Bestimmung: „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“ (Benjamin 1955: 170).

Über den durch „ästhetisches Denken“ und Wahrnehmen geförderten „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) schreibt der Kunstwissenschaftler Wolfgang Welsch: „Wer durch die Schule der Kunst gegangen ist und in seinem Denken der Wahrnehmung Raum gibt, der (…) lockert die Sperren eingefahrener Wirklichkeitsauffassungen zugunsten der Potentialität des Wirklichen und entdeckt Alternativen und Öffnungen ins Unbekannte.“ (Welsch 1990: 76).

Das Bildergespräch kann dazu einen Beitrag leisten.

Literatur:

Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1955

Reiner Diederich: Zur Geschichte der KunstGesellschaft, in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Band 16. Schwerpunkt: Die Wirklichkeit der Kunst. Das Realismus-Problem in der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit. V&R unipress GmbH, Göttingen 2014 [Link]

Heinrich Dilly: Die Kunstgeschichte in der Ästhetik des Widerstands, in Alexander Stephan (Hrsg.): Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M. 1983

Jürgen Habermas (1980): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, zit. nach Martin Zülch. Vom Eigensinn zum Hintersinn. Zur erkenntnisstiftenden Dimension der ökologischen Lesart, in: Kunst + Unterricht, Heft 150/1991, S. 19

Heinz Georg Held: Die Leichtigkeit der Pinsel und Federn. Italienische Kunstgespräche der Renaissance, Wagenbach Verlag, Berlin 2016

Max Imdahl: Arbeiter diskutieren moderne Kunst – Seminare im Bayerwerk Leverkusen, Edition Kunstbuch Berlin im Rembrandt Verlag, Berlin 1982

Ders.: Diskussionen über Malerei – Seminare mit Vertrauensleuten der Bayer AG Leverkusen, Bayer AG 1988

Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, in: Berliner Abendblätter, 13. Oktober 1810

Louis Marin: Über das Kunstgespräch. Diaphanes Verlag 2001

Friedrich Wilhelm Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, 1887 – Kapitel 5, Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?

Joachim Penzel: Der Betrachter ist im Text. Berlin 2007

Heinz Schlaffer: Betreutes Sehen, Merkur Heft 744, 2011

August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde. Gespräch, Dresden 1996

Georg Schmidt: Umgang mit Kunst. Ausgewählte Schriften, Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1966

Gabriele Sprigath: Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen. Marburg 1986

Melanie Waldheim: Kunstbeschreibungen in Ausstellungsräumen um 1800, Würzburg 2014

Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Reclam Universal Bibliothek Nr. 8681, Stuttgart 1990

Heinrich Wölfflin: Aufsätze. Das Erklären von Kunstwerken. Reclam Nr. 8490, Stuttgart 1961


Anhang

Das Bildergespräch als angeleitetes Gruppengespräch über ein Bild

Reiner Diederich

1. Das Bildergespräch geht von der Anschauung aus, um zu einem Verständnis von Kunstwerken oder anderen visuellen Erzeugnissen zu gelangen. Das bedeutet „anschauendes Denken“ – vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten – anstelle begrifflicher Deduktion und Definition, z.B. durch Zuordnen eines Bildes zu einem „Stil“.

2. Das Bildergespräch setzt das subjektive Urteil über ein Kunstwerk frei, das auch zunächst negativ sein kann. Danach sind die Teilnehmenden aufgefordert, ihr Urteil zu begründen. Dies geht zwanglos in die Beschreibung des Bildes und später in seine Interpretation über.

3. Das Bildergespräch negiert nicht – wie bei Führungen und anderen Formen der Kunstvermittlung meistens üblich – die individuelle emotionale Wirkung von Bildern, um stattdessen Bildungswissen über Kunst zu vermitteln.

4. Der Zugang zu Kunstwerken oder anderen visuellen Erzeugnissen wird beim Sprechen über sie für diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer erleichtert, die im Umgang mit Bildern nicht so geübt sind.

5. Es handelt sich um eine Art Selbstermächtigung von Laien inmitten der „Expertenkultur“, denn auch die das Bildergespräch Moderierenden müssen nicht Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftler sein. Hingegen sind gruppenpädagogische Fähigkeiten und Erfahrungen in nicht-direktiver Gesprächsführung unabdingbar, um Bildergespräche gut anleiten zu können.

6. Zum Verständnis des Bildes notwendig erscheinende Informationen werden von den das Gespräch Moderierenden erst gegeben, nachdem die Gruppe zunächst einmal durch freie Assoziation und Reflexion versucht hat, sie sich selbst zu erarbeiten.

7. Kunstwissenschaftliche Erkenntnisse und Interpretationen können zum Schluss eingebracht werden, um sie mit den Ergebnissen der Gruppe zu vergleichen.

8. Das Bildergespräch ist eine Form der aktiven Aneignung von Kunst in einer Gruppe anstelle der konsumtiven Wissensvermittlung bei Führungen oder durch individualisierende Audioguides.

9. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vergegenwärtigen sich das Bild, d.h. sie beziehen es unwillkürlich auf ihre eigene Situation und die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Dies soll im Verlauf des Gesprächs bewusst gemacht werden. Dabei kann auch der kritische und utopische Gehalt von Kunst zur Geltung und Wirkung kommen – im Sinn einer Entwicklung des Blicks für andere, neue Möglichkeiten.

10. Bei der gemeinsamen Interpretation von Bildern stellen sich unterschiedliche Sichtweisen heraus. Sie sollen festgehalten, betont und nicht zugunsten „wissenschaftlich gesicherter“ Erkenntnisse aufgegeben werden. Zumal sie auch neue Aspekte enthalten können.

11. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Sinnzuschreibungen können und sollen nebeneinander bestehen bleiben. Das ist damit zu rechtfertigen, dass Bilder mehrdeutig sind, mehrere Deutungen zulassen, was aber nicht heißt, dass sie beliebig deutbar wären. Alle Deutungen müssen sich am Bild bewähren, d.h. aus ihm begründbar sein, was rein subjektives „Hineindeuten“ ausschließt.

12. Eine wesentliche Erkenntnis für die an Bildergesprächen Teilnehmenden ist es, dass andere anders und anderes sehen als man selbst, ohne dass es nach „falsch“ und „richtig“ sortiert werden könnte. Es gibt darüber auch keine sinnvolle Mehrheitsentscheidung. Multiperspektivisches Sehen kann sich im günstigen Fall als Bereicherung aller herausstellen.

13. Das Bildergespräch fördert das Bewusstsein für Ambivalenzen und Widersprüche. Damit steht es gegen ein Denken in Stereotypen, Vorurteilen und Dogmen und gegen das sich Einschließen in Informations- und Meinungs-Blasen.

14. Auf seine spezifische Weise stellt das Bildergespräch eine Einübung in demokratisches Denken und Verhalten dar.

15. Das Bildergespräch als Methode veranschaulicht und ermöglicht, dass Bilder immer wieder neu gesehen werden.

Ein Schritt aus dem „Zeitalter der Extreme”. Über Wolfgang Mattheuer

An dem Leipziger Maler Wolfgang Mattheuer und seinem Werk scheiden sich die Geister. Nicht erst seit dem Ende der DDR. Vorher galt er im Westen als stiller Dissident, dessen vieldeutige Symbolbilder sich immer haarscharf an der Grenze des von der Partei- und Staatsführung noch eben Tolerierten bewegten. Nachher als einer der Hof- und Staatskünstler, die, wie Bernhard Heisig, Willi Sitte und Werner Tübke, Westdevisen erwirtschaften halfen und dafür Privilegien genossen. Das hatte auch mit dem Versuch zu tun, die im zweiten deutschen Staat der Nachkriegszeit erbrachten kulturellen Leistungen aus dem Gedächtnis zu löschen, und vor allem damit, sich nach der „Wiedervereinigung” unliebsame Konkurrenz auf dem Kunstmarkt und im Kulturbetrieb vom Leib zu halten.

Zupass kam denen, die Mattheuers Werk in den 1990er Jahren nicht zur Kenntnis nehmen wollten, dass der Künstler sich in einem Leserbrief an die „rechtskonservative” Wochenzeitung „Junge Freiheit”, die vom nordrhein-westfälischen Verfassungsschutz beobachtet wurde, für deren Gedanken- und Publikationsfreiheit eingesetzt hatte. Wie ja auch versucht worden ist, das Wandbild zur deutschen Geschichte von Bernhard Heisig im Berliner Reichstagsgebäude mit der Ausgrabung des Eintritts des Neunzehnjährigen in die Waffen-SS zu verhindern, da die SED-Mitgliedschaft als Argument nicht reichte

Für viele schien sich so noch nachträglich die beliebte These aus den Hoch-Zeiten des Kalten Krieges zu bewahrheiten, dass die gegenständliche und figürliche Kunst der DDR und ihre Protagonisten Anklänge und Affinitäten zu den kulturellen Vorstellungen der rechten Antimodernisten und zur Nazizeit aufweisen würden. Schließlich war doch auch Willi Sitte Schüler des NS-Malers Werner Peiner gewesen. Die Absage seiner lange geplanten Ausstellung im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum 2001 wurde allerdings mit angeblich neuen Vorwürfen wegen Sittes Tätigkeit als Vorsitzender des Verbandes bildender Künstler der DDR begründet.

In diesem Jahr (2002) ist Wolfgang Mattheuer 75 Jahre alt geworden. Für einen Künstler seines Ranges normalerweise Anlass für eine große Retrospektive in einem der führenden Museen des Landes. Doch außer einer Ausstellung der Kunstsammlungen Chemnitz mit 130 Gemälden, Zeichnungen und Plastiken aus fünf Jahrzehnten, die dann noch nach München an die Akademie der Schönen Künste wanderte, gab es nur Fernsehsendungen als größere öffentliche Würdigungen. Die „Zeit” illustrierte einige Wochen lang ihre Seiten mit farbigen Abdrucken von Mattheuer-Gemälden, und die Kunstzeitschrift „art” brachte in ihrem Juliheft ein reich bebildertes Porträt des Künstlers, in dessen redaktionellem Vorspann es hieß: „Wolfgang Mattheuer, der streitbare Realist aus Sachsen, hat in Ost und West für Kontroversen gesorgt. Als einziger Maler wurde er von beiden deutschen Staaten hoch dekoriert.” In der Tat erhielt er 1984 den Nationalpreis der DDR und neun Jahre später das Bundesverdienstkreuz.

Leben, Werk, Wirkung

Wolfgang Mattheuer wird 1927 im vogtländischen Reichenbach, einem kleinen Industriestädtchen des Mittelgebirges, als Sohn eines Buchbinders geboren. Nach Kriegsverwundung und Flucht aus sowjetischer Gefangenschaft besucht er die Kunstgewerbeschule in Leipzig. Während der Lehrzeit als Lithograf entstehen erste Aquarelle und Druckgrafiken. An der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert er 1947-51 Buch- und Schriftgrafik. Zum Maler und Grafiker entwickelt er sich als Autodidakt. 1956-74 Lehrtätigkeit an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. In den 60er Jahren halten sich das grafische und das malerische Werk etwa die Waage. Anfang der 70erJahre entdeckt Mattheuer für sich auch die Plastik als Ausdrucksmittel. Bis heute (2002) besteht er mit handwerklichem Stolz darauf, ein „Bildermacher” zu sein, will nicht „im Topf der Maler verrührt werden”.

Seit 1958 nimmt Mattheuer an allen zentralen Kunstausstellungen der DDR in Dresden teil. 1977 ist er zusammen mit Bernhard Heisig, Willi Sitte und Werner Tübke auf der 6. documenta in Kassel mit Bildern vertreten. 1981 ist er an der Ausstellung „Meisterwerke deutscher Kunst” in Tokio beteiligt; 1982-84 an der Ausstellung „Zeitvergleich –  Malerei und Grafik aus der DDR”, die in mehreren Städten der Bundesrepublik gezeigt wird; 1984 als Vertreter seines Landes an der 41. Biennale in Venedig; 1986-87 an der Ausstellung „Menschenbilder – Kunst aus der DDR” in Bonn, Münster und Saarbrücken. Nach 1989 wagt kein westdeutsches Museum eine repräsentative Einzelausstellung zum Werk des Künstlers.

Auftragskunst war nie Mattheuers Sache. Es gibt keine Wandbilder von ihm, und seine Plastiken standen zu DDR-Zeiten nicht auf öffentlichen Plätzen. Sein Bildbeitrag für den Palast der Republik, „Spaziergang am Abend”, zeigt ihn und seine Frau, die Malerin Ursula Mattheuer-Neustädt, auf einer Anhöhe mit Blick über Leipzig. Das steinerne Häusermeer und die Luftbelastung durch rauchende Schlote werden nicht geschönt.

Mattheuers Credo: „Der Bildermacher kann sich nicht heraushalten aus dem Streit seiner Zeit. Er muß den Mut haben, sich einzumischen, auch wenn er dabei Narben und Wunden davonträgt.” Gern erzählte er die Anekdote, wie er Kurt Hager durch eine Ausstellung seiner Bilder und Plastiken führte, gespannt auf kritische oder ärgerliche Reaktionen des Oberzensors. Als die ausblieben, habe er sich gefragt, ob er alles falsch mache. Nach 30jähriger Mitgliedschaft trat Mattheuer im Oktober 1988 aus der SED aus.

Der Kunsthistoriker Eckhart Gillen schreibt im Katalog der von ihm kuratierten Berliner Ausstellung „Deutschlandbilder – Bilder aus einem geteilten Land” (1997), in der die DDR-Kunst bezeichnenderweise nur am Rande vorkam, Mattheuer habe „gesellschaftliche Konflikte im ‘real existierenden Sozialismus’ auf die metaphorische Ebene biblischer und mythologischer Gleichnisse verschoben, um so das kritische Potential, das im Publikum seiner Ausstellungen vorhanden war – wenn auch in Parabeln verschlüsselt –, zu artikulieren und dadurch von realen Protestaktionen abzulenken. Heute mag man diese Bilder als seismographische Aufzeichnungen der Beben deuten, die die geräuschlose Implosion des Systems 1989 anzeigten.” (Gillen 1997, S. 196)

Zum Vorwurf der Sklavensprache, der Mattheuer wie seinen Künstlerkolleginnen und -kollegen im Westen gemacht wurde und wird, sagt Eduard Beaucamp, der als beinahe einsamer Rufer seit Jahrzehnten im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen” jede Gelegenheit nutzte, die „Leipziger Schule” und andere Ostkünstler gegen Zumutungen von allen Seiten zu verteidigen: „Mattheuer ist Erzähler, Moralist und Philosoph des Alltäglichen … Aus keinem anderen Werk erschließen sich Landschaft, Leben und Mentalität der DDR besser… Mattheuer war eine bildnerische Instanz, ein öffentliches Gewissen in der DDR … Mattheuer schuf realistische, mythologische und literarisch verkleidete Sinnbilder … Von plattem Realismus keine Spur. Dennoch bleibt Mattheuer modemer Realist, weil er die Praktiken, die Montagen, Surrealismen, Phantasmen und Romantizismen auf die Wirklichkeit anwendet und die gesellschaftlichen Verhältnisse mit ihrer Hilfe befragt, auseinandernimmt und kritisch neu konstruiert.” (Mattheuer 1999, S. 6f.)

Die Bandbreite der positiven Rezeption von Mattheuers Werk im Feuilleton der letzten Monate – vom „Neuen Deutschland” bis zur „Jungen Freiheit” – war überraschend. Bemerkenswert ist vor allem ein kurzer Artikel in der „Frankfurter Rundschau” von Peter Iden, der die DDR-Kunst nicht mag, mit Ausnahme Mattheuers, sich aber bei einer von der KunstGesellschaft Frankfurt a. M. im Herbst 2001 veranstalteten Diskussion mit Eduard Beaucamp dafür aussprach, sie dem westdeutschen Publikum endlich zu zeigen, damit es sich ein eigenes Urteil bilden könne. Iden wiederholte die Legende, Mattheuers berühmtes Bild „Hinter den sieben Bergen” von 1973, eine schmerzlich ironische Paraphrase des Delacroix-Gemäldes „Die Freiheit führt das Volk” (1830), habe seinerzeit die Freiheit hinter der Westgrenze gemeint und sei in der DDR auch so verstanden worden. Anfang der 1990er Jahre hat Mattheuer das Motiv noch einmal aufgegriffen. Das neue Bild heißt, der neuen Grenzenlosigkeit entsprechend: „Hinter den 7×7 Bergen”. Auf die Frage nach dem Sinn dieser Reprise hat er, als das Bild 1997 in der Galerie Schwind in Frankfurt a. M. gezeigt wurde, kurz und trocken geantwortet: „Auch die westliche Freiheit ist eine Fata Morgana”.

Mattheuer beharrt auf der Aktualität seiner Bilderfindungen. Zum „Mann mit Maske”, einem von ihm vielfach variierten Motiv, das im Westen immer auf die Verhältnisse unter der Diktatur bezogen wurde, meinte er nach der „Wende”: „Das Maskentragen in der DDR war einförmig, jetzt ist es pluralistisch”.

Im „Neuen Deutschland” schreibt Peter H. Feist in seinem Geburtstagsgruß über Mattheuers Kunst: „Die hochgradige Verunsicherung, wie die Mitteilungen des Autors zu verstehen seien, machten sie in der DDR auffällig und wirksam, weil in der Regel Sachverhalte eindeutig beurteilt wurden und weil das so eindringliche Erscheinungsbild der Werke erkennen ließ, dass es Mattheuer um eine ‘Botschaft der Bilder’, um einen Appell ans Umdenken ging. Beides ist heute, da wir mit gefährlichen Einteilungen der Welt in Gut und Böse konfrontiert werden … nicht weniger wichtig”. Mattheuer verhehle „weder seine Abscheu gegenüber dem Kapitalismus, die ihn einst zum Sozialisten werden ließ, noch seine Enttäuschung über westdeutsche Siegermentalität nach der von ihm ersehnten Vereinigung” („Fliegender Nachbar”, 6.4.2002).

In der „Jungen Freiheit” bringt Doris Neujahr den Künstler wegen seines Bildtitels „Verlust der Mitte” assoziativ mit dem gleichnamigen Buch Hans Sedlmayrs in Verbindung, das in den 1950er Jahren alle konservativen bis reaktionären Ressentiments gegen die „moderne Kunst” versammelte. Sedlmayr habe „den künstlerischen Abstraktionismus als Fortsetzung einer mit der Französischen Revolution eingeleiteten Dehumanisierung attackiert”. Gleichsam in der geistigen oder besser praktischen Nachfolge von Sedlmayr habe Mattheuer „den konfektionellen Zuschnitt, die monumentale Leere und die illusionäre Freiheit in der westlichen Kunstproduktion und den deutschen Nationalmasochismus kritisiert”. „Sein Grundthema wurde der Abschied von der Utopie – sein eigener Abschied.” („Mit Würde behauptet”, 12. 4. 2002)

Der Künstler empfand diesen Artikel wie auch den im „Neuen Deutschland” als die besten Würdigungen seiner Person und seines Werkes. Wie geht das zusammen? Um es verstehen zu können, muss etwas ausgeholt werden.

Mattheuer und die Neue Rechte

Mattheuer lobte im Gespräch die „Junge Freiheit” nicht nur für ihr Feuilleton, das beispielsweise zum 100. Geburtstag von Leni Riefenstahl eine mehrseitige Jubelbeilage brachte, sondern auch für ihre politischen Positionen. Auch er ist gegen eine multikulturelle Gesellschaft und zuviel Einwanderung. Die Erlaubnis, eines seiner Gemälde für den Umschlag von Alain de Benoists Buch „Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus – die andere Moderne”, das 2002 im Verlag der „Jungen Freiheit” erschien, zu benutzen, habe er mit Freude gegeben. Den Inhalt des Buches teile er vorbehaltslos.

Nun ist Alain de Benoist so etwas wie der Chefideologe der französischen Neuen Rechten (Nouvelle Droite), die, vermittelt durch die „Junge Freiheit”, auch auf die rechte intellektuelle Szene in Deutschland ausstrahlt. Ihr Markenzeichen ist eine Globalisierungskritik, die sich auf den ersten Blick kaum von dem unterscheidet, was im Umfeld linker globalisierungskritischer Strömungen und Organisationen gedacht und gesagt wird.

Die Neue Rechte knüpft bewusst an Begriffe an, die auch in der Linken verwendet werden, um sie im nationalistischen bzw. „ethnopluralistischen” Sinn umzudeuten. In dem von Alain de Benoist verfassten Manifest der Nouvelle Droite, „Aufstand der Kulturen”, das ebenfalls im Verlag der „Jungen Freiheit” erschien, ist beispielsweise vom „westlichen Imperialismus” die Rede, gegen den „die Völker” kämpfen sollen. Für die Einwanderung von Menschen aus anderen Kulturen wird die „Logik des Kapitals” verantwortlich gemacht, die „den Menschen auf den Zustand einer Ware” reduziere, „deren Standort man verlegen” kann. Weltweit dominiere eine „Neue Klasse”, die überall den „gleichen Menschentypus” erzeuge: „Kalte Sachkundigkeit, von der Wirklichkeit losgelöste Rationalität, abstrakter Individualismus, ausschließlich auf Nutzen ausgerichtete Überzeugungen …” Ein Kernsatz lautet: „Gegen die Allmacht des Geldes, der obersten Macht in der modernen Gesellschaft, gilt es, die Trennung von Reichtum und politischer Macht möglichst durchzusetzen.”

Die alte Unterscheidung zwischen „schaffendem” und „raffendem Kapital” klingt von Feme in folgender Formulierung an: „Der Industriekapitalismus wurde allmählich von einem Finanzkapitalismus beherrscht, der kurzfristig eine Höchstrentabilität auf Kosten des tatsächlichen Zustands der Nationalökonomien und des langfristigen Interesses der Völker anstrebt”. Wenn der Widerspruch nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen „Geld” und „Volk” bzw. den „Interessen der Völker” gesucht und gefunden wird, kann es, muss es aber nicht weiter gehen bis zu einer Ethnisierung des „schlechten” Kapitals – als „angelsächsisches” oder, bei den Rechtsextremen, „jüdisches” Finanzkapital. Alain de Benoist wie auch die ,Junge Freiheit” gehen nicht so weit. Sie begnügen sich mit der Ablenkungs- und Sündenbockfunktion, die der Begriff des internationalen „Finanzkapitalismus” bereits bietet.

Auch die ökologische Frage wird in dem Manifest angesprochen und unter Anspielung auf Erich Fromm gefordert: „Gleichermaßen muß der Vorrang des Seins vor dem Haben bekräftigt werden. Eine umfassende Ökologie muss aber auch zur Überwindung des modernen Anthropozentrismus und zum Bewußtsein einer Mitzugehörigkeit von Mensch und Kosmos aufrufen … Sie verwischt nicht die spezifische Besonderheit des Menschen, sondern spricht ihm die ausschließliche Stellung ab, die ihm das Christentum und der klassische Humanismus verliehen haben.”

Eine dezentrale Gebrauchswertproduktion für die Bedürfnisse der Menschen wird als Ziel angestrebt: „Für eine Wirtschaft im Dienst des Lebendigen”, „Für lokale Gemeinschaften” heißen die entsprechenden Schlagworte. Wie konkrete Schritte dahin aussehen sollten, wie die Tauschwertproduktion und das Kapitalverwertungsprinzip gezähmt oder gar abgeschafft werden könnten, wird nicht gesagt.

So läuft trotz des Einsatzes von viel „kapitalismuskritischem” Vokabular doch wieder alles auf die Botschaft von der Verteidigung der nationalen und kulturellen Identität gegen den christlichen, aufklärerischen oder sozialistischen „Universalismus” hinaus. „Für starke Identitäten”, „Für das Recht auf Verschiedenheit”, „Gegen die Immigration” sind die charakteristischen Forderungen dazu in den Kapitelüberschriften des Manifestes. Der Mensch wird im Stil von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt als „territoriales Tier” bezeichnet; seine „Entwurzelung” sei „eine soziale Pathologie unserer Zeit” (zit. nach de Benoist 1999).

Gegen eine einseitig rationalistische Aufklärung, ihr mechanistisches Menschenbild und ihre technokratischen Folgen wird nicht auf die „Dialektik der Aufklärung”, auf Selbstreflexion und Selbstaufklärung einer „zweiten Moderne” gesetzt, sondern die Rückkehr zu vormodemen Mythen beschworen.

Man kann verstehen, wie einer, der vom „realen Sozialismus” der DDR enttäuscht wurde, der von der Linken in der Bundesrepublik nichts mehr wissen, aber gleichwohl auf seiner Kritik an den herrschenden Verhältnissen beharren will, für solche Positionen gewisse Sympathien entwickelt. Bereits in seiner Erklärung zum Austritt aus der SED beklagte Mattheuer 1988 in der DDR neben „Mangel und Verfall, Korruption und Zynismus” einen „bedenkenlosen, ausbeuterischen Industrialismus”. Damit war sicherlich der – auch unter den Zwängen der Systemkonkurrenz – betriebene Raubbau an den natürlichen Ressourcen gemeint. In der Begriffsbildung schwingt aber eine romantische Modernisierungskritik mit, wie sie von der Konservativen Revolution der 1920erJahre bis zur heutigen Neuen Rechten geübt wird.

Gegen den „ausbeuterischen Industrialismus” steht bei Mattheuer die Liebe zur heimatlichen Landschaft und zum Alltag der kleinen Leute. Sie führt in seinen Bildern nicht zur kleinbürgerlichen Idylle, weil er den (begrenzten) Horizont und das, was hinter ihm sein könnte, immer mit ins Bild nimmt. Die Osnabrücker Kunsthistorikerin Jutta Held schreibt dazu: „Das kleinbürgerliche Leben und das kleine Glück stellt Mattheuer, anders als die sozialkritischen Realisten in Deutschland (Dix, Grosz oder Grützke unter den gegenwärtigen Malern) ohne jeden Zynismus dar, weder mit der mitleidigen noch ironischen Überlegenheit des Intellektuellen, obwohl er die Bornierungen dieses Lebens doch auch in den Blick nimmt. Er entziffert stattdessen im Falschen das Wahre, wie Adorno sagt, die berechtigten und großen Sehnsüchte und Utopien, die in den kleinen Erfüllungen und Derivaten des Glücks nicht aufgehen.” (Städtische Kunstsammlungen Chemnitz 1997, S.16 f.)

Von keinem Künstler ist Mattheuer mehr angezogen gewesen als von Caspar David Friedrich. Schon in seiner Kindheit, denn ein Landschaftsbild des Malers hing im Wohnzimmer seiner Eltern. Dessen deutsch-protestantische Landschaften scheinen, modernisiert und abgewandelt, in manchen Bildern Mattheuers wiederzukehren. 1974 fand im Dresdener Albertinum eine Ausstellung von Bildern Caspar David Friedrichs statt, die seinem 200. Geburtstag gewidmet war. Parallel dazu gab es zum Vergleich eine Mattheuer-Ausstellung. Der westdeutsche Kunstjournalist Peter Sager schrieb dazu: „Man kam von einem Andachtsraum in ein Diskussionszentrum. Selten sah ich vor zeitgenössischer Kunst so viel Publikum so engagiert debattieren” (Westermanns Monatshefte 1975, zit. nach Schönemann 1988, S. 309).

Wie auch immer sich die politischen Auffassungen Mattheuers entwickelt haben – daraus kurzerhand Rückschlüsse auf die Qualität, die Gültigkeit und Geltung seines Werkes zu ziehen, ist nicht möglich. Jene, die hier Schwierigkeiten haben, könnte man daran erinnern, dass beispielsweise Marx und Engels Honoré de Balzac dafür gelobt haben, in seinen Romanen die kunstvollste und präziseste Darstellung der bourgeoisen Gesellschaft in Frankreich geliefert zu haben, obwohl oder weil seine Sympathien, politisch gesehen, der Adelsklasse gehörten, die zum Untergang verurteilt war.

Der „Jahrhundertschritt”

Seit den 1970er Jahren gab es in Literatur und Kunst der DDR eine Tendenz, antike Mythen und biblische Legenden aufzugreifen, sie in einen aktuellen Kontext zu stellen und neu zu interpretieren oder abzuwandeln. Das wurde bei uns meist als Verschlüsselungstechnik gesehen, da die Schriftsteller und Künstler in der DDR die sozialen und politischen Verhältnisse nicht grundlegend kritisieren konnten, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen. Dieses Verständnis greift aber zu kurz.

Der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann hat in seinem Essay „Das mythische Element in der Literatur” 1975 begründet, welchen Sinn es macht, sich mit mythischen Geschichten und Bildern zu beschäftigen. Daraus nur einige kurze Belegstellen: „Der Mythos gibt den Widerspruch wieder …; in einem Zug also, den wir wohl als wesentlich anerkennen müssen, stimmt der Mythos mit dem Leben überein.” (Fühmann 1993, S. 412) „Der Mythos kennt kein Happy-End und kein Wunschdenken” (ebd., S. 441). „Das Mythische ist Gleichnis für die Verschränkung dessen, was sowohl draußen wie drinnen ist, von historisch-sozialen wie von psychischen Realitäten.” (Ebd., 443) „Vieltausendfache und in eben dieser Vieltausendfachheit ins Typische überführbare Einzelerfahrungen mit sich selber, der Gesellschaft und der Natur bilden einen nie ausschöpfbaren Fundus von Gleichnismöglichkeiten heraus.” (Ebd., S. 442f.)

Als wesentliche Elemente des Mythischen bezeichnet Fühmann unter anderem den „erklärende(n), aber nicht Wissenschaft ersetzende(n) noch Wissenschaft beabsichtigende(n) Charakter; als historischer(n) Aspekt die Tatsache, dass ein hervorragender und als besonderes repräsentativ empfundener Teil dieser Entfaltungen aus den Vorbereitungs- und Entstehungszeiten der Klassengesellschaft herrührt” (ebd., S. 446).

In Mattheuers Werk spielt die Auseinandersetzung mit mythischen Figuren eine große Rolle. Kain und Abel, Prometheus, Sisyphos und Ikarus werden symbolisch in die Gegenwart versetzt, surreal in zeitgenössische Landschaften montiert und in immer neuen motivischen Variationen in Grafiken, Gemälden und Plastiken gezeigt. Die so entstehenden Sinn- und Denkbilder bedürfen der Auslegung durch den Betrachter – die nie eindeutig und endgültig sein kann.

Peter Richter hat in seiner Besprechung der Chemnitzer Ausstellung in der „Frankfurter Allgemeinen” (3.8.2002) das Verfahren Mattheuers so bezeichnet: Er denke „die Mythologien des Alltags zu visuellen Metaphem” zusammen. Dabei benutzt er nicht nur bereits bekannte mythische Bilder, um sie zu aktualisieren, sondern erfindet neue.

Mit dem ,Jahrhundertschritt”, seiner größten Plastik, die mittlerweile in Berlin, Leipzig und Halle, in Bonn und Oberhausen auf öffentlichen Plätzen steht, ist Mattheuer eine visuelle Metapher für eine ganze Epoche gelungen. Sie ist seit ihrem ersten Auftritt höchst umstritten. 1985 wurde sie – als Gipsfassung für einen Bronzeguss – erstmals auf der Leipziger Bezirksausstellung gezeigt.

Als ich die Bronzeplastik auf der zehnten und letzten allgemeinen Kunstausstellung der DDR 1987 in Dresden sah, empfand ich sie als eine Provokation für das offizielle Geschichtsbild der SED, das immer zwischen Rechts und Links säuberlich zu trennen versucht hatte. Hier vereinte eine Plastik in ein und derselben Figur die erhobene Faust des Proletariats und den Faschistengruß, den zackigen Tritt des Militärstiefels und den Schritt nach vorn mit bloßem Fuß, und das auch noch diagonal angeordnet, so dass nicht einmal von einer eindeutig „linken” und „rechten” Hälfte gesprochen werden konnte.

Sollte doch noch einmal die große Alternative dargestellt werden: Die Figur gleichsam als Gesellschafts- oder Menschheitskörper, der so oder so in die Zukunft voranschreiten kann? Handelte es sich, ganz im Gegenteil, um eine geschichtspessimistische Sicht, wie sie in der Endphase der DDR auch in den Theaterstücken Heiner Müllers zum Ausdruck kam: Geschichte als Resultat blutiger Irrtümer (Müller: „Die Geschichte reitet auf toten Gäulen ins Ziel”)? Oder war das eine mehr oder weniger deutliche Anspielung, eine subtile Symbolisierung der von der Linken immer bekämpften Totalitarismusthese: Stalinismus gleich „Nationalsozialismus”, oder ganz allgemein: Rot gleich Braun? Aber wieso konnte sie dann in der DDR öffentlich gezeigt werden?

Waren die Kunstjuroren und -zensoren der SED schon so durch Gorbatschows Perestroika-Kurs und den wachsenden Widerwillen in der DDR-Bevölkerung geschwächt, dass sie die ideologische Gefahr nicht erkannten oder nichts mehr gegen sie unternehmen konnten?

Einer von ihnen, der Kunstwissenschaftler Karl Max Kober, schrieb über Mattheuers „Jahrhundertschritt”: „Die Plastik rafft extremste Widersprüche zusammen und setzt den Betrachter, der ihren Sinn ergründen will, der schweren Pflicht aus, diese nachzuvollziehen. Der ursprüngliche Schock verwandelt sich in Betroffenheit, erregt die Gefühle und provoziert den Verstand. Mehr kann man von einem Kunstwerk nicht verlangen. Wer an ihm Schönheit vermißt, fragt falsch, da in diesem Fall der Wahrheit Vorrang gebührt.” (Mitteldeutsche Neueste Nachrichten, 15./16.6.1985, zit. nach Schönemann 1988, S. 324)

Welcher Wahrheit? Heinz Schönemann, der 1988 die große Monographie zu Mattheuers Werk verfasste, beschrieb und interpretierte ein Jahr vorher in einem Ausstellungskatalog die bemalte Gipsfassung des „Jahrhundertschritts” so, dass es zur herrschenden Linie noch passen konnte: „Ein scheinbar kopfloses Wesen vereinigt den weitausgreifenden Schritt eines Beines von makellosem Weiß und die drohende Sprungkraft des dunklen Unholds; bringt den erhobenen rechten Arm mit der faschistischen Grußgeste, dessen Hand sich zum schwarzen Hilfeschrei lockert, und die zur Faust geballte Linke zusammen. Schwarz-weiß-rot gegen menschliche Farben und Hoffnungsgrün, vitales Weiß gegen vergehendes Schwarz; Unschuld gegen Schuld, Widerstand gegen Unterdrückung; die raumgreifende ausgewogene Gestalt, der spannungsvolle Bezug von Farben und Proportionen bringen das Wunder zustande – eine Quadratur des Kreises: aber nicht den unversehrten Menschen, sondern die Menschheit selbst in ihrer Zerrissenheit, die dennoch unteilbar ist.” (Staatliche Galerie Moritzburg 1987, S. 13)

Hermann Raum, in der DDR einer der einflussreichsten Kunstwissenschaftler, schreibt im Rückblick in seinem vor zwei Jahren erschienenen Buch „Bildende Kunst in der DDR – Die andere Moderne” über Mattheuers Plastik, sie zeige „die disparate, in ihren Teilen auseinanderstrebende Welt, aggressiv und gefährdet, voranschreitend, aber wohin?” (Raum 2000, S. 202) Der „Jahrhundertschritt” sei „in seiner merkwürdigen Zwitterrolle zwischen der einem Ausrufezeichen gleichenden politisch-moralischen Diktion und variablen Bedeutungen ein typisches Werk der späten DDR” (ebd., S. 253). Wie variabel die Bedeutung interpretiert werden kann, dafür gab Mattheuer selbst ein Beispiel. Hatte er zu DDR-Zeiten nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass in dem weit vorgestreckten Bein der Plastik die am Jahrhundertende energisch in die Zukunft vorstoßende Dritte Welt zu sehen sei, so gab eine Agenturmeldung 1990 nun als seine Lesart an: „Das Bein … versinnbildlicht für ihn den Schritt in ein Jahrhundert, das frei von Extremismus, Faschismus und Leninschem Kommunismus sein soll.” (Zit. nach ebd., S. 252)

Da Mattheuers Werk auf den Dialog mit dem Betrachter angelegt ist, und er dem Betrachter zugesteht, sich seine eigene Meinung darüber zu bilden, hat er selbstverständlich auch das Recht, sich mit einer Interpretation seiner Plastik am Dialog zu beteiligen. Hermann Raum kommentiert sie so: „Diese hoffnungsvolle Neuinterpretation kollidiert allerdings mit dem hilflosen Ausdruck des kleinen Kopfes der Figur, der im Begriffe steht, sich in den aufgebrochenen, formlosen Rumpf zurückzuziehen wie in ein Panzerwrack.” (Ebd., S. 253)

Kann man das auch so verstehen, dass der Mensch – oder die Gesellschaft insgesamt – als bis zum Zerreißen widersprüchliches Ganzes kaum den Kopf herausstrecken und oben behalten kann zwischen den widerstreitenden Kräften? Ist es ein Hinweis darauf, dass sich ein stärkeres Bewusstsein über den Gang der Dinge auf der Welt herausbilden müsste, damit er einmal demokratisch zu steuern wäre, frei nach Marx, der gesagt hat, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, dass sie aber bisher kein Bewusstsein davon haben. Oder nach Kant: Aufklärung als „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.”

Ebenso muss die ganze Figur nicht bedeuten, wie Mattheuer es 1990 festlegen wollte, dass die Extreme – buchstäblich die Extremitäten links und rechts – sich gleichen, und dass es um eine Welt „frei von Extremismus” gehe. Schon garnicht im Sinne eines neuen ,juste milieu”, das seine Privilegien mit den Menschheitsinteressen gleichsetzt und alles als extremistisch oder terroristisch bekämpft, was seinen Lebensstandard und seine Saturiertheit gefährdet.

Was der Künstler selbst über sein Werk sagt, ist ja nichts weiter als eine Auslegung unter anderen möglichen. Die beliebte Frage, was denn der Künstler mit seinem Bild oder seiner Plastik gemeint habe, beruht auf dem Missverständnis, bei Kunstwerken handele es sich um Bilderrätsel, die am kompetentesten diejenigen auflösen könnten, die sie gestellt haben. Käme es aber nur auf die Meinung des Künstlers an, hätte er es sich sparen können, ein Bild oder eine Plastik zu machen. Er hätte einfach ein Interview geben oder einen Essay schreiben können. Der hier mögliche Einwand, die bildliche Fassung seiner Meinung wirke aber stärker, und deshalb habe sich der Künstler soviel Mühe gemacht, sie herzustellen, würdigt Kunst zur Illustration von Thesen herab. Leider ist das auch immer eine Gefahr bei der kunstwissenschaftlichen oder kunstpädagogischen Interpretation. Das Sprechen und Schreiben über Kunst sollte ein bewusstes Nachvollziehen der Wahrnehmung von Kunst sein, um die es in Wirklichkeit geht.

Im Fall des „Jahrhundertschritts” verhält es sich nach Hermann Raum so, dass er „als Übungsgegenstand für professionelle Kunsterklärer gegensätzlicher ideologischer Herkunft” dient (Raum 2000, S. 252). Nach dem Ende der DDR konnte er in das in Westdeutschland vorherrschende Geschichtsbild integriert werden, wie etwa bei Eckhart Gillen, der die Plastik so deutet: Sie erinnere „auf doppelte Weise an die Last unserer Geschichte: den Alptraum des NS und die Illusion einer revolutionären Verheißung” (Feist/Gillen 1996, S. 41)

Jutta Held schrieb 1997, zum 70sten Geburtstag Wolfgang Mattheuers, gegen die vorschnelle Vereinnahmung an: „Ein Werk, das die großen politischen Gegensätze unseres Jahrhunderts in ihrer Dialektik zusammenzufassen sucht, ist der Jahrhundertschritt, mit dem Mattheuer politisch Bilanz zieht. Wie der große Historiker Hobsbawm, der von dem kurzen 20. Jahrhundert spricht, das von 1917-1989 reicht, versteht Mattheuer die Moderne als ‘Zeitalter der Extreme’, das im wesentlichen durch den Kampf zwischen Faschismus und Sozialismus geprägt ist. Fragen dieser europäischen, aber vor allem deutschen Geschichte, die in jüngster Zeit von der historischen Forschung gestellt werden, scheinen mir in dieser Skulptur gebündelt zu sein: Wie definiert und behauptet sich Menschlichkeit in diesem Konfliktfeld, wie ist der beherrschende politische Gegensatz des Jahrhunderts in der Subjektivität der Menschen fundiert? Mattheuers Antwort scheint zu sein, daß die politische Konfrontation, deren Träger die Individuen doch auch sind, sie zugleich zerreißt, ihnen die Mitte nimmt und sie auslöscht. Kopflos, ohne Ausponderierung in einem körperlichen Zentrum, greifen die Glieder dieser Figur automatisch und maßlos aus, nach vorn und zurück, so daß jede sinnvolle Bewegung blockiert wird.” (Städtische Kunstsammlungen Chemnitz 1997, S. 17 f.)

Diese Interpretation lässt sich auch auf die zeichnerischen und malerischen Fassungen des „Jahrhundertschritts” beziehen, die vor und nach der Realisierung als Plastik entstanden: „Verlorene Mitte” (1981), „Verlust der Mitte” (1981/82) „Aggression” (1981), „Alptraum” (1982).

Das Gemälde „Aggression” illustriert den Schutzumschlag des „Totalitarismus”-Buches von Alain de Benoist. Das Vorwort zu diesem Buch schrieb Ernst Nolte, der nicht nur als einer der wichtigsten Vertreter der Totalitarismustheorie in der Bundesrepublik gilt, sondern in den 1980er Jahren den Anstoß zur sogenannten Historikerdebatte gab: Mit seiner These, das „logische Prius” zu Auschwitz sei der bolschewistische Terror gewesen, es gebe einen „kausalen Nexus” zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus, und letzterer sei als eine Reaktion auf die Oktoberrevolution im „Weltbürgerkrieg” des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Jürgen Habermas, Richard von Weizsäcker und andere haben seinerzeit den Sinn dieser These als projektive Schuldabwehr und indirekte Verharmlosung des deutschen Faschismus bezeichnet.

Mit der Verwendung zur Illustration der Totalitarismus-These ist Mattheuers „Jahrhundertschritt”-Motiv nicht zu seiner Wahrheit gekommen. Es bleibt mehrdeutig und auslegbar. Das ist ja das Kennzeichen großer Kunst: nicht eindimensional und fixiert zu sein.

Wie seine anderen Motive und Bilderfindungen auch hat Mattheuer den „Jahrhundertschritt” mehrfach abgewandelt, um ihm im jeweiligen Kontext neue Bedeutungen zu geben. Eine Linolschnitt-Fassung aus dem Jahr 1987 verbindet ihn mit der Mauer, die Deutschland in zwei Staaten teilt. Hier bekommt die Figur ein Doppelgesicht: Auf ihrer rechten Seite das schemenhafte des Faschismus und Militarismus, auf der linken das ernste bis grimmige des mit geballter Faust Voranschreitenden.

Fazit aus den verwirrend unterschiedlichen Interpretationen: Es geht beim „Jahrhundertschritt” offenbar nicht um die einfache Entgegenstellung von Schwarz und Weiß, von Gut und Böse. Gerade die diagonale Verschränkung der symbolischen Codes für Links und Rechts, Rückschritt und Fortschritt, Faschismus, Militarismus und Sozialismus, und deren Verkoppelung über ein und dieselbe Gestalt zeigen das. Aber es handelt sich auch nicht um eine Gleichsetzung unter dem Stichwort Totalitarismus. Sie wäre schon deshalb – logisch und praktisch – nicht möglich, weil die Plastik sonst in der DDR nicht hätte entstehen und öffentlich ausgestellt werden können. Der ,Jahrhundertschritt” in seinen verschiedenen Fassungen lädt vielmehr zum Nachdenken über allzu simple Gleichungen ein. Er lässt offen, wie es weitergeht, weil das auch vom Betrachter selbst abhängt.

Das letzte große politische Bild Mattheuers hat den Titel: „Nichts Neues im neuen Jahrhundert”. Die Farben sind dunkel. Anstelle der Extreme des 20. Jahrhunderts sieht Mattheuer einen „Totalitarismus der Mitte” heraufziehen. Die Dummheit sei unbesiegbar. Gegen den Pessimismus und die Resignation des Künstlers sollten wir mit Heiner Müller daran festhalten: „Vielleicht gibt es irgendwann eine humane Gesellschaft – eine Gesellschaft also, in der man keine Kunst braucht.”

Literatur:

Alain de Benoist: Aufstand der Kulturen. Europäisches Manifest für das 21. Jahrhundert, Berlin 1999

Ders.: Totalitarismus. Kommunismus und Nationalsozialismus – die andere Moderne. 1917-1989, Berlin 2001

Günter Feist/Eckhart Gillen/Beatrice Vierneisel (Hg.): Kunstdokumentation SBZ/DDR 1945-1990. Aufsätze, Berichte. Materialien, Berlin/Köln 1996

Franz Fühmann: Marsyas. Mythos und Traum, Leipzig 1993

Eckhart Gillen (Hg.): Deutschlandbilder. Kunst aus einem geteilten Land. Ausstellungskatalog Berlin 1997, Köln 1997

Wolfgang Mattheuer: Zwischen Idyll und Katastrophe. Bilder von 1958 bis 1999, Frankfurt a. M. 1999 (Edition Galerie Schwind, nicht im Buchhandel erhältlich)

Hermann Raum: Bildende Kunst in der DDR. Die andere Moderne. Werke – Tendenzen – Bleibendes. Edition Ost AG. Berlin 2000

Heinz Schönemann: Wolfgang Mattheuer. Leipzig/Frankfurt a. M. 1988 Städtische Kunstsammlungen Chemnitz: Wolfgang Mattheuer zum 70. Geburtstag.

Aus: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 52, Dezember 2002 (korrigierte Fassung)

Der Blick von unten

Kunstaneignung in der „Ästhetik des Widerstands“

Aus: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 107, September 2016

Im Editorial des Themenhefts der Zeitschrift „Das Argument“ zum 100. Geburtstag von Peter Weiss heißt es: „In der Ästhetik des Widerstands geht es um die Frage, wie Fremdbestimmung durch ‚Kulturarbeit’ aufzusprengen sei. Befreiung – dieses Wort gewinnt hier eine neue reiche Bedeutung, denn es geht nicht allein um ‚die Befreiung aus politischer Unterdrückung, sondern ebenso um die Befreiung von den kulturellen Hindernissen (…), die ganze Lebensweise ist gemeint, alles worin man verfilzt ist, worin man lebt‘. ‚Kulturarbeit‘ heißt dann auch Überwindung der Eingeschlossenheit in die Engstirnigkeit, die Trägheit, das Besserwissen. Daher die Bedeutung von Kunst und Literatur, die, wenn sie lebendig sind, ‚immer im Streit gegen etwas stehen‘, keine faule Identität aufkommen lassen, produktive Unruhe verbreiten.“1
Zitiert wird hier Peter Weiss selbst, der nicht, wie es mittlerweile im Kulturbetrieb wieder üblich ist, unter Kultur nur entweder die hohe Kunst oder die Populärkultur verstand, sondern etwas, was „die ganze Lebenshaltung“ meint. „Kultur ist, wie der ganze Mensch lebt und arbeitet“ – das war auch eine Formel, die seit den 1970er Jahren nicht nur in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit Verbreitung fand. Sie richtete sich gegen das elitäre Prinzip des L’art pour l’art und gegen eine bildungsbürgerliche Auffassung von „Kulturgütern“ als „ewigen Werten“, die angeblich nichts mit schnöden Interessen und dem Alltag der Menschen zu tun haben.

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Spirale der Gerechtigkeit

Agenda 1510 – Erhart Falckeners „Spirale der Gerechtigkeit”

Erinnerung an eine Kunstaktion

Aus: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung Nr. 56, Dezember 2003

In einer Zeit, in der der Generalsekretär der SPD den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ aus dem Parteiprogramm streichen möchte, in der andere ihn in „Chancengerechtigkeit“ oder gar „Generationengerechtigkeit“ umtaufen wollen, ist es vielleicht von Interesse, an eine Kunstaktion im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 zu erinnern, die mit der Parole „Soziale Gerechtigkeit statt Freiheit der Reichen“ das eigentliche Problem auf den Punkt bringen wollte. Anlaß waren das 150jährige Jubiläum der gescheiterten bürgerlichen Revolution von 1848 und die bei den Gedenkfeiern, Artikeln und Ausstellungen dazu – wie sich herausstellte: mit Recht – vermuteten Verkürzungen und Einseitigkeiten. Es wurde nämlich oft verschwiegen oder nicht deutlich gemacht, daß es 1848 nicht nur um nationale Einheit und demokratische Freiheiten ging, sondern auch um die Frage, welche und wessen Freiheit verwirklicht werden sollte: Die Freiheit der Reichen, die Freiheit des Kapitals, die Freiheit des Marktes – oder die Freiheit von Armut und Not, die Freiheit der Besitzlosen, die das Recht auf ein menschenwürdiges Leben, auf Arbeit, Wohnung und Gesundheit einschließt. „Freiheit ist Gerechtigkeit!“ – so stand es im Aufruf zur Gründung eines Frankfurter Arbeitervereins vom 13. März 1848.

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Fenster oder Spiegel

Zur Kontroverse um „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder

Aus: Reiner Diederich / Peter Menne (Hrsg.): Der Müll, die Stadt und der Skandal. Fassbinder und der Antisemitismus heute. Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2015 (korrigierte Textfassung)

In den Debatten darüber, ob das Fassbinder-Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von 1975 selbst antisemitisch sei oder antijüdischen Ressentiments – unreflektiert oder unbewusst – Vorschub leiste, ging es nicht nur um unterschiedliche Lesarten und Interpretationen des Stücks, sondern auch um unterschiedliche Erklärungsansätze für das Entstehen und die Funktion von Antisemitismus.

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Wider das betreute Sehen

Aus: Kulturpolitische Mitteilungen (Zeitschrift der Kulturpolitischen Gesellschaft) Nr. 138, III/2012

Wider das betreute Sehen

Die Kunst ist frei, heißt es. Aber ist es auch die Wahrnehmung von Kunst? Ist es das Sprechen über Kunst? Man sagt mit Recht, die Kunst liege im Auge des Betrachters. Aber wer kommt dabei ohne Brille aus? Und wenn er selbst keine besitzt – wer besorgt sie ihm dann? In welcher Absicht?

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Kunstaneignung – Kunstdialog – Bildergespräche

im Anschluß an Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“

Vortrag auf der Tagung der Stiftung Gegenstand in der Villa Palagione bei Volterra, August 2009

 Vorbemerkung
Ich möchte über eine Methode der Kunstvermittlung oder Aneignung von Werken der bildenden Kunst reden, die in der Kultur- und Bildungsarbeit genutzt werden kann. Es geht um stehende Bilder, und darum, wie sie in Bewegung gesetzt werden können. Ich fange an mit der „Ästhetik des Widerstands“, weil Peter Weiss dort diese Methode in Ansätzen beschrieben hat und weil sie eine wichtige Rolle für seine Konzeption der Kunstaneignung spielt.

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Das Bildergespräch – eine Methode sozialer Kulturarbeit

Aus: Hans-Jürgen Häßler / Christian von Heusinger (Hrsg.): Frieden, Tradition und Zukunft als Kulturaufgabe, Würzburg 1993

Ausstellung zum 100. Geburtstag von Otto Dix in der Galerie der Stadt Stuttgart. Vor einem Bild von 1920 stehend, auf dem Dix den preußisch-deutschen Etappenhengst des Ersten Weltkrieges karikiert, erklärt ein junger Mann seiner Begleiterin, dass der Künstler ganz unpolitisch gewesen sei, weder links noch rechts, und dass er ganz gut durchs Dritte Reich gekommen sei. Auf den Widerspruch zwischen seiner Meinung und der offenkundigen Aussage des Bildes aufmerksam gemacht, fragt er etwas verwirrt, wie dann das Bild die Nazizeit überlebt habe und jetzt in der Ausstellung hängen könne.

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Erfahrungen auf der documenta 14

Die alle fünf Jahre in Kassel stattfindende documenta gilt als weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Sie hatte immer auch einen aufklärerischen oder gar politischen Anspruch. Bei der documenta 14 2017 wird er von ihren Macherinnen und Machern besonders betont. Sie versprechen nichts weniger, als aus dem Kunstraum einen Ort gesellschaftlicher Auseinandersetzung zu machen. Symbol dafür ist der zentral auf dem Friedrichsplatz aufgestellte „Parthenon der verbotenen Bücher“, der zugleich auf die „Wiege der Demokratie“ in Athen – dem zweiten Ort der diesjährigen documenta – verweisen soll. „Erfahrungen auf der documenta 14“ weiterlesen