Fenster oder Spiegel

Zur Kontroverse um „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von Rainer Werner Fassbinder

Aus: Reiner Diederich / Peter Menne (Hrsg.): Der Müll, die Stadt und der Skandal. Fassbinder und der Antisemitismus heute. Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2015 (korrigierte Textfassung)

In den Debatten darüber, ob das Fassbinder-Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ von 1975 selbst antisemitisch sei oder antijüdischen Ressentiments – unreflektiert oder unbewusst – Vorschub leiste, ging es nicht nur um unterschiedliche Lesarten und Interpretationen des Stücks, sondern auch um unterschiedliche Erklärungsansätze für das Entstehen und die Funktion von Antisemitismus.

Was die Auseinandersetzungen um die 1985 geplante Uraufführung in Frankfurt betrifft, spitzte es sich auf die Frage zu, ob ein Theaterstück selbst dann öffentlich zur Diskussion gestellt werden sollte, wenn es höchst umstritten ist. Die einen sahen das als Chance, auch über antisemitische Mechanismen aufzuklären. „Die anderen sahen die Bedrohung durch einen offenen Antisemitismus, dem entschlossen zu begegnen sei.“ (Hargens 2010, S. 114)

Die Kritiker des Stücks vertraten die Position, dass mit der Figur des „reichen Juden“ ein traditionelles Klischee eins zu eins auf die Bühne gebracht werde: das des „Geldjuden“, der sein Einkommen aus Spekulation und Zinsen bezieht. Bei der Ausgestaltung der Figur handele es sich um einen Fall von Schuldabwehr-Antisemitismus. Dieser soll nach dem Holocaust zur Entlastung nicht nur der deutschen Tätergeneration dienen, sondern auch von deren Nachkommen. Kennzeichnend dafür sei die Täter-Opfer-Umkehr als zentrales Motiv des Stücks: Aus einem unter den Nazis verfolgten und mit dem Tod bedrohten Juden werde nach 1945 der sich dafür – noch dazu an kleinen Leuten – rächende Immobilienspekulant, der rücksichtslos und von angeblicher Unberührbarkeit geschützt seine Interessen vertritt. Seine stereotype, anonymisierte Bezeichung als „der reiche Jude“ verknüpfe dies alles mit den uralten projektiven Bildern über Juden und verallgemeinere sie.

Janusz Bodek fasste diese Sichtweise auf das Stück prägnant zusammen: „Die Täter-Opfer-Dichotomie wird aufgehoben in einer Kippfigur des Opfers als Täter, der Täter ist, weil er Jude ist und Opfer war.“ (Bodek 1998, S.355; vgl. auch ders. 1991) Und, noch zugespitzter, auf das gesamte literarische und filmische Werk Fassbinders bezogen: „Fassbinders jüdische Figuren sind ausnahmslos Objekte von Projektionen negativer Aspekte seiner Biographie und der Verschiebung seiner Opferphantasien von Juden auf Nichtjuden. Deutsche in seinen Werken werden zu Opfern von Juden, vom ersten bis zum letzten Werk gestaltet Fassbinder einen schuldabwehrantisemitischen Opferkonkurrenzdiskurs. Es gibt schlicht unter den zahlreichen jüdischen Figuren in seinem Werk nur negativ gezeichnete.“ (Bodek 2007, S.183)

Die Verteidiger des Stücks vertraten dagegen die Position, dass Fassbinder antisemitische Stereotype zwar zitiere, dies aber nicht in der Absicht, sie zu verbreiten und zu verstärken. Der Schuldabwehr-Antisemitismus werde in der hasserfüllten Rede des mit dem „reichen Juden“ konkurrierenden Immobilienspekulanten und Nazis Hans von Gluck selbst zum Thema gemacht und damit der Reflexion zugänglich: „Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da…“ Es gehe in dem Stück darum, dass der „reiche Jude“ eine Projektionsfigur für seine Umgebung darstellt. Ihm zugeschriebene negative Eigenschaften hätten die anderen handelnden Personen selbst im Übermaß. Indem gezeigt werde, wie die Mächtigen „der Stadt“ ihn für ihre Zwecke benutzen, werde der Mythos von der (All-)Macht der Juden konterkariert. Der „reiche Jude“ erscheine, wie die meisten anderen Protagonisten des Stücks, als Außenseiter, eher als Opfer der Verhältnisse denn als Täter. Eher als ein tragisch Verstrickter, der seine Situation begreifen und Sympathien für sich wecken kann.

Neben diesen diametral entgegengesetzten Positionen gab es in der Debatte auch Zwischentöne, differenzierte Abwägungen, Betonungen der Ambivalenz des Stücks und Unentschiedenheiten in seiner Beurteilung.

Die Kontroverse betraf die entscheidene Frage, um die es beim literarischen Antisemitismus oder Antisemitismus in der Literatur geht: Werden judenfeindliche Stereotype affirmativ eingebracht oder durch künstlerische Verfahren wie Verfremdung, Übertreibung, Montage kenntlich gemacht und dekonstruiert?

Der Literaturwissenschaftler Klaus-Michael Bogdal schreibt dazu: „Nur am einzelnen Text und seinem jeweiligen historischen Kontext lässt es sich entscheiden, welche Form literarischer Präsentation des Antisemitismus vorliegt. Dabei lassen sich vermittels einer vielschichtigen Gesamtanalyse in der Regel drei Formen unterscheiden:
 ein manifester, auch subjektiv intendierter Antisemitismus;
 ein ‘fahrlässiger’ (unbewusster oder bewusster) Gebrauch von Stereotypen;
 das bewusste, dekonstruierende (riskante) Spiel mit dem antisemitischen Sprach- und Wissensrepertoire.“ (Bogdal u.a. 2007, S. 7)

Bei dieser „Gesamtanalyse“ wird sichtbar, dass literarische Texte wie auch andere künstlerische Produktionen mehrfach codiert sind und – im Unterschied zu wissenschaftlichen oder publizistischen Texten – unterschiedliche Lesarten zulassen.

Ein Kunstwerk kann wegen seiner spezifischen Komplexität und Mehrdeutigkeit nicht auf eine einzig gültige Bedeutung festgelegt werden. Seine Interpretation ist aber andererseits auch nicht subjektiv beliebig, sondern muss den inneren Gesetzmäßigkeiten des Werks, seinem Inhalt und seiner Form gerecht werden. Dabei können sich mehrere, auch einander widersprechende Deutungen ergeben, über die nicht einfach nach „wahr“ oder „falsch“ entschieden werden kann.

Zu berücksichtigen ist ferner der Ort und die Zeit, an dem und zu der eine „literarische Präsentation des Antisemitismus“ geschehen soll oder geschieht. Im konkreten Fall kann selbst die beabsichtigte Dekonstruktion antisemitischer Stereotype auf die Betroffenen wie ihre Verstärkung wirken. Allein das bloße Zitieren, Zeigen oder Darstellen dieser Stereotype und Klischees, das dabei notwendig ist, erscheint dann als unerträgliche Wiederholung der Diskriminierung. Das war offenkundig der Fall beim Versuch der Aufführung von Fassbinders Stück am Schauspiel Frankfurt 1985.

Die meisten Mitglieder der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, Überlebende des Holocaust, fühlten sich in ihren Gefühlen und in ihrer Menschenwürde verletzt und an die schreckliche Vergangenheit erinnert, weil die aus der Hetzpropaganda der Nazis bekannte Figur des „reichen Juden“ (in der NS-Propaganda synonym für „Kapitalist“) auf die Bühne kommen sollte. Dass es eine städtische, mit öffentlichen Geldern ausgestattete Bühne war, wirkte besonders provokativ. Während der Besetzung der Bühne im Frankfurter Schauspielhaus durch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, um die Uraufführung zu verhindern, wurde denn auch als zentrales Transparent hochgehalten: „Subventionierter Antisemitismus“.

Jüdische Organisationen, die Deutsch-Israelische Gesellschaft und der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland hatten gegen die Aufführung protestiert. Dem Protest hatten sich die Frankfurter CDU und FDP, einzelne Mitglieder der SPD, Vertreter der Kirchen und Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Wirtschaft angeschlossen. Eine von drei Vertreterinnen des Stadtparlaments verfasste Resolution fand 1 600 Unterstützerinnen und Unterstützer.

Bei den Versuchen des Intendanten Günther Rühle, die Inszenierung durch vorausgehende Diskussionen verständlich zu machen, und auch bei den Diskussionen nach dem Verzicht auf die weitere Aufführung nach der „Wiederholungsprobe“ vor eingeladenen Journalisten zeigte sich, dass es keine Verständigung geben konnte zwischen den an Fassbinders Stück Interessierten, die mehr oder weniger „sachlich“ zu argumentieren meinten, und den Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde, die als Betroffene ihr Verletztsein bis hin zum Vorzeigen ihrer eintätowierten Nummern als ehemalige KZ-Häftlinge demonstrierten.

Der Vorwurf, der von jüdischer Seite denen gemacht wurde, die eine Aufführung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ befürworteten oder am Abend der Premiere im Theater unter Berufung auf die Kunstfreiheit durchsetzen wollten war, dass es ihnen an Sensibilität und Empathie gegenüber den Opfern der faschistischen Barbarei mangele. Oder dass sie selbst nicht frei seien von unreflektierten Ressentiments.

Janusz Bodek schreibt dazu: „Die damalige geringe Belastbarkeit des Verhältnisses zwischen Juden und Nichtjuden war bedingt durch die Dominanz der ersten und zweiten Generation auf beiden Seiten (…) Dieser Umstand, die zeitliche Nähe zum NS, das Fehlen eines tragfähigen Vergangenheitsdiskurses samt entsprechenden Institutionen und die grundlegenden Unsicherheiten im Umgang zwischen Juden und Nichtjuden rückten den Fassbinder-Skandal in den Fokus medialer Aufmerksamkeit und verliehen ihm schnell eine nationale und internationale Bedeutung. Die Parlamente in Deutschland, Israel und USA beschäftigten sich mit dem Fall. Befürchtungen von einer Gefährdung der noch nicht gesicherten Demokratie in Deutschland kamen auf. Auch innenpolitisch spielte die Sensibilität des Auslands gegenüber dem Antisemitismus in Deutschland eine ungleich wichtigere Rolle als heute.“ (Bodek 2007, S. 181f)

Antisemitismus und Kapitalismuskritik

In der öffentlichen, in Zeitungen und Zeitschriften geführten Debatte um das Stück ging es in den 1980er Jahren weniger um eine differenzierte und differenzierende Analyse des Textes als um grundsätzliche Positionierungen, die heftig verteidigt wurden. Nicht selten auch mit selektivem Zitieren und mit Interpretationen, die den Text des Stücks auf eine einzig gültige Bedeutung festlegen wollten.

Themen, die dabei ein großes Gewicht hatten, waren: Die Berufung auf die Freiheit der Kunst, die ein so hohes Gut sei, dass auch die Aufführung eines umstrittenen Stückes möglich sein müsse; die Berufung auf die Notwendigkeit, angebliche oder wirkliche Tabus (im Zusammenhang mit dem „Philosemitismus der Nachkriegszeit“) zu brechen; und schließlich die Frage, wie mit den Gefühlen, Verletzbarkeiten, öffentlich geäußerten Meinungen und Argumenten von in der Bundesrepublik lebenden Juden umgegangen werden sollte.

Im Folgenden geht es nur um den Aspekt, welche Ansätze zur Erklärung von Antisemitismus – seiner Entstehung, Funktionsweise und Wirksamkeit bis heute – sich in der Kontroverse zeigten. Deshalb sollen von den publizierten öffentlichen Reaktionen auf das Stück in den 1980er Jahren exemplarisch nur diejenigen näher betrachtet werden, die sich auf den Schuldabwehr-Antisemitismus und das Verhältnis von Antisemitismus und Kapitalismuskritik bezogen.

Gibt es Schnittmengen zwischen beidem, wie manche Kritiker des Stücks behaupteten? Einige, die wie der FAZ-Mitherausgeber Joachim Fest die These eines genuinen linken Antisemitismus oder „Linksfaschismus“ vertraten, gingen ja noch weiter bis zu einer tendenziellen Vergleichbarkeit oder sogar Gleichsetzung von Antikapitalismus und Antisemitismus.

Die Verteidiger Fassbinders, sofern sie sich nicht nur auf die Freiheit der Kunst, die Qualitäten seines Theaterstücks oder angeblich notwendige Tabubrüche beriefen, verstanden und verstehen – im Unterschied zu den Positionen Joachim Fests und anderer – den Antisemitismus eher als abgefälschte, umfunktionierte, scheinhafte Kritik kapitalistischer Verhältnisse. Kapitalismuskritik und Antisemitismus befinden sich in diesem Verständnis weder definitorisch noch als reale Bewusstseins-Inhalte auf derselben Ebene und können deshalb auch keine Schnittmengen miteinander haben oder ineinander übergehen. Antisemitismus erscheint als „notwendig falsches Bewußtsein“, Ideologie im schlechten Sinn, ein projektives Denk- und Gefühlsmuster, das zu menschenfeindlichen Haltungen und Handlungen führt.

Die Frage an das Stück Fassbinders ist dann, ob es Ausdruck dieses falschen Bewußtseins ist oder ob es dessen Falschheit, wie der Autor selbst für sich in Anspruch nahm, aufzeigen will – und ob das gelungen ist.

Wenn kapitalismuskritisches und antisemitisches Denken und Fühlen nach einem solchen Verständnis einander ausschließen, könnte es eigentlich keinen linken Antisemitismus geben, sofern eine kapitalismuskritische Position das Wissen um die jahrhundertelange Projektion des Negativen an der Geldwirtschaft auf die Juden einschließt. Antisemitische Ressentiments bei Linken, die es in unterschiedlicher Stärke ja zweifellos gibt, würden dann als unaufgeklärte emotionale und ideologische „Restbestände“ oder als Verfallsformen linken Denkens gewertet, die im Widerspruch zu dem stehen, wie sich Linke ansonsten die Welt und die gesellschaftlichen Verhältnisse erklären wollen.

Ein solches Verständnis der Problematik steht auch in der Tradition der Arbeiterbewegung seit dem 19. Jahrhundert. Mag die seinerzeitige Definition des Antisemitismus als „Sozialismus der dummen Kerls“ (August Bebel) auch vereinfachend und unzureichend gewesen sein, so hat doch die Feststellung von Friedrich Engels einiges für sich: „Der Antisemitismus dient nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel.“

Die mit Hitlers angeblichem „nationalen Sozialismus“ verbundene Propaganda ist ein Beleg für das Umfunktionieren von Symbolen der Arbeiterbewegung. So wurde der Davidstern in das traditionelle Bild vom Kapitalisten eingeschmuggelt, um ihm eine andere Bedeutung zu geben, die den Vorurteilen vieler, vor allem in den mittleren Schichten, entgegen kam, aber den Interessen der abhängig Arbeitenden objektiv widersprach. Ein typisches Beispiel dafür ist das NS-Plakat „Der Drahtzieher“ von 1924.

Der Frankfurter Politikwissenschaftler Iring Fetscher schrieb in den 1970er Jahren dazu: Der Antisemitismus der NS-Bewegung fungierte „als ein Mittel, um Massen für die Nationalsozialistische Partei zu werben – Antisemitismus als Pseudosozialismus. Wir finden in dem Parteiprogamm von Feder, das Hitler als propagandistisches Meisterwerk gefeiert hat, aber niemals in seinen konkreten wirtschaftlichen Punkten in die Tat umsetzte, eine ganze Reihe von Forderungen, die beinahe sozialistisch klingen, … so etwa Aufteilung des Großgrundbesitzes, Kommunalisierung der Warenhäuser, Gewinnbeteiligung bei Großbetrieben, Einziehung aller Kriegsgewinne und dergleichen mehr, aber bei jedem dieser Programmpunkte wurde dann in der Folge aus Antikapitalismus Antisemitismus gemacht.“ ( Fetscher 1974, S. 48)

Das geschah bereits lange vor der „Machtergreifung“, indem klargestellt wurde, dass sich die „beinahe sozialistisch klingenden“ Forderungen ausschließlich auf „jüdisches Kapital“ beziehen sollten. Diese Klarstellung war auch deshalb notwendig, damit die NSDAP von deutschen Großindustriellen Millionen an Fördergeldern für ihre Politik und Propaganda beziehen konnte.

Gegen die Erklärung des Antisemitismus als Ablenkungsinstrument wird heute kritisch eingewandt: „Mit der alten sozialdemokratischen These, wonach der Antisemitismus der ‘Sozialismus der dummen Kerls’ sei, die sich vom Kapitalismus auf die ‘jüdischen Kapitalisten’ ablenken ließen, wird die Mehrheit des deutschen Volkes freigesprochen und die Schuld bei Finanzkapital und Banken abgeladen.“ (Bergmann 2007, S.19) Sie könne damit selbst Teil einer Entlastungsstrategie werden, auch weil andere Elemente des Antisemitismus durch eine solche Erklärung außer Acht gelassen würden.

Nach wie vor glauben nach Meinungsumfragen etwa zwei Drittel der Deutschen, dass Juden besonders gut mit Geld umgehen könnten. Diese „leichte“ Version des jahrhundertealten Stereotyps ist nicht mit irgendeiner Manipulation ihres Bewusstseins von außen zu erklären.

Immer noch oder immer wieder virulent sind Formen eines „sekundären“ Antisemitismus, der zur Abwehr von Schuldgefühlen oder einer unterstellten Kollektivschuld der Deutschen am NS-Regime und am Holocaust dienen soll. So stimmten 2002 20 Prozent der Bundesbürger voll und 32 Prozent eher folgendem Satz zu: „Die Juden nutzen die Erinnerung an den Holocaust heute für ihren eigenen Vorteil aus.“ (Bergmann 2007, S. 33)

Ebenfalls über die Hälfte der Befragten stimmen zu, wenn die Politik Israels gegenüber den Palästinensern, die Besetzung der Westbank und die israelische Kriegsführung im Gaza-Konflikt mit der Verfolgung und Ermordung der Juden unter dem Nazi-Regime verglichen, wenn nicht gleichgesetzt wird. Mit einer politischen, sachlich begründeten Kritik am Handeln israelischer Regierungen hat das nichts zu tun. Es dient der eigenen Entlastung. Die Kritik an Israel, der „Antizionismus“ kann so zum Deckmantel für antisemitische Ressentiments werden.

Ein weiteres, eher rückwärtsgewandtes, aber immer noch oder wieder wirksames und verbreitetes Gefühls- und Denkmuster, das mit Antisemitismus verbunden ist, hat der Soziologe Klaus Holz benannt:

„Leitbild für die ‘Gesellschaft’ ist die Börse und die Großstadt. In ihr herrschen Eigennutz, interessenrationale Sozialbeziehungen, Wurzellosigkeit und Unmoral. Die Verhältnisse der Individuen sind nicht emotional und moralisch, sondern abstrakt durch Medien wie Geld und Presse vermittelt. Der Antisemitismus bietet das ‘Zerrbild einer Gesellschaftstheorie’, in der die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft als materialistische, individualistische und zersetzende Lebensweise beklagt und mit dem Gegenbild einer vormals heilen, zukünftig wieder zu erreichenden Gemeinschaft kontrastiert wird.“ (Holz 2007, S. 41)

Statt die als bedrohlich und menschenfeindlich erlebten Phänomene und Auswirkungen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aus ihr selbst zu erklären, werden „Fremde“ für sie verantwortlich gemacht. Dieses Projektionsmuster ist nicht nur beim Antisemitismus zu beobachten, bei dem die Juden stellvertretend für das Kapital und die Macht stehen sollen, sondern auch bei der „Ausländerfeindlichkeit“, bei der Migrantinnen und Migranten stellvertretend für die in Wirklichkeit systembedingte Konkurrenz um Arbeitsplätze, Löhne und Lebenschancen stehen.

Das funktioniert auch nach dem Muster: Nach oben buckeln und nach unten oder seitwärts treten.

Wenn Max Horkheimer in den 1930er Jahren gesagt hat, dass, wer vom Faschismus reden wolle, vom Kapitalismus nicht schweigen dürfe, so ließe sich heute analog dazu sagen: Wer über Antisemitismus und Fremdenhass reden will, darf über die realen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse in Wirtschaft und Gesellschaft nicht schweigen.

Im Folgenden werden die beiden Dokumentationen ausgewertet, die das Schauspiel Frankfurt anlässlich seiner Inszenierung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ 1985 und 1986 herausgegeben hat. Es soll dabei, wie schon gesagt, im Hinblick auf nach wie vor aktuelle Fragestellungen ausschließlich um den Komplex des Schuldabwehr-Antisemitismus und darum gehen, wie das Verhältnis von Antisemitismus und Kapitalismuskritik interpretiert wird.

Die Dokumentationen enthalten hauptsächlich Artikel aus Tageszeitungen und Zeitschriften, ferner Stellungnahmen diverser Art, die sich auf das Stück und seine Inszenierung beziehen. Die Auswertung erfolgt hier nicht systematisch, nach Themen und Thesen geordnet, sondern folgt dem chronologischen Ablauf der beiden Dokumentationen. Die Zitate werden jeweils mit kurzen Kommentaren versehen.

Der Westend-Konflikt

Die erste Dokumentation, die anlässlich der für den 31.10.1985 geplanten Uraufführung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“ erschien, wurde damit eingeleitet, dass die Diskussion über das Stück nun schon fast zehn Jahre andauere (vgl. Schauspiel Frankfurt 1985, bei den Nachweisen abgekürzt als: I). Die Diskussion beträfe „das Verhältnis von Nicht-Juden und Juden im Nachkriegsdeutschland, städtische Baupolitik, aber auch die Frage, was Theater, das selbst in der Nachwirkung jener schlimmen Geschichte steht, darf. In dieser Diskussion kommen Ängste, Besorgnisse existenzieller Art zum Ausdruck, aber auch Interessen, wie die Wahrung politischer Zielsetzungen, öffentlicher Rollen und Funktionen, auch Voreingenommenheiten, auch bei vielen ein Nachholbedarf an Widerstand, der sich nun an dem Thema ‘Antisemitismus’ entzündet, an dem er damals versagte.“ (I, Vorbemerkung)

Da „Der Müll, die Stadt und der Tod“ sich unter anderem – wenn auch nicht explizit, so doch schon wegen der Entstehungsgeschichte des Stücks – auf die Umstrukturierung des Frankfurter Westends und die Rolle von Immobilienkaufleuten dabei bezog, wurden zu Beginn der Dokumentation entsprechende Pressemeldungen und Artikel zitiert.

Die 1968 gegründete Aktionsgemeinschaft Westend rief im Sommer und Herbst 1970 die Bürgerinnen und Bürger zu Protestdemonstrationen gegen die städtische Baupolitik auf, wobei sie schon damals zum Mittel der emotionalisierenden Personalisierung griff: „Spekulanten und ihre Geldgeber zerstören diesen Stadtteil. Sie nehmen Tausenden von Bürgern ihre Wohnung. Jeden von uns kann es morgen treffen…“ (I, S. 6)

Als im Herbst 1970 vor einer geplanten Demonstration Flugblätter mit antisemitischem Inhalt auftauchten, distanzierte sich die AG Westend davon, übergab sie dem Staatsanwalt, und verwies darauf, dass ihr selbst „Menschen aller Religionsgemeinschaft angehörten. Wer, wie die Urheber der Flugblätter, dies nicht akzeptieren wolle und auf der Suche nach Sündenböcken Rassenhass predige, störe den demokratischen Versuch der Aktionsgemeinschaft, das Westend zu retten.“ (FAZ, 2.10.1970) (Ebda.)

Ein Jahr später erschien in der FAZ ein Artikel, in dem es hieß: „Jüdische Bauherren fühlen sich als Opfer einer antisemitischen Kampagne“ – „Ein offenes Geheimnis ist, dass die Mehrzahl der Westend-Investoren Juden sind. Ihnen wird, auch von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt, vorgeworfen, sie hätten oft mit aller Härte gearbeitet, wenn es darum ging, Grundstücke zu kaufen oder Häuser frei zu machen. Diese Methoden, wird gesagt, seien dazu angetan, den latent vorhandenen Antisemitismus zu schüren.“ (FAZ, 28.10.1971)

Der Autor des Artikels schrieb weiter, dass sich selbstverständlich auch nichtjüdische Investoren so verhielten, weil es ihren Interessen entsprach. Dennoch kam er nicht auf die Idee, daraus zu folgern, dass der „latent vorhandene Antisemitismus“ dann anders erklärt werden müsste und nicht durch das angebliche oder wirkliche Verhalten jüdischer Investoren „geschürt“ werden könnte.

Auch die AG Westend folgte nun dieser falschen These. Bei ihr hieß es: „Antisemitische Äußerungen wurden durch die Art des Vorgehens eines Teils der Investoren selbst provoziert, nicht aber durch den Widerstand der Westendbevölkerung gegen die Zerstörung ihres Stadtteils veranlasst.“ (Zit. nach Hargens 2010, S. 59)

Falsch ist die These deshalb, weil sie unterstellt, dass vorurteilshafte Stereotype und Klischees durch Erfahrungen entstehen, mit dem Verhalten derjenigen zu tun hätten, die mit ihnen belegt werden, und durch „bessere“ Erfahrungen korrigiert werden könnten. In Wirklichkeit erfüllen Vorurteile wichtige individual- und sozialpsychologische Bedürfnisse und Funktionen. Mit der Lebensrealität und dem Handeln der durch sie Diskriminierten haben sie wenig zu tun. Adorno hat den Antisemitismus einmal als das „Gerücht über die Juden“ bezeichnet.

Die personalisierte Kritik und die Fokussierung auf eine bestimmte Gruppe von Investoren lenkte von den eigentlichen Problemen der Umstrukturierung im Frankfurter Westend ab:

„Nicht thematisiert wurde nämlich, dass zahlreiche ‘Alt-Besitzer’ der 1960er- und 1970er-Jahre erst infolge von Enteignungen und Vertreibungen von Juden während der Zeit des Nationalsozialismus zu ihrem Besitz gekommen waren. Daraus resultierte eine vermeintlich geringere Verwurzelung der Besitzer, sodass sie sich eher von ihren Grundstücken trennten. Laut dem damaligen Oberbürgermeister Rudi Arndt war dies mit ein Grund, sich (bei der Planung eines Geschäftsviertels – R.D.) für das Westend zu entscheiden. Um möglichst hohe Gewinne beim Verkauf zu erzielen, warteten die Besitzer mit dem Verkauf ihrer Grundstücke, da bis Anfang der 1970er-Jahre die Preise kontinuierlich stiegen. So konnten manche doppelt von einem Objekt profitieren: Während des Dritten Reiches hatten sie es zu einem Bruchteil des Marktpreises erworben und konnten es drei Jahrzehnte später wieder überteuert verkaufen.“ (Hargens 2010, S. 59f)

Auf die „jüdischen Spekulanten“ wurde also ein Verhalten projiziert, das man selbst an den Tag legte oder das man nicht als eines erkennen wollte, was in der kapitalistischen Marktwirtschaft durchaus normal ist.

Der Antisemitismus erfüllte auch im Konflikt um das Westend seine altbekannte Ablenkungsfunktion. In einem Beitrag zum Katalog der Ausstellung „Kunst im 3. Reich – Dokumente der Unterwerfung“, die 1974 im Frankfurter Kunstverein gezeigt wurde, hieß es dazu: „Die Tabuisierung des Antisemitismus (nach 1945 – R.D.) verhinderte weitgehend, dass seine Funktion als abgebogener Antikapitalismus erkannt werden konnte… Dass antisemitische Anspielungen sich aber immer noch auf diese Funktion beziehen, davon kann sich jeder überzeugen, der mit Frankfurter Bürgern über die Wohnungs- und Bodenspekulation in dieser Stadt spricht – oder über die Bankpleiten der letzten Zeit.“ (Diederich / Grübling 1974, S. 214)

„Linksfaschismus“

Der Artikel „Reicher Jude von links“ von Joachim C. Fest in der FAZ vom 19.3.1976 war der Auslöser einer ersten heftigen Debatte über „Der Müll, die Stadt und der Tod“, nachdem das Stück im dritten Band der Edition von Fassbinders Werken für das Theater bei Suhrkamp herausgekommen war.

Fest begann mit einer Etikettierung. Der Begriff „Linksfaschismus“, der bisher ungenau und polemisch verwendet worden sei, treffe „aufs exakteste“ auf das Stück zu.

Dieser Begriff, von Jürgen Habermas zur Kritik des linken Aktionismus der 68er-Bewegung ins Spiel gebracht, wurde schon damals als problematisches Konstrukt analog zur Totalitarismusthese („Rot gleich Braun“) empfunden. Fest verwendete ihn nicht nur zur Etikettierung Fassbinders, sondern auch, wie sich im Verlauf des Artikels zeigte, der Linken insgesamt. Voraussetzung für diese Begriffsbildung ist, dass eine intendierte kapitalismuskritische Tendenz als in Wirklichkeit antisemitisch gewertet wird.

Fest referierte kurz den Inhalt von Fassbinders Stück, soweit es die Figur des „reichen Juden“ betrifft. Dieser sei „zum Typus verallgemeinert“, ein durch und durch negativer Charakter.
In der Darstellung Fests kamen bezeichnenderweise die beiden im Stück agierenden Nazis und ihre Rolle gegenüber dem „reichen Juden“ nicht vor. Unter den in einem Kasten herausgestellten Zitaten, die den Antisemitismus des Stücks (und Fassbinders) belegen sollten, fand sich außer „entlarvenden“ Äusserungen des „reichen Juden“ nur der krasse Monolog Hans von Glucks, „eines Geschäftsmanns“: „Er saugt uns aus, der Jud…“ Das stand da so als sei es eine Aussage, mit der sich der Autor eventuell identifizierte, oder die er aus purer Lust an der Provokation hingeschrieben hatte.

Diese Vorgehensweise bildete das Modell vieler weiterer Artikel in den Feullitons, die folgen sollten.

Joachim Fest schrieb: „Die Szenerie dieser Moritat bildet zweifellos Frankfurt. Und zweifellos gibt es in dieser Stadt ein organisiertes Ganoventum jüdischer Herkunft, nicht anderes als ein jugoslawisches, türkisches und vor allem, natürlich, ein deutsches. Und gewiss ist inzwischen denkbar, ein Stück mit einer jüdischen Negativfigur zu schreiben. Wie es indessen hier geschieht, bleibt es nicht nur ohne jeden literarischen Wert, sondern ist, wie die beliebig vermehrbaren Zitate zeigen, die wir abdrucken, nur noch billige, von ordinären Klischees inspirierte Hetze. Der ‘reiche Jude’ wird als Blutsauger, Spekulant, Betrüger, Mörder und zudem als geil und rachsüchtig dargestellt.“ (I, S. 20)

Dass das „Blutsaugen“, die „Geilheit“ und der „Betrug“ als hasserfüllte Projektionen in den Tiraden der beiden im Stück auftretenden Antisemiten und Nazis dargestellt werden und der „Mord“ eine „Tötung auf Verlangen“ (oder Mitleid) ist, konnten die Leserinnen und Leser nicht ahnen, die sich auf das Urteil eines als seriös geltenden Historikers verließen.

Der weitaus größere Teil des Artikels von Fest war seinen Spekulationen darüber gewidmet, was die Motive für den von ihm unterstellten Judenhass des Stückes seien. Da vermischte sich der noch virulente gewöhnliche Antikommunismus der Zeit des Kalten Krieges mit einem verkürzten Antifaschismus, der die sozialen und ökonomischen Interessen, die sich mit dem „Nationalsozialismus“ verbanden, ausspart, und ihn auf den antijüdischen Rassismus reduziert, ohne dessen Funktion für das Regime erklären zu wollen.

In diesem Sinn war auch Joachim Fests Buch und Film über Hitler („Hitler – eine Karriere“) angelegt gewesen. Das deutsche Bürgertum und vor allem die Unternehmerschaft sollte von jeder besonderen Verantwortung für die Installierung des NS-Regimes freigesprochen werden. Dessen „plebejischer“ Charakter wurde dafür herausgestellt.

Fest über Fassbinder und die Linke, der Fassbinder als eher anarchisch Denkender nur in einem weiteren Sinne angehörte: „In welcher Gestalt der Faschismus von links sich bei uns bislang auch immer offenbart hat, er war von antisemitischen Regungen weitgehend frei. Erst die Politik der Sowjetunion gegen den Staat Israel, die ungerührt antisemitische Affekte mobilisierte, hat auf der linken Szene der Bundesrepublik das Bewusstsein verbeitet, der Antisemitismus sei ein Element der Weltrevolution und habe mit dem Judenhass des Deutschen Reiches nichts zu schaffen. Das macht dem linken Antisemitismus das gute Gewissen.“

„Zu den Motiven mag zählen, dass die Linke seit geraumer Zeit kein Feindbild mehr besitzt; und sie bedarf der Figur des anschaubaren Feindes, um die erwiesenermassen geringe Anziehungskraft der eigenen Idelogie zu kompensieren. Erstmals ist es nun wieder der ‘reiche Jude’.“

Das „erstmals nun wieder“ unterstellte, der „reiche Jude“ sei jemals ein genuines Feindbild der Linken gewesen – abgesehen von den schon erwähnten und innerhalb der Arbeiterbewegung selbst kritisierten und bekämpften Abirrungen und den stalinistischen Perversionen linken Denkens und Handelns. Fest unterstellte, die Linke habe es wie die Faschisten nötig, Kapitalismuskritik durch eine Ethnisierung des Kapitals, durch eine Ablenkung auf den jüdischen Sündenbock zu ersetzen.

Wolfram Schütte nannte das zurecht in der „Frankfurter Rundschau“ vom 26.3.1976 „pauschalisierende Demagogie“: „Für wahr will er haben, was nur pauschalisierende Diffamierung, diffuses Spüllicht auf bewusst falsch verwendeten Reizbegriffen zur Einheit eines Popanzes verschmelzen kann. Ziel: Faschismus = die Linke = Antisemitismus.“ (I, S. 22) Dasselbe habe Fest schon bei Pasolini probiert, dessen Film „Salo oder die 100 Tage von Sodom“ und zwei Romane, die angeblich „faschistische Titel“ trügen, ihn dazu brachten, von einem „’faschistischen Bewusstsein’, das von sich selbst nichts weiss“, zu reden.

Benjamin Henrichs wies in der „Zeit“ vom gleichen Tag zwar Fests Vorwürfe zurück, erklärte Fassbinder dafür aber zum eher unpolitischen, existenzialistischen Literaten:

„Das Entsetzen vor den Großstädten, die hasserfüllte Beschreibung eines Kapitalisten: zweifellos verarbeitet Fassbinders Stück Impressionen und Emotionen, wie sie auch Linke haben. Und nicht nur Linke. Das Erschrecken über die Zerstörung unserer Städte und die Wut über diejenigen, die mit dieser Zerstörung ihr Geschäft machen, findet man genauso bei Liberalen, Christen, Konservativen. Wichtig ist allein, wen Fassbinder für das Elend verantwortlich macht. Keinesfalls ein soziales System, keinesfalls den Kapitalismus. Schuld ist etwas sehr Allgemeines: der Zustand der Welt. Schuld ist auch der liebe, böse Gott (wieder kein sehr linkes Argument)… Ein Aufschrei-Drama, ein poetischer Amoklauf ist diese Stück; linke Literatur ist es nicht.“ (I, S. 23)

Auch das war eine von manchen Feuilletonisten – zum Beispiel von Joachim Kaiser in der „Süddeutschen Zeitung“ – gewählte Möglichkeit, dem Skandal des Stücks, der Antisemitismus-Thematik auszuweichen.

Der „reiche Jude“ – eine Projektionsfigur?

Das Verhältnis des „reichen Juden“ zum (kapitalistischen) „System“ – symbolisiert durch „die Stadt“ – wurde in vielen Beiträgen angesprochen. Der entscheidende Unterschied dabei ist, ob es so wahrgenommen wird, dass der „reiche Jude“ für das „System“ steht, es symbolisch darstellt bzw. an seine Stelle rückt (wie im klassischen Antisemitismus), oder ob es so wahrgenommen wird, dass die projektive Ablenkung vom „System“ auf den „reichen Juden“ vorgeführt werden soll (was einer aufklärerischen Absicht entspräche).

Ersteres war für die meisten jüdischen Kommentatoren der Fall. So schrieb Friedrich Uttiz in der „Allgemeinen unabhängigen jüdischen Wochenzeitung“ vom 28.3.1976: „Prostitution, Abnormität, Vulgarität bilden den Hintergrund gewollter sozialer Kritik an vorherrschenden Verhältnissen.“ Der „reiche Jude“ sei „der Typ, der alles personifiziert, was am heutigen System verurteilungswürdig erscheinen mag“. Über die antisemitische Hassrede Hans von Glucks, der „kein Typ“ sei, sondern „ein Mensch mit Namen“, schreibt Uttiz, sie entspräche „der Tendenz des Stückes“. Denn Fassbinder behaupte von sich, „dass er das, was er schreibt, auch glaubt. Was glaubt er nun in diesem Stück?“ Es folgte ein Zitat des zweiten bei Fassbinder auftretenden Nazis: „Es ist keine Last der Mörder von Juden zu sein, wenn man die Überzeugung hat, die ich habe.“ Dazu Uttiz: „Glaubt er (Fassbinder) das? Oder glaubt er das, was der Geschäftsmann Hans von Gluck sagt? Denn mit dem REICHEN JUDEN identifiziert sich Fassbinder doch gewiss nicht.“

Der Sinn des Stückes klinge „eher in eine Rechtfertigung, eine Apologetik der Judenmorde aus, als in eine Anklage der Verhältnisse, die Fassbinder angeblich kritisieren will. Wir sind gewiss noch nicht so weit, dass man heute derartige Literatur als harmlos betrachten könnte. Es genügt ja, dass der evangelische Kölner Bankier Herstatt mit Vornamen David heisst, um ihn in der öffentlichen Meinung zum Juden zu machen. Und es genügt, dass der jugoslawische Baulöwe Weissenberger (ebenfalls ein Bankrotteur), weil er aus dem Osten kommt und einen deutschen Namen hat, als Jude betrachtet wird.“ (I, S. 24)

Die Macht der antisemitischen Projektionen, die sich an Namen festmacht – wie in Frankfurt auch an dem des Hochhaus-Erbauers Ali Selmi, der fälschlich als Jude galt – wird hier deutlich. Der Autor des Artikels, der gerade die in der Bundesrepublik real vorhandenen Vorurteile über Juden (als „Bankiers“ und „Baulöwen“) an diesen krassen Beispielen dargestellt hatte, kam zu dem Schluss: „Fassbinder schafft Vorurteile … gegen die Juden, die der Vergasung entgangen sind“. Als ob Fassbinder die Vorurteile hätte schaffen können, die selbst nach Meinung des Autors schon da waren.

Differenzierter fiel die Kritik von Uwe Schultz in der „Stuttgarter Zeitung“ vom 27.3.1976 aus:

„Zwangsläufig dringt Fassbinder nicht – die Form des Stückes verweigert es zudem – bis zur klaren Aussage darüber vor, ob es der Jude ist, der den Kapitalismus zur Hochblüte seiner Exzesse treibt, oder ob er, selbst ein Opfer (‘der Plan ist nicht meiner’), sich zur egoistisch-skrupellosen Mittäterschaft hinreissen lässt, die Situation ausnutzt, sogar die mörderische Vernichtung seiner Glaubensbrüder ins Kalkül der Korruption einbezieht.

Natürlich steht Fassbinder jener theoretische Notausgang offen, in den Negativ-Figuren seines Stückes nur erbarmungswürdige Schemen eines Systems zu sehen, das sie in ihrer menschlichen Würde verzerrt hat. Auch der ‘reiche Jude’ erscheint aus der Perspektive eines derartigen ideologischen Affronts nur als Sack, auf den geschlagen wird, weil er sich vom Esel tragen lässt, dem eigentlich die Prügel der Kritik zugedacht sind.“ (I, S. 25f)

Hier schien eine Ahnung auf, was das Stück Fassbinders sein oder bewirken könnte: eine Aufdeckung dieses Ablenkungs-Mechanismus, der allgemein bekannt ist, aber selten genauer erklärt wird.

Aber der Autor des Artikels schützte sich und den Leser sogleich vor dieser Erkenntnis, indem er fortfuhr: „Doch was in solcher Weise als Erklärung verstanden werden soll, was aus der sozialanklägerischen Verantwortung sich abzuleiten vorgibt, klärt nur die Implikationen einer Systemkritik, deren Folgerungen erschreckend reibungslos über die Stationen Antikapitalismus, Antiisraelismus bis zum Antisemitismus laufen.“ (I, S. 26)

Eine solche „Reibungslosigkeit“ ist aber nur denkbar, wenn die Gleichung „Antikapitalismus = Antisemitismus“ bereits vorausgesetzt wird. Wenn Fassbinder diese Gleichung nicht als falsche Gleichsetzung hätte zeigen wollen, hätte es der beiden Nazis in seinem Stück, die sie – wie zu Zeiten des 3. Reiches – in ihren Hetzreden propagieren, nicht bedurft. Dann hätte er sich mit der Figur des „reichen Juden“ begnügen können.

Dem Einerseits-Andererseits verhaftet war auch die Kritik von Lothar Schmidt-Mühlisch in der „Welt“ vom 27.3.1976. Einerseits erkannte der Rezensent: „Fassbinder nimmt das falsche Bewusstsein ernst, spielt es nach, ohne gleich die korrigierende Reflexion einzuschalten.“ – „Fassbinder reagiert auf die Welt, in der er lebt, er reagiert aus eigenener Betroffenheit. Seine Filme und Theaterstücke sind Schicksalsbeschreibungen von innen heraus. Nicht umsonst erkennt er: ‘Ich kann als Deutscher nur deutsche Filme machen. Ich muss das Milieu kennen, muss mit ihm vertraut sein.’ Dementsprechend bestehen seine Werke aus Zitaten, Fundstücken, Erzählungen, die er gehört hat.“

Bei dem Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ habe Fassbinder aber mit unzulänglichen Mitteln gearbeitet und sich vergriffen. Zwar sei sein Stück „mit Sicherheit ursächlich nicht antisemitisch gemeint“. Aber: „Ein solcher Jude, wie ihn Fassbinder hier vorführt, ist ein historisches Klischee. Das war geschichtswirksam und ist ohne diese historische Dimension nicht darstellbar. Das Bedenken eines millionenfachen Leidens und Sterbens aus der apokalyptisch-neurotischen Wirkung eines Klischees verbietet es, sich auf dieses Klischee einzulassen.“ (I, S. 27)

In einer Stellungnahme in der „Zeit“ vom 9.4.1976 bescheinigte auch Jean Améry Fassbinder, kein „Judenfresser“ zu sein und kein antisemitisches Machwerk geschrieben zu haben: „Der reiche Jude Fassbinders ist weniger tendenzhaft dargestellt als Shakespeares ‘Kaufmann von Venedig’, Marlowes ‘Jude von Malta’, Hauffs ‘Jud Süß’. Im Gegenteil, dieser geldschwere jüdische Gauner aus Frankfurt ist … so etwas wie die tragische Figur des Stückes, und in der Tragik heben ja die moralischen Begriffe sich auf.“

Fassbinder sei aber „ahnungslos, und was in seinem Drama als ‘Antikapitalismus’ sich hervortat, ist so beschaffen, dass es in seiner Simplifizierung noch Sartre in die Arme Raymond Arons treiben könnte. Dass Fassbinder sich nicht den ‘reichen Düssseldorfer’, gegen den der ‘reiche Jude’ nur ein bettelarmer Wicht ist, als Anti-Helden wählte, vielmehr den alten Shylock aus der verstaubten Truhe holte, ist so sozialismusfern, so ‘rechts’ wie nur möglich.“ (I, S. 31)

Die Möglichkeit, dass Fassbinder eben nicht das bundesdeutsche Unternehmertum in seinem Stück porträtieren, sondern ein populäres Projektionsbild zeigen wollte, hinter dem dieses sich für die Kleinbürger verstecken konnte – „fürs deutsche Haus, ein schlecht übertünchtes braunes“ (Améry) – zog er nicht in Betracht.

In einem in derselben Ausgabe der „Zeit“ erschienenen Interview sagte Fassbinder selbst, dass sein Stück „eine spontane Reaktion auf eine Wirklichkeit“ sei, die er in Frankfurt vorgefunden habe:

„Vor fünf Jahren hätten die Leute, die darüber berichtet hätten, sich an die literarischen Qualitäten des Textes gehalten und hätten es als selbstverständlich genommen, dass eine Stadt, dass die Methoden, eine Stadt zu verändern, angegriffen werden. Das ist doch der Grund für die Aggressivität jetzt: nicht, dass es da einen Juden gibt; nicht, dass da irgendwelche angeblich schweinische Ausdrücke vorkommen; sondern dass das anerkannte Gemeinwesen als etwas Negatives gezeigt wird.“

Wie seine Gegner zeigte Fassbinder sich nicht in der Lage, die Position des Anderen zu verstehen – in diesem Fall die verletzten Gefühle von Jüdinnen und Juden, die sich eben daran festmachten, „dass es da einen Juden gibt“. Sie ließen sich auch nicht von Fassbinders – und anderer – Lesart beeindrucken, die er so auf den Punkt brachte:

„Ich bin absolut unbefangener als die, die mich angreifen. Wenn ich früher das Stück gelesen hätte, hättte ich vielleicht auch in der Figur des Juden die Lüsternheit entdeckt, die Popanzhaftigkeit, die jetzt hineingelesen worden ist – was im Stück, wenn man es genau und ruhig liest, nicht drin ist. Der Jude ist der einzige in dem Stück, der in der Lage ist zu lieben, der einzige, der imstande ist, die Sprache, die er spricht, als ein Abkommen zwischen Leuten zu erkennen. Er ist absolut eine Figur mit positiven Einzelheiten.“ (I, S. 32)

Nach diesem Interview folgte im Dossier der „Zeit“ eine Stellungnahme von Gerhard Zwerenz, dessen 1973 erschienener Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“ die Vorlage für Fassbinder bot, unter dem Titel: „Linker Antisemitismus ist unmöglich“. Zwerenz begründete das wie folgt:

„Der Antisemitismus war und ist rechts, national, biologistisch, rassistisch. Die Juden werden als mindere Rasse diskriminiert, kriminalisiert, verfolgt, bestraft, vernichtet. Man verbot den Juden die meisten Berufe und trieb sie ins Geldgeschäft. Die Nazis dann lenkten den Unmut des Volkes vom Kapital ab und auf die Juden hin. Das nationale deutsche Kapital stempelte die Juden zu Sündenböcken, so ließ sich leicht arisieren.“ (I, S. 33)

Hier wurde zum ersten Mal so deutlich in der Debatte die Funktion des Antisemitismus als Ablenkungsinstrument im Interesse der Kapitaleigner und ihrer politischen Freunde benannt. Allerdings war die daraus abgeleitete Feststellung, es könne keinen linken Antisemitismus geben, nur auf einer rationalen Ebene richtig. Sie unterschätzte die weiteren, irrationalen Dimensionen des Antisemitismus, die ihn auch für diejenigen attraktiv machen können, die sich als links verstehen.

In der Geschichte der Arbeiterbewegung gibt es viele Beispiele für antisemitische „Abweichungen“. Auch heute kann man – vor allem im Internet – beobachten, wie Kritik an der herrschenden Wirtschaftsordnung, an den Banken und an den Finanzmärkten übergehen kann in Verschwörungstheorien, in die Personalisierung von strukturellen Ausbeutungs- und Machtverhältnissen, in Mythen von der Allmacht bestimmter Gruppen, hinter denen dann die Juden vermutet werden können.

Schließlich kam in der „Zeit“ auch Karlheinz Braun zu Wort, der Lektor, der Fassbinders Texte im Suhrkamp-Verlag und nachher im Verlag der Autoren betreut hat:

„’Die Städte sind kalt, und die Menschen frieren zu recht’, sagt der reiche Jude. ‘Warum bauen sie solche Städte?’ Die Figuren stecken in dem geschlossenen System der Stadt, dem des Kapitals: alle führen sie die Geschäfte der Stadt aus ‘nach einem Plan (so der reiche Jude), der ist nicht meiner, der war da, ehe ich kam.’ Sie funktionieren nach einem System – aber sie fühlen noch…

Der Jude, der im System der Stadt seine Funktion hat, hat Roma nicht zufällig als Opfer gewählt. Auf ihre Frage: ‘Was ist es, dass der Jude mich benutzt, um dich zu erniedrigen’, antwortet ihr Vater, der Faschist Mueller I: ‘Er hebt dich empor, um mich zu erniedrigen. Das ist einfach.’ Der Vater, der schuld sein könnte am Tod der Eltern des Juden, bekennt: ‘Es ist keine Last, der Mörder von Juden zu sein, wenn man die Überzeugung hat, die ich habe.’ Aber das System der Stadt, in dem der Jude seine Funktion hat, erscheint auch dem Faschisten pervertiert: ‘Was für ein Staat ist das, der zulässt, was täglich geschieht.’ Der Jude wird ihn nicht erniedrigen können. Der Faschist kann warten. ‘Im Grunde ist alles beim Alten und hat seine Ordnung. So warte ich drauf, dass meine Rechte auch wieder Recht werden.’ Diese Perspektive wird den reichen Juden, sobald es opportun erscheint, wieder einmal seiner Funktion im System der Stadt entheben. Dann wird der reiche Jude nicht nur ein gewöhnliches Opfer des Systems ein, sondern wieder einmal sein spezielles. Der ‘Müll’, Menschen und Material, als Auswurf der ‘Stadt’, deren System zum ‘Tod’ führt. Eine einfache Metapher. Vielleicht zu einfach für den, der sie nicht verstehen will.“ (I, S. 33f)

Als einziger unter den bisherigen Rezensenten zitierte Braun den Nazi Müller I mit dem Satz „Im Grunde ist alles beim Alten und hat seine Ordnung.“ Das war das, was die 68er auf die Barrikaden trieb und was vielleicht auch Fassbinder bewog, sein Stück zu schreiben. Wenn Joachim Fest und andere das „nicht verstehen wollten“ oder nur zu gut verstanden, dann drehten sie den Spieß einfach um und unterstellten den 68ern und Fassbinder die gleiche Gesinnung wie sie die von ihnen Bekämpften hatten.

Das letzte Wort behielt in der „Zeit“ vom 9.4.1976 Siegfried Unseld, der als Verleger die Entscheidung getroffen hatte, den Band mit dem „Müll“-Stück nach den öffentlichen Angriffen von Fest und anderen aus dem Verkehr zu ziehen: „Das Stück greift mit Recht ein Tabu an. Doch Fassbinders wenig differenzierte Holzschnitt-Technik entgeht nicht der Gefahr, gefährliche Klischees, die Stück und Autor bekämpfen wollen, für ein durch deutsche Geschichte belastetes Publikum erst wieder zu reproduzieren.“ (I, S. 34)

Welches Tabu meinte Unseld? Das Tabu, einen Juden nicht nur als guten Menschen – im Sinne des „Nachkriegs-Philosemitismus“ – zeigen zu können? Oder das Tabu, dass über die Funktion des Antisemitismus als abgefälschtem, scheinbaren Antikapitalismus nicht gesprochen werden sollte?

Unter dem Titel „Gefährliche Klischees“ bescheinigte Wilfried Wiegand in der FAZ vom 2.4.1976 – im Unterschied zu Joachim Fest – Zwerenz und Fassbinder, keine Antisemiten zu sein. Er gestand zu – wiederum im Unterschied zu Fest: „Was sie in ihren umstrittenen Arbeiten auszudrücken suchten, ist nicht Judenhass, sondern eine Art Zerrbild unserer umweltverschmutzten Gegenwart, wobei, nach den Konventionen des linksmodischen Kulturbetriebs, die Schuld an allen schlimmen Zuständen selbstverständlich dem bösen Kapitalismus gegeben wird.“

Wir erinnern uns: Fest hatte von einem für die Linke angeblich notwendigen neuen Feindbild gesprochen, das sie im „reichen Juden“ nun „wieder“ gefunden habe. Wiegand räumte ein, dass es immer noch das alte ist: der „böse Kapitalismus“. Er konzedierte sogar, dass Zwerenz und Fassbinder „die Popanz-Gestalt des bösen Juden keineswegs nur dämonisieren, sondern durchaus auch als ein hässliches Opfer hässlicher, sprich: kapitalistischer Verhältnisse darstellen wollten. Die kapitalistische Wirtschaftsform zu kritisieren, ist aber prinzipiell erlaubt.“

Wie kam Wiegand dennoch zu einer Verurteilung des Romans von Zwerenz und des Stückes von Fassbinder? Er warf beiden vor, Thema und Mittel nicht hinreichend durchdacht zu haben. Sie seien den künstlerischen Anforderungen bei einem so heiklen Thema nicht gerecht geworden, hinter den „analytischen und moralischen Standards der eigenen Zeit“ zurückgeblieben: „In Deutschland missverständlich über Juden schreiben – das heisst schlecht schreiben. Damit erledigt sich auch die törichte, weil falsch gestellt Frage, die in den letzten Wochen gern und oft diskutiert wurde: ob man denn in Deutschland nicht mittlerweile in einem Kunstwerk einen Juden negativ zeichnen dürfe.“ (I, S. 35)

In der FAZ vom 10.4.1976 rechtfertigte Joachim Fest in einem „Nachwort zu R.W. Fassbinder“ noch einmal seine Etikettierung „Linksfaschismus“. Der Zerfall der linken „Gedankengebilde“ habe bei denen, die an sie bisher glaubten, einen „Realitätsverlust“ zur Folge, aus dem sich „Wahnsysteme“ entwickeln könnten: „Es ist die Sorge doch gewiss nicht unbegründet, dass in solche Wahnsystemen auch der ‘Judd’, wie Fassbinder in seinem Stück gelegentlich sagen lässt, einen Platz erhält. Auch der von Hitler mobiliserte Antisemitismus gedieh erst auf dem Untergrund eines unvermittelt eingestürzten ideologischen Weltbildes.“

Fest kam zu dem Schluss, man müsse „heute im Grunde den ‘linken’ Antisemitismus eher fürchten; der von rechts ist mehr oder minder eine Sache des Polizeireviers.“ (I, S. 39)

Linke Positionen

Mit einer ganz eigenen Schärfe griffen nun auch jüdische Linke in die Debatte ein. Auf Joachim Fests Aufsatz antwortete in der Osterausgabe 1976 der „Frankfurter Rundschau“ Heinz Brandt. Über ihn steht in der Dokumentation zu lesen: „Heinz Brandt, Jahrgang 1909, Jude, während der NS-Zeit sechs Jahre in Zuchthaushaft und vier Jahr im Konzentrationslager, war bis zum 17. Juni 1953 Sekretär in der Ost-Berliner SED. Er fiel wegen seiner Haltung zum Juni-Aufstand in Ungnade und übersiedelte 1958 nach West-Berlin. Dort wurde er 1961 nach Ost-Berlin verschleppt und zu 13 Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach drei Jahren wurde er – nach Intervention hoher Persönlichkeiten, u.a. von Betrand Russell – nach dem Westen abgeschoben und arbeitete dann als Journalist bei der Gewerkschaftspresse.“ (I, S. 40)

Brandt fragte nach der „spezifischen Funktion“ des Antisemitismus-Vorwurfs gegen Zwerenz und Fassbinder „in der aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung“: „Es sieht ganz danach aus, als ob die Juden vom großen Geld wiederum als Sache angesehen, behandelt, als Manövriermittel missbraucht, verbraucht werden sollen. Diesmal allerdings werden sie nicht als Ballast abgeworfen, sondern ihr geringer Rest als Scheuklappe genutzt. Siehe da, der Sündenbock ward zum Schutzschild.“

Zwerenz und Fassbinder hätten die „Schauermär“ beschrieben „vom Glanz und Elend der korrumpierten (wenn nicht korrupten) Römer-Koalition, die sich – im Bunde mit den vornehm im Hintergrund agierenden kreditgebenden Großbanken, Versicherungen, Bürohaus-Konzernen – die Dreckarbeit vom Strohmännern, den Abrahams, einer kriminellen Subkultur besorgen ließ, bis dann die Eigentümer die Wolkenkratzer in Besitz nahmen, die gigantischen Prestigebauten, die uns die Atemluft nehmen.“ (I, S. 40)

Heinz Brandt weiter: „In der Tat entstammen der alte Antisemitismus und die neue Judenhudelei der gleichen trüben schwarz-braunen Quelle. Beide dienen dem gleichen Interesse – ungleichzeitiges Auftreten und scheinbarer Gegensatz dürfen nicht darüber hinwegtäuschen: sie dienen dem Interesse privilegierter Schichten, die besonders in krisengeschüttelten Zeiten ihre sozialschädlichen Vorrechte durch die Linke bedroht sehen, also gerade dann diese Linke insgesamt moralisch verunsichern, einschüchtern, diffamieren, an die Wand spielen wollen. Wurde diese Linke einstmals als judenhörig verteufelt, so wird sie nun als judenfeindlich verteufelt: das Falschgeld hat zwei Seiten.

Wir müssen zwischen den profitinteressierten Falschmünzern und den von ihnen Irregeführten, Verführten, Gutgläubigen, Betrogenen unterscheiden, die Blüten für bare Münze nehmen. Antisemitismus – so meinte August Bebel – ist der Sozialismus der dummen Kerls. Dann ist Philosemitismus der Humanismus der dummen Kerls.“ (I, S. 41)

Brandt stellte den „antijüdischen Doppeltrick Hitlers (die Linke ist jüdisch-marxistisch; das arische Kapital ist rein)“ dar, durch den das deutsche Großkapital „aus großer Krisennot gerettet“ worden sei:

„Nicht der Kapitalismus trug die Schuld an allen Nöten und Mißständen, sondern ausschließlich die Juden. Darum die Einteilung des Kapitals in schlechtes ‘raffendes’ (Juden) und gutes ‘schaffendes’ (Arier). Mit diesem antijüdischen Feindklischee wurde die gesamte Linke für vogelfrei erklärt, schlachtreif geschrieben. Etwas Besseres konnte den ‘arischen’ deutschen Konzernherren gar nicht geschehen, denn nun war ihr Wunschtraum erfüllt, der Klassenkampf ausgerottet, die ‘Volksgemeinschaft’ terroristisch sichergestellt – der ‘Wirtschaftsführer’ befahl seiner ‘Gefolgschaft’. Schade nur für das deutsche Kapital, dass der offene Terror, der totale Raubkrieg, das perfekte Verbrechen mit der totalen Niederlage endete. Hitler konnte nicht halten, was er versprochen hatte – ausgenommen Mord.“ (I, S. 42)

In ähnlich scharfer Form setzte sich Walter Boehlich mit der Kritik an Fassbinders Stück auseinander. In der Monatszeitschrift „konkret“ vom Mai 1976 schrieb er unter dem Titel „Juden sind berührbar“:

„Wer oder was hat diese Stadt zerstört, wer oder was ist schuld an der Zerstörung? Menschen oder ein System oder beides in einem kaum mehr auflösbaren Prozess wechselseitiger Abhängigkeiten? Darüber zu sprechen, ist in Frankfurt kaum möglich. Alles, was geschehen ist, wird durch Sachzwänge erklärt und entschuldigt, als hätte es nur die Alternative gegeben, entweder die Stadt zu dem zu machen, was sie jetzt ist, zu einem Zentrum des internationalen Kapitals und des internationalen Verbrechens, oder sie zu lassen, wie sie war. Für vieles, was geschehen ist, ist die Frankfurter SPD verantwortlich, für mehr die unsoziale Marktordnung. Sind auch Personen verantwortlich?

Da wird es heikel. Kaum eines der Opfer der geschilderten Zerstörung hat dem ‘System’ die Schuld gegeben, das ist ungreifbar, bleibt anonym, aber der, der kommt und die Mieten erhöht und kündigt und abreissen und bauen lässt, der die Schlägertrupps schickt und die Demolierkommandos, der hat einen Namen, der ist ein Mensch, an ihn kann man sich halten, ihm kann man, was einem angetan wird, in die Schuhe schieben, ihn kann man, wenn es schlimm kommt, hassen. Jeder weiß, dass solcher Hass das Ergebnis undurchschauter wirtschaftlicher Prozesse ist, es hat aber den Anschein, als nähmen die Nutznießer dieser Prozesse den Hass, der ja nicht sie selbst trifft, sondern diejenigen, derer sie sich bedienen, durchaus in Kauf.“ (I, S. 42)

Boehlich stellte die sozialpsychologische Rolle der Personalisierung dar, auf deren Basis dann die Schuld bei einer diskriminierbaren Minderheit gesucht werden kann.

Versuch der Inszenierung

Rainer Werner Fassbinder hatte in seiner Zeit als Intendant des Frankfurter Theaters am Turm (TAT) selbst versucht, das Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ zu inszenieren. Sein Weggang vom TAT hing mit dem Scheitern dieses Versuchs zusammen.

In der Debatte um die 1984, zwei Jahre nach Fassbinders Tod, geplante und dann abgesetzte Aufführung des Stückes durch die Alte Oper im Rahmen der Frankfurt-Feste vertrat Oberbürgermeister Walter Wallmann (CDU) die Position: „Ich halte dieses Fassbinder-Stück für schlecht, und sehe in ihm eindeutig antisemitische Aussagen“.

Eine Zensur lehnte er ebenso ab wie die „missbräuchliche Inanspruchnahme“ des Rechts auf Freiheit der Kunst, um „Unmenschlichkeit verherrlichen“ zu dürfen. „Nein, wenn eine solche Aufführung eines solchen Stückes, dieses Stückes, dann bedarf es schon eines besonderen ästhetischen Umfeldes, in dem auch dargestellt wird, was mit Juden geschehen ist von unseren Landsleuten im Namen Deutschlands. Und ich erinnere an das, was Peter Weiss dazu gesagt und geschrieben hat.“ (Aus der Rede des OB in der Stadtverordnetenversammlung am 5.7.1984) (I, S. 49f)

Der Hinweis auf Peter Weiss bezog sich auf dessen dokumentarisches Theaterstück „Die Ermittlung“ zum Auschwitz-Prozess.

Kulturdezernent Hilmar Hoffmann argumentierte differenzierter, kam aber zu gleichen Schlüssen. Er zitierte Winfried Wiegand: „In Deutschland missverständlich über Juden schreiben – das heisst schlecht schreiben“ (s.o.). Fassbinder reflektiere „Thema und Mittel nicht hinreichend“:

„Man kann Fassbinders Stück insofern naiv heissen, weil es den Bewusstseinsstand eines einflussreichen Teils der Gesellschaft völlig falsch einschätzt und weil die antisemitischen Hasstiraden, die der Autor in gewiss kritischer Absicht wiedergibt, vor nicht allzu langer Zeit zum offiziellen politischen Vokabular gehörten und in den Köpfen der Menschen als Einladung zum Mord galten.
Zwar galt wohl für Fassbinder als abgemacht, dass die Verbindung von Judentum und Spekulantentum, wie sie von der Nazi-Propaganda unablässig eingehämmert wurde, keine rassisch bedingte ist.
Doch kein Autor darf davon ausgehen, dass Probleme, die er nicht mehr sieht, auch für alle anderen nicht mehr existieren.
Die schlimme Saat der Nazis wirkt fatal fort, wenn, selbst in kritischer Absicht, die Gleichsetzung Jude – Spekulant unkommentiert fortgeschrieben wird.“ (I, S. 53)

Es genügte Hoffmann nicht, dass die „Gleichsetzung Jude – Spekulant“ in dem Stück durch einen offenkundigen Nazi ausgesprochen wird, der keinerlei Sympathien beim Publikum erregen kann. Es genügte ihm nicht, dass in der Rede des Nazis die Funktionen des Antisemitismus an- und ausgesprochen werden, auch die des „sekundären Antisemitismus“ nach 1945. Die Mittel der Montage, der Übertreibung und des Schocks, mit denen Fassbinder anstelle von „Kommentaren“ arbeitete, erschienen ihm nicht als zureichend. Mehr ausformuliertes Lehrstück nach Brecht, weniger „Theater der Grausamkeit“ nach Artaud – mit einem „zerfahrenen, zerfallenden, unordentlichen Stück“ (Hoffmann) – wäre wohl seine ästhetische Devise gewesen.

Der DDR-Schriftsteller Heiner Müller, der als Dramaturg der aus „formalen Gründen“ abgesagten Inszenierung vorgesehen war, sagte dazu: „Das Stück ist dazu da, zu provozieren, es arbeitet mit den immer noch gängigen Klischees. Wenn die aber weiter tabuisiert werden, schafft man die Probleme nicht aus der Welt, sondern verstärkt sie.“ (Zit. nach Der Spiegel, 9.7.1984)

Gerhard Stadelmair schrieb unter dem Titel „Shylock in Frankfurt“ in der Stuttgarter Zeitung vom 12.7.1984 über die Absage der Inszenierung, dass „der Jude uns immer noch ein Tabu ist“:

„Fassbinders ‘reicher Jude’ ist kein Gran besser oder schlechter als alle anderen ‘Reichen’ in allen anderen möglichen Theaterstücken auch. Er ist exakt so böse wie die lieblose, mondeskalte Frankfurter Westend-Umwelt auch. Nur dass der Mann Jude ist, macht ihn für diejenigen, die ihn auf der Bühne nicht sehen wollen, zum Tabu. So wird der Fall Fassbinder auch zu einem Lehrstück. Zum Lehrstück darüber, wie sehr wir mit unseren Tabus noch im reinen sind, wie dringend wir sie benötigen, wie entscheidend sie uns helfen, zu überleben. Hätten wir sie nicht, wir müssten so vor uns erschrecken, dass es nicht auszuhalten wäre.“ (I, S. 62)

Hier wurde noch einmal deutlich, dass das Fassbinder-Stück nicht nur zwischen links und rechts polarisierte, sondern auch unterschiedlich wahrgenommen wurde, je nachdem, ob es aus der Perspektive derjenigen betrachtet wurde, die selbst oder deren Eltern der deutschen Tätergeneration angehörten, oder aus der Perspektive der jüdischen Opfer und deren Nachkommen. „Vor sich selbst erschrecken“ – das konnten nicht-jüdische Deutsche. In der Bundesrepublik lebende Jüdinnen und Juden erschraken darüber, dass „immer noch gängige Klischees“ über sie auf der Bühne eines städtischen Theaters vorgezeigt werden sollten.

In einem Interview mit der in Frankfurt erscheinenden „Abendpost/Nachtausgabe“ vom 12.7.1984 erklärte Ignatz Bubis, Vorstandsvorsitzender der Frankfurter Jüdischen Gemeinde, warum er das Stück für „faschistoid“ hielt: „Bei Streicher im Stürmer hieß es ‘Der Jude’, bei Fassbinder heisst es ‘Der reiche Jude’. Dieser Mann wird als Mörder, als Schänder, als Zerstörer hingestellt. Das ist nicht eine Person XY, nicht Moses Aronson oder Hans Müller, das wäre mir egal. Es gibt nur den ‘reichen Juden’, eine so schlimme Verallgemeinerung hat es seit 1945 nicht gegeben.“ (I, S. 64)

Im weiteren Verlauf des Interviews sagte Bubis zu der (falschen, aber oft kolportierten) Vermutung, er selbst könne als Immobilien-Kaufmann mit dem „reichen Juden“ gemeint sein: „Ich fühle mich nicht angesprochen“. Obwohl er „teilweise in Frankfurt als Synonym für Bautätigkeit dastehe“, habe er nur ein Bürohaus gebaut und ein weiteres geplant, aber 600 Wohnungen, „davon mehr als die Hälfte im sozialen Wohnungsbau“.

Fassbinder wolle in seinen Filmen und Stücken „eigentlich nur seine eigenen Probleme darstellen“.

Auf die Frage nach „Leuten Ihrer Religionszugehörigkeit“, die im Frankfurter Bahnhofsviertel Geschäfte gemacht haben, sagte Bubis: „Wir sind es gewohnt, dass es nicht heisst, der Zuhälter XY, sondern der ‘jüdische Zuhälter’ oder der ‘jüdische Rauschgifthändler’. Von den Juden wird etwas besonderes erwartet, und die Juden erwarten von sich selbst auch eine höhere Moral. Es steht fest, dass es an der Kriminalität im Bahnhofsviertel leider auch jüdische Beteiligte gibt.“ (I, S. 65) Die Jüdische Gemeinde distanziere sich von jedem Rechtsbeuger.

In einem Bericht über eine Diskussion zum Fassbinder-Stück stellte Günter Engelhard in der Züricher „Weltwoche“ vom 19.7.1984 trocken fest: „Als beliebter Sündenbock, auf den das illegale Treiben aller anderen Spekulanten trefflich abgewälzt werden kann, ist der ‘reiche Jude’ auch ohne Fassbinder in Mainhattan offenes Stadtgespräch.“ (I, S. 71)

Die Frankfurter Inszenierung

Mitte November 1984 erklärte sich der bisher im Feuilleton der FAZ als Theaterkritiker arbeitende Günther Rühle bereit, die Leitung des Frankfurter Schauspiels zu übernehmen. Rühle hatte sich schon in der Debatte über die gescheiterte Inszenierung der Alten Oper dafür eingesetzt, Fassbinders Stück aufzuführen, damit es nicht weiter in der Stadt „rumore“. Gegen eine professionelle Inszenierung an den Städtischen Bühnen hatten der OB und der Kulturdezernent keine Einwände erhoben.

Nachdem das Stück nun aber in den Spielplan 1985/86 des Schauspiels aufgenommen wurde, begann „eine neue, zum Teil sehr vehemente öffentliche Diskussion, die das Für und Wider deutlich machte und bald auch Aktivitäten politischer Motivierung entfachte, die schließlich zur Unterschriftensammlung, der Einreichung einer Klage wegen Volksverhetzung und zur Ankündigung von Demonstrationen am Tage der Uraufführung führten.“ (I, S. 77)

In einem Gespräch mit der „Frankfurter Neuen Presse“ am 9.8.1985 sagte Günther Rühle auf die Frage, was das von ihm angesprochene „Humanum“ bei Fassbinder sei, an das im Theater „immer durch die Figuren des Scheusals“ hindurch appelliert werde: „Das sehe ich in seinem Gespür für die moralischen und menschlichen Mutationen in der Großstadt. In seiner Sorge auch, hier werde alles zunehmend ein inhumanes Gemansche. Das Grundthema des Stücks ist doch nicht der reiche Jude, auf den sich alle beziehen, sondern die Frage: Was ist in dieser Welt der Interessen mit den menschlichen Beziehungen und vor allem mit der Liebe passiert?!“

Die daran anschließende Frage/Aussage der FNP: „Man kann, vielleicht muss man das Stück sogar so lesen. Da geht es gar nicht um einen objektiven Juden, sondern um die verzerrte Projektion des Juden. Also um die Projektion jener Unbelehrbaren, die den reichen Juden so teuflisch haben wollen.“ Rühle bestätigte das: „Ja, genau so ist es. Nehmen wir all die obszönen Stellen. Das sind genau die Projektionen der sogenannten arischen Gesellschaft mit ihrem unsicheren Sexualgefühl in bezug auf die Juden. Ich kenne das noch aus meiner Jugend: die Juden sind entweder unheimlich potent oder sie sind ganz impotent.“ (I, S. 79)

Rühle sagte in dem Interview, dass er auf die von jüdischen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland immer schon „praktizierten Dimensionen der Aufklärung“ und ihre „Liberalität“ vertraue.

Die Jüdische Gemeinde Frankfurts überzeugten diese Interpretationen nicht. Sie warf Rühle Profilierungssucht vor und blieb dabei: „Fassbinder-Stück ist antisemitisch“ (Frankfurter Neue Presse, 10.8.1985).

Am 12.9.1985 gab es eine Debatte im Stadtparlament. Es lag ein Antrag der CDU-Fraktion vor, die Inszenierung zu missbilligen, der am Ende mit Mehrheit beschlossen wurde. Dagegen sprachen sich die Fraktionen der SPD und der Grünen aus. Aus der Begründung der SPD-Fraktion für ihr Votum:

„1. Nach unserer Auffassung handelt es sich bei dem Fassbinder-Stück nicht um ein antisemitisches oder faschistisches Stück. Wir halten auch Fassbinder selbst nicht für einen Antisemiten und Faschisten.
Das gesamte künstlerische Werk Fassbinders zeigt auf, dass er eingetreten ist für eine Welt der Menschlichkeit und Emanzipation.

  1. Ginge es bei dem Fassbinder-Stück um ein antisemitisches oder faschistisches Machwerk oder ginge es um ein Stück, das Rassenverfolgung oder gar Rassenvernichtung verherrlicht, könnte dies nicht unter dem Schutz der Kunstfreiheit gem. Art. 5 GG stehen.
  2. Wir wissen, dass Teile des Fassbinder-Stückes aus dem Zusammenhang gerissen werden können, um antisemitische Hetze zu betreiben.
    Die entsprechend geäußerte Sorge jüdischer und nichtjüdischer Mitbürger wird von uns verstanden und geteilt.
    Aufgrund dieser Positionen, die wir Sozialdemokraten vor einem Jahr eingenommen haben, haben wir vor kurzem Gespräche mit verantwortlichen Künstlern des Schauspiels geführt und auch die vorhandenen Bedenken und Sorgen vorgetragen.
    Dabei wurde deutlich, dass die Künstler sich ihrer Verantwortung sehr bewusst sind.
    Sie haben uns davon überzeugt, dass durch die Inszenierung des Fassbinder-Stückes und den Gesamtrahmen, in den das Stück gestellt wird, Missverständnisse ausgeräumt werden. Wir gehen davon aus, dass dies den Künstlern gelingen wird.“ (I, S. 86)

Hilmar Hoffmann schloss sich in einer sehr differenzierenden Rede letztlich dieser Position an.

Im Bericht über eine Diskussion im Frankfurter Schauspiel in der FNP vom 25.9.1985 hieß es: „Der nachdrückliche Hinweis, alle Personen des ‘Müll…’ seien Kunstfiguren, Modellpuppen mit Vorzeige-Charakter, Zustandsbeschreiber eines latenten Antisemitismus in dieser Republik, stieß auch auf Reserve. Michel Friedman von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt gab zu bedenken, dies sei literaturkritisch vielleicht richtig. Es sei auch müßig, darüber zu streiten, ‘ob dieses Stück antisemitisch sei oder nicht’, aber – und genau diese ‘Unwägbarkeit’ bewegt ihn und andere Aufführungsgegner – was wird die Aufführung dann an Ressentiments derer freisetzen, die nur auf mögliche Mißverständnisse warten?“

Und weiter: „Eine sehr demokratische, ja sehr gelöste Runde der Vernunft. Juristen, Hausfrauen, Interessenvertreter, Studenten, Pros und Contras mit dem gezügelten Fieber nach Aufklärung. Man hatte das Gefühl, hier kommen Gegner aufeinander zu. Sie umarmen sich nicht, aber sie probieren den geduldigen Dialog.“ (I, S. 101)

Die FAZ setzte am selben Tag in ihrem Bericht über die Veranstaltung nicht wesentlich andere Akzente:

„Eine Teilnehmerin warf … der Mehrheitspartei im Römer Heuchelei vor und konstatierte einen Widerspruch zwischen der Haltung zum Fassbinder-Stück und zur Ausländerpolitik. Der Besonderheit dieser Auseinandersetzung, die an tiefsitzende – im Gegensatz zur Hoffnung vieler – keineswegs verheilte Wunden rührt, wird diese Gleichsetzung so wenig gerecht wie die Aufforderung, doch auch über andere Aspekte des Stücks, die Lieblosigkeit in unseren großen Städten oder die angesprochenen sozialen Konflikte zu diskutieren…
Wie aber wirkt das Stück auf die hier lebenden Juden? Der Text, so Friedmann, werde von den meisten als Beleidigung empfunden. An Rühle gewandt, fragte eine Überlebende von Auschwitz: ‘Woher nehmen Sie den Mut, uns das Stück zuzumuten?’…
Der jungen Generation sprach Friedman die Bereitschaft zur Auseinandersetzung nicht ab: Juden wie Nichtjuden müssten gemeinsam gegen den Antisemitismus vorgehen und könnten nur gemeinsam eine rationale Bewältigung der Vergangenheit versuchen – eine emotionale sei nicht möglich: ‘Das Leid war zu groß.’ Er verwies auf das Problem, dass die Frankfurter Juden mehrheitlich nicht glaubten, mit dem Fassbinder-Stück Vergangenheit aufarbeiten zu können, während es bei den Nichtjuden eher umgekehrt sei. Es gebe auch andere Vorlagen zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.“ (I, S. 102)

Am Schluss der Dokumentation „Fassbinder ohne Ende“ des Frankfurter Schauspiels standen Stellungnahmen, die vor einer Aufführung des Stücks warnten. Sie reichten von örtlichen und überregionalen jüdischen Organisationen, dem Botschafter Israels, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, über die Landes- und Bundeszentralen für Politische Bildung bis zu den beiden höchsten Vertretern der christlichen Kirchen in Frankfurt und zum Evangelischen Regionalverband.

Als letzter Text war ein Essay von Ulrich Sonnemann abgedruckt: „Zum Weiterdenken – Geschichtsverdrängung als Selbstbetrug“. Er erschien zuerst in der von Heinrich Böll, Günter Grass und Carola Stern herausgegebenen Zeitschrift „L 80“, Heft 34/1985. Darin heißt es: „Die Offenheit und Selbsterkenntnis, mit der er (der ‘reiche Jude’ in Fassbinders Stück) es ablehnt, über seine Interessenlage sich und andere zu belügen, unterscheidet ihn am deutlichsten von seinen Gegenspielern und das Stück von einem antisemitischen: dass ein Selbstbelüger darin auftritt, der als ausdrücklich identifizierter Nazi sich wie einer äussert, nämlich die Schuld stets bei anderen sucht, wobei er sein Ressentiment auf den reichen Juden münzt, gehört zum Realismus des Stücks.“ (I, S. 120)

„Der Fall Fassbinder“

Die zweite Dokumentation, die das Schauspiel Frankfurt unter diesem Titel nach der Bühnenbesetzung und der Absetzung des Stücks herausgab, war wesentlich umfangreicher als die erste. Denn die Reaktionen auf die versuchte Uraufführung und die dann für ausgewählte Vertreter der Presse veranstaltete „Wiederholungsprobe“ wiederholten nicht nur alle bereits ausgetauschten Argumente des Für und Wider, nahmen Stellung zur Inszenierung und zur Bühnenbesetzung, sondern stellten den „Fall“ noch einmal verstärkt in allgemeinpolitische Zusammenhänge.

In der Vorbemerkung schrieb Günther Rühle: „Der Versuch, das Stück auf die Bühne zu bringen, führte direkt in das Gewirrr von Verdrängungen, Schuldgefühlen, Ängsten, Beschuldigungen, von anhaltendem Zorn, Bußgesinnung, Furcht vor neuem Antisemitismus und dessen dunkle Restbestände. Konflikte, die bisher stumm oder im Verborgenen blieben, wurden, getrieben von Empfindungen wie von Interessen, plötzlich offenbar, Bastionen wurden errichtet oder wieder bezogen, politische und moralische Rollen okkupiert, ein Kampf an diesem Ort ‘Theater’ geführt, dessen Fronten ganz woanders hätten verlaufen müssen. So wurde die Diskussion um ein Schauspiel, das viel gegenwärtige Realität in sich aufgenommen hatte, zu einer deutschen Diskussion, in der Fragen der Erinnerung, der Nachwirkung der Verbrechen der Nazi-Zeit, ihrer Verjährbarkeit, der psychischen Belastbarkeit, der Opportunität und der Normalisierung wie des Verhältnisses der Kunst zur Politik behandelt wurden: als auch die Frage, was an der Zeit oder noch nicht an der Zeit sei, was man könne, dürfe, solle.“

Michael Töteberg schrieb in der „TheaterZeitschrift“ Heft 14, Winter 1985/86:

„Wohl in keiner anderen deutschen Stadt ist offener Antisemitismus so virulent und in letzter Konsequenz von der Obrigkeit zu verantworten. Bei den rund 30 Bodenspekulanten, die Anfang der siebziger Jahre die Zerstörung von Wohnraum zugunsten von Banken und Bürohochschäusern betrieben, handelt es sich ‘bis auf eine Handvoll Ausnahmen um Personen jüdischer Abstammung’ (Ernst Stracke: Stadtzerstörung und Stadteilkampf in Frankfurt am Main, Köln 1980, S. 51). Die brutalen Methoden, mit denen diese Spekulanten alte Häuser aufkauften, die Bewohner vertrieben und Wohnraum vernichteten, um Abrißgenehmigungen zu bekommen, haben in Frankfurt einen neuen Antisemitismus geschürt.“ (II, S. 6)

Die hier impliziten Annahmen waren zwar „naheliegend“ und wurden in der Debatte von vielen geteilt. Sie waren aber, genau betrachtet, durchaus fragwürdig. Zum Beispiel, dass es sich um einen „neuen“ Antisemitismus gehandelt habe, obwohl alle empirischen Untersuchungen darauf hindeuteten, dass der „alte“ immer noch in der Bundesrepublik wie in Frankfurt am Main vorhanden war, wenn auch – wegen seiner offiziellen Tabuierung – eher latent. Die zweite Annahme war ebenso fragwürdig: Dass das Entstehen oder Stärkerwerden („Schüren“) von Antisemitismus durch ein irgenwie geartetes Verhalten von Juden erklärbar sei.

Töteberg hätte dies selbst auffallen können, da er ja schrieb, dass „zugunsten von Banken und Bürohochhäusern“ Wohnraum zerstört wurde. Es haben also (auch) andere profitiert, nicht (nur) Immobilienkaufleute „jüdischer Abstammung“. Es wäre also zu erklären, warum sich die Aggressionen ausschließlich auf Juden richteten. Es wäre die Funktion des Antisemitismus zu erklären. Wenn das nicht getan wird, wird das antisemitische Denkmuster nicht widerlegt, dass die Juden in irgendeiner Weise selbst am Hass auf sie schuld seien. Daran ändert auch Tötebergs Hinweis nichts, dass „in letzter Konsequenz“ „die Obrigkeit“ alles zu verantworten habe.

Der Verzicht darauf, über die Funktionen des Judenhasses aufzuklären, statt nur vor ihm zu warnen, wurde auch von den Gegnern des Stücks praktiziert. So sagte Ignatz Bubis in einer Diskussion mit Günther Rühle, dass er „Angst vor einem neuen Antisemitismus hat. ‘Die steigene Arbeitslosigkeit ist der Nährboden für den Hass auf die Ausländer, auf die Juden. ‘“ (Gerhard Krug: Das bittere Erbe des Rainer Werner F, in: „stern“, 24.10.2015) (II, S. 29)

Warum für wachsende Arbeitslosigkeit „die Ausländer“ oder „die Juden“ verantwortlich gemacht werden können, statt die Unternehmer selbst ins Visier zu nehmen, die Arbeiter und Angestellte entlassen bzw. billigere einstellen, oder ein Wirtschaftssystem, das am Gewinn orientiert und nicht darauf angelegt ist, Vollbeschäftigung zu garantieren, wird nicht thematisiert.

Ähnlich wenig klar wird in einem Gespräch mit Bubis, über das Ulrich Greiner in der „Zeit“ vom 1.11.1985 berichtete: „Bubis zählt mir der Reihe nach die Hochhäuser an der Bockenheimer Landstraße auf und nennt die Besitzer. Keiner davon ist Jude. Aber er gibt zu: ‘Wenn von den etwa hundert Großspekulanten zehn oder zwanzig Juden sind, dann ist das ein hoher Prozentsatz.’“ (II, S. 34f)

Wenn die Hochhäuser an der Bockenheimer Landstraße – wohl entgegen umlaufenden Gerüchten – keine jüdischen Besitzer hatten, warum nutzte Greiner dann nicht die Gelegenheit, an diesem Beispiel seine Leserinnen und Leser über die Macht von Phantasien und Projektionen aufzuklären? Warum musste Bubis ihm „zugeben“, dass es rechnerisch eventuell einen „hohen“ Prozentsatz von Juden unter den „Großspekulanten“ gebe? Damit das Vorurteil hinterrücks doch wieder bestätigt wird?

Wenig später zitierte Greiner die von ihm so bezeichnete „jüdische Journalistin“ Irene Dische, die 1981 in der Zeitschrift „Transatlantik“ eine Reportage über „Die reichen Juden in Deutschland“ schrieb. Darin hieß es:

„Die neuen reichen Juden von Frankfurt waren wieder die klassischen Mittelsmänner: Sie erledigten die Schmutzarbeit für die Stadt und die Banken, die von ihrer Bereitschaft profitierten, die schlechte Publicity und die finanziellen Risiken auf sich zu nehmen. Man fand die Juden peinlich und faszinierend. Man hatte irgenwie gedacht, dass die Juden vorsichtiger sein würden, um nicht wieder den alten Klischees zu entsprechen.“ (II, S. 35)

Dies ließ Greiner unkommentiert so stehen. Es leistete aber dem falschen Verständnis Vorschub, Juden könnten den Klischees über sie entgehen, indem sie ihnen „nicht entsprechen“. Klischees sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie pauschal sind, mit der Realität wenig zu tun haben, durch sie nicht erklärt werden können, aber „immer passen“, notfalls nach dem Prinzip der „sich selbst erfüllenden Prophezeiung“.

Greiner weiter: „Ich frage Bubis, ob er der Vermutung zustimme, die nach Frankfurt gekommenen Ostjuden hätten ihre Bodenspekulation aus unbewusster Rache betrieben. Er nennt das ‘absurd’. Den Verdacht, die Juden hätten einen ‘Auschwitz-Bonus’ gekriegt, findert er ‘lächerlich’. Nochmals betont er, dass er ganz im Interesse der Stadt gehandelt habe. Den Begriff ‘Spekulant’ mag er wegen des abschätzigen Beigeschmacks nicht. Statt dessen schlägt er erstaunlicherweise das Wort ‘Konjunkturritter’ vor. ‘Als einen solchen habe ich mich immer betrachtet.’“ (Ebda.)

An anderer Stelle hat Bubis den Unterschied klar gemacht: „Spekulant“ sei eine Bezeichnung oder ein Schimpfwort, das könne ihn nicht beleidigen – „jüdischer Spekulant“ aber die Konstruktion eines Zusammenhangs zwischen religiöser Zugehörigkeit und wirtschaftlicher Betätigung, also eine antisemitische Etikettierung.

Zwei Tage vor der geplanten Premiere rief Joachim Fest in der FAZ die Schauspieler indirekt zum Streik auf. Nachdem er seinem ehemaligen Redaktionskollegen Günther Rühle bescheinigt hatte, in seinem Wesen stecke „auch etwas von einem enthemmten Studienrat“ und er offenbare sich in dieser Affäre „nur als der Typus des in Deutschland verbreiteten moral-rigoristischen Trampels, der ausschließlich für wahr hält, was verletztend ist und keinerlei Gefühl schont“, schloss er mit den Sätzen: „Nicht ohne Respekt erinnert man sich der Schauspieler, die sich im Jahre 1939 weigerten, an dem Film ‘Jud Süß’ mitzuwirken, auch dies ein Werk mit Bildern voller Gewalt, Brutalität und Obszönitäten. Einige hatten damals mit ihrer Weigerung Erfolg, andere nicht. Aber sie versuchten es immerhin. Das war in Zeiten, die wir zu Recht finster und inhuman nennen.“ (FAZ, 29.10.1985) (II, S. 39)

Fest appellierte damit an die Schauspieler des Frankfurter Theaters, sich in letzter Minute zu verweigern, anderenfalls verdienten sie keinen Respekt. Er versuchte ihnen diese moralische Erpressung noch dazu mit dem Hinweis schmackhaft zu machen, dass sie schließlich nicht „in Zeiten“ lebten, „die wir zu Recht finster und inhuman nennen“. Sie hätten also bei einer Weigerung keine großen Risiken zu tragen.

Das eigentlich Skandalöse an dem Vergleich des Fassbinder-Stücks mit dem Film „Jud Süß“ ist die Verharmlosung eines Nazi-Machwerks, das den Völkermord an den Juden propagandistisch begleitete. Fest rechnete offenbar nicht nur damit, dass seine Leserinnen und Leser sich niemals mit dem Text Fassbinders auseinandersetzen und sich mit den von ihm selektiv zitierten „Stellen“ zufrieden geben würden. Sondern auch damit, dass sie die von der FAZ auch sonst schon propagierten Gleichsetzungen so verinnerlicht hatten, dass ihnen in diesem speziellen Fall nichts auffallen konnte.

Die Bedenken der Jüdischen Gemeinde Frankfurt gegen die Aufführung des Stücks fasste deren Kulturdezernent Michel Friedman am selben Tag noch einmal in der Frankfurter Rundschau zusammen:

„Die Betroffenheit in der Jüdischen Gemeinde ist nicht ausgelöst worden durch die Tatsache, dass in einem Stück ein Jude mit negativen Charaktermerkmalen gezeichnet wurde. Auch die Tatsache, dass antisemitisches Gedankengut auf einer deutschen Bühne vorgetragen wird, ist nicht allein Auslöser der Betroffenheit. Es gibt Juden, die Verbrecher sind; es gibt gute und schlechte Juden, so wie es gute und böse Christen und Moslems gibt. Und es gibt Antisemiten in diesem Land. Es muss Aufgabe der Kunst sein, dieses Phänomen zu be- und verarbeiten. Dass aber in diesem konkreten Stück den antisemitischen Positionen nichts wirklich entgegengesetzt wird, das ist das Perfide an ihm.“ (II, S. 42)

Warum Friedman die von Fassbinder eingesetzten theatralen Mittel für unzulänglich und das Ganze für „perfide“ hielt, wurde durch seine weitere Argumentation deutlich:

„Bedenkt man zusätzlich, dass bedauerlicherweise in den vergangenen vierzig Jahren den jungen Generationen in der Bundesrepublik weder im Geschichtsunterricht noch in der unmittelbaren, familiären Auseinandersetzung ausreichend Information und Wissen über die jüngste Vergangenheit – über den Holocaust – vermittelt wurde, dann ist die Darstellung eines Antisemiten wie im Fassbinder-Stück um so bedenklicher. Diese Figur, die völlig unreflektiert ihre antisemitischen und nationalsozialistischen Gedanken ausspricht, die in ihrer schrecklichen, realen Konsequenz nicht zu Ende geführt werden, diese Figur wird von jungen Menschen gesehen werden, die eben nicht in der Lage sind, das Gefährliche an diesem Gedankengut kritisch zu verarbeiten und diese Aufarbeitung der Vergangenheit für die Gegenwart zu nutzen.“ (Ebda.)

Friedman bekundete wie alle Gegner des Stücks seine Skepsis, dass durch eine kluge Inszenierung die Sprüche der beiden Nazis als das gezeigt werden können, was sie sind: hasserfüllte, projektive, aus Neid auf einen erfolgreicheren Konkurrenten gesprochene Zuschreibungen – und die nach 1945 wirksam werdende neuartige Schuldprojektion eines Antisemitismus „wegen Auschwitz“.

Was seine Aussagen über die unzureichende Aufklärung in den Schulen und die „Schweigespirale“ in den deutschen Familien angeht, so konnte man ihm – damals wie heute – nur Recht geben.

Im weiteren Verlauf seines Artikels deutete er an, dass „Der Müll, die Stadt und der Tod“ in der damaligen Situation einer versuchten „Normalisierung“ im Umgang mit der deutschen Vergangenheit auf die in Deutschland lebenden Juden besonders provokativ wirkte: Bundeskanzler Kohls Rede in Israel von der „Gnade der späten Geburt“, sein Händedruck mit US-Präsident Reagan über den Gräbern von Angehörigen der Waffen-SS in Bitburg und anderes mehr.

Die Bühnenbesetzung und ihre Folgen

Während der Besetzung der Bühne im Frankfurter Schauspielhaus durch Mitglieder der Jüdischen Gemeinde gab es vor dem Haus und in der Stadt begleitende Demonstrationen, nicht nur von jüdischer Seite, sondern auch von nicht-jüdischen Unterstützern eines Boykotts und vonseiten der beiden Kirchen. Über 1000 Menschen nahmen daran teil.

Einzelne Mitglieder der Jüdischen Gemeinde, darunter Daniel Cohn-Bendit, setzten sich, aus unterschiedlichen Motiven, für eine Aufführung ein oder standen der Besetzung kritisch gegenüber.

Nach der verhinderten Premiere schrieb Gerhard Jörder in der „Badischen Zeitung“ vom 2./3. 11.1985:

„Die Hoffnung, dass heute, vierzig Jahre nach dem Zusammenbruch des ‘Dritten Reiches’, zwischen Deutschen und Juden ein ‘normales’ Gespräch über den virulenten Antisemitismus in unserer Gesellschaft geführt werden könnte, ist eine Illusion. Sie setzt rationale Verständigungsmöglichkeit voraus, wo in Wahrheit Angst, Mißtrauen und eine durch unauslöschbare Schreckens-Erinnerung wachgehaltene Abwehrhaltung dominieren.
Solange es Menschen gibt in Deutschland, die KZ-Nummern auf ihren Armen eintätowiert, die Treblinka, Auschwitz und Majdanek erlebt haben – so lange wird der Dialog darüber, ob ein Stück wie das von Fassbinder voller fragwürdiger Vorurteile ist oder diese Vorurteile nur vorführt mit dem Ziel, sie zu bekämpfen, ein Aneinandervorbeireden bleiben.“ (II, S. 87)

Sollte hier – unterschwellig – die Schuld am scheiternden Dialog der jüdischen Minderheit zugeschoben werden?

Die Dokumentation des Frankfurter Schauspiels enthält eine Vielzahl von Artikeln der deutschen bzw. deutschsprachigen Presse zur Bühnenbesetzung. Neue Argumente für oder gegen das Stück tauchten in ihnen nicht auf.

Nach der „Wiederholungsprobe“ vor geladenen Gästen, die meisten von ihnen Journalisten, schrieb Peter Iden, der sich vehement für die Aufführung eingesetzt hatte, in der Frankfurter Rundschau eine durchwegs positive Rezension. Einige Vokabeln waren dabei durchaus mißverständlich oder zweideutig.

So schrieb Iden vom „jüdischen Druck“ auf das Frankfurter Theater. Einerseits seien „die in geschichtlicher Erfahrung gründenden Empfindlichkeiten jüdischer Mitbürger unter allen Umständen zu bedenken“. „Andererseits sind manche der Formen, welche die jüdischen Demonstranten in Frankfurt ihrem Protest gegeben haben, nicht frei von Heuchelei. Die Verhinderung von Aufführungen in dem städtischen Theater ist auch Ausdruck eines Machtanspruchs bestimmter herrschender Kreise der Stadt, die, wie der korrupte Polizeipräsident in dem umkämpften Stück, aus leicht identifizierbaren Interessen nicht zulassen wollen, dass öffentlich verhandelt wird, was für Fassbinder allerdings ein Thema war: die Zugehörigkeit einiger Vertreter des jüdischen Kapitals zu einem rechten Power-Kartell, das während der sechziger und siebziger Jahre breite Felder der städtischen Politik bestimmt hat, zumal der Stadtpolitik und der Baupolitik“ (II, S. 143)

Wanja Hargens macht in seinem Buch über die Fassbinder-Kontroverse darauf aufmerksam, dass ein Begriff wie „jüdisches Kapital“ „mindestens in der Nähe einer antisemitischen Äußerung“ steht (Hargens 2010, S. 127). Es handelt sich dabei um eine sprachliche Form der Ethnisierung des Kapitals, mit der dessen Analyse als abstrakter „sich selbst verwertender Wert“ zugunsten einer Personaliserung und möglichen projektiven Schuldzuweisung erschwert wird.

Iden verfehlte auch eine zentrale Aussage des Stücks, wenn er die „Zugehörigkeit einiger Vertreter des jüdischen Kapitals zu einem rechten Power-Kartell“ als ein Thema Fassbinders behauptete, wo dieser doch gerade die Nicht-Zugehörigkeit des „reichen Juden“ zu den wirklich Mächtigen der Stadt, seine bloße, wenn auch willentliche Indienstnahme durch sie betont.

In der „Süddeutschen Zeitung“ wies C. Bernd Sucher, der das Stück im übrigen – wie die meisten Kritiker – für ein „schwaches, wirres, uneinheitliches Gebilde“ hielt, den Vowurf des Antisemitismus zurück. Wer fürchte, dass die beiden Antisemiten im Stück bei Theaterbesuchern Judenhass schüren könnten, dem sei ein Gedanke Adornos entgegen zu halten:

„In seinem Aufsatz ‘Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit’ weist er darauf hin, wie wenig bei dem primär objektiv-gesellschaftlich begründeten Antisemitimus jüdisch-deutsche Freundschaftsveranstaltungen oder gar Vorzeigen von guten bis brillanten Juden nützten: ‘Man geht dabei allzu sehr von der Voraussetzung aus, der Antisemitismus habe etwas Wesentliches mit den Juden zu tun und könne durch konkrete Erfahrungen mit Juden bekämpft werden, während der genuine Antisemit vielmehr dadurch definiert ist, dass er überhaupt keine Erfahrungen machen kann, dass er sich nicht ansprechen lässt.’ – Bestes Beispiel für diesen Typus ist in Fassbinders Stück Roma B.s Vater: Unbelehrbar wartet er darauf, dass ‘meine Rechte auch wieder Rechte werden’, dass der ‘Faschismus siegen wird’.“ (II, S. 157)

Eine der polemischsten Rezensionen war die der „Stuttgater Zeitung“ vom 6.11.1985, unter dem Titel: „Der Müll des Stadtheaters und seine Not“. Fassbinder zeige „drei Müllhaufen“ – „Familien-Müll“, „Kameliendamen-Müll“ (die Geschichte der Roma B.) und: „Drittens schließlich der Verschwörungsmüll. Wenn, so die dramaturgische Regel im Stadttheater, die Welt so elend ist, dass Mütter in Rollstühlen verkümmern und Väter in Lederbars, dass Nutten nichts mehr wollen als nur noch sterben, muss irgendeiner schuld daran sein. Nun gibt es im Stück den Reichen Juden, den die Frankfurter jetzt ‘A.’ genannt haben. Der redet mehrmals davon, dass ‘das System’, ‘die Stadt’ an allem schuld sei, die Banken auch, deren Werkzeug er sei. ‘Die Stadt schützt mich. Das muss sie. Zudem bin ich Jude.’ Der Reiche Jude ist sehr ungenau, er argumentiert pauschal. Die Banken und das System tauchen im Stück nicht auf. Aber er.“ (II, S. 159)

Auf die Idee, es könne sich um ein Stück handeln, das den „Verschwörungsmüll“ bewusst thematisieren will oder doch so inszeniert werden kann, dass er kenntlich wird, kam der Rezensent nicht.

Eine positiv-kritische Rezension schrieb Hannes Heer – der später mit seiner Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“ ein bis dahin aufrecht erhaltenes Tabu der „Vergangenheitsbewältigung“ brach: „Fassbinders Totentanz auf der Müllhalde (ist) nicht schlicht aus der Wirklichkeit genommen, weder aus der des Bahnhofsviertels noch aus der Deutschen Bank. Sein Stoff, das sind die Reflexe dieser Wirklichkeiten in den Köpfen der Leute, ihre Vorurteile und Projektionen von Nutten, Schwulen, Spekulanten, Stadtvätern, Zuhältern, Juden… Hier liegt der Sprengsatz des Stücks: Dass die Gestalten unseres Unterbewussten auf die Bühne, ins Licht gezerrt werden und dass sie nicht Tragödie, sondern Operette spielen müssen.“

„Das Alt- und Neonaziduo verhalf dem Abend zu seinen dichtesten Momenten und zu einer eindringlichen Botschaft: Dies muss nicht auf der Bühne verhindert werden, sondern dort, wo es herkommt.“

Hannes Heer kritisierte im übrigen, dass die Inszenierung zu zurückhaltend, zu brav sei. Der „reiche Jude“ sei nur als Opfer, nicht auch als Täter gezeigt. Die Regie habe den Figuren „alles Fremdartige, Verstörende ausgetrieben“: „Gewonnen hat in Frankfurt eine Große Koaliton des Juste Milieu, auf der Stecke geblieben ist ein Theaterstück.“ (II, S. 162)

Eine besondere Position in der Debatte um die Frankfurter Inszenierung nahm Elisabeth Kiderlen ein, die später ein Buch über die Fassbinder-Kontroverse herausgab. Unter dem Tiel „Die Juden, die Schwulen und die Frauen“ schrieb sie in der „Pflasterstrand-Flugschrift“ zum Stück im November 1985, dass Fassbinder das Außenseitertum nicht nur von Juden zum Thema mache, sondern auch das von Schwulen und Frauen. „Dass die Diskussion um dieses Stück ausschließlich vom Problem des Antisemitismus okkupiert werden konnte, deutet auf eine massive Verdrängung in der neuen Frankfurter Kultur der Sauberkeit hin.“

„Nur ‘der reiche Jude’ kommt mit Leib und Leben davon. Er ist vorerst durch sein Geld, seine Diener, das Interesse der Stadt an seiner Tätigkeit als nützlicher Spekulant und durch das Tabu, das über den Auschitz-Überlebenden liegt, geschützt. In der letzten Szene lacht er, zynisch und verzweifelt, im Kreise der Machthaber. Seine Sicherheit ist trügerisch, und er weiss es. Judenhass und Vernichtungswille sind auch heute virulent. Das Indiz, die Krawatte, mit der er Roma B. erdrosselte, wird ihm im Polizeipräsidium in der Weise exkulpierend über den Kopf gezogen, dass es einen Moment so aussieht, als würde er aufgeknüpft.“ (II, S. 174)

Ebenfalls eine besondere Position nahm Benjamin Henrichs in der „Zeit“ ein (8.11.1985). Weder sieht er im Stück Antisemitisches, noch nur Aufgeklärtes:

„Das Stück ist viele Stücke: schillernd, schwierig, wahrscheinlich auch schmierig. Es entblößt Fassbinders Ressentiments, aber es zeigt auch seinen Versuch, sie zu überwinden. Der Dichter erzählt (zwei Fassbinder-Formeln) vom ‘Hass im Kopf’ und der ‘Liebe im Bauch’ – und natürlich umgekehrt.
Vielleicht ist das Stück unmenschlich und human zugleich. Oder, noch schärfer: Vielleicht zeigt es antisemitische Affekte und den Versuch, sie niederzukämpfen.“ (II, S. 178)

Das erkläre auch, warum jeder „in Fassbinders Text mühelos alle Argumente, alle Beweisstücke“ finde, die er braucht.

In der „Basler Zeitung“ vom 6.11.1985 schrieb Hans-Joachim Müller, dass die Diskussion „vom verstellten Bühnenrand“ weg in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft getragen werden müsse, um sichtbar zu machen:

„Dass nämlich Antisemitismus nicht dadurch entsteht, dass ein Theaterstück einen jüdischen Spekulanten als Kapitalismusopfer ausstellt, dass Antisemitismus vielmehr schon manifest ist, wo die Apologeten dieser skrupellosen Lebenspraxis sich kaum bemerkt der Angst bemächtigen, die da so eindrücklich und unangreifbar an unser Gewissen appelliert. Man wird sehr genau aufzupassen haben, wer da, während er sich mit Anstand tarnt und herrisch Rücksicht einfordert, nur eine willkommene Gelegenheit sieht, die bittere Anklage des Stücks aus der öffentlichen Verhandlung zu ziehen.“ (II, S. 180)

Das bezog sich offensichtlich auf Joachim Fest und seine politischen Bündnispartner.

Ausgerechnet Rudolf Augstein, der bei etlichen Gelegenheiten antijüdische Ressentiments in seinen „Spiegel“-Kommentaren durchblicken ließ und vor allem in den 1950er Jahren alte Nazis in seinem Blatt beschäftigt hatte, bezeichnete Fassbinders Stück blank als antisemitisch und dazu geeignet, dass „wir“ „in aller Welt wieder als Judenfeinde“ dastehen würden. Um dann loszulegen:

„Es gilt hier wirklich, zwischen Juden und dem Staat Israel zu unterscheiden. Wir haben gar keinen Grund, gegen das widerwärtige Vorgehen der israelischen Besatzungsmacht auf der Westbank nicht Front zu machen. Wir werden niemals glauben, dass ein totes Kind im Staate Israel toter ist als ein totes arabisches Kind. Juden für bessere Menschen zu halten, das haben sich offenbar nur die Juden in Israel noch nicht abgewöhnt.“ (Der Spiegel, 11.11.1985) (II, S.185)

„Die Juden in Israel“ – das war eben diejenige schreckliche Vereinfachung und Verallgemeinerung, die Augstein Fassbinder unterstellte.

Günther Zehm schrieb in der „Welt“ vom 13.11.1985 einen Artikel voller polemischer Invektiven gegen Fassbinders „horrende Fäkalsprache, hämische Religionsverhöhnung, sexuelle Exhibitionen jeder Art“, der darin gipfelte: „Denn der ‘reiche Jude’ erschien hier, ganz im Stile des antisemitischen Klischees, als unheimlicher und objektiv gnadenloser Fremdling, als geborener Spekulant und abstrakter Funktionär eines kapitalistischen Wolfsgesetzes, und er ging seiner finsteren Bestimmung in einem Milieu voller Gemeinheit und Schmierigkeit nach.“ (II, S.223)

Die konservative Presse vom „Rheinischen Merkur“ bis zum „Bayernkurier“ schloss sich diesem Urteil mehr oder weniger an. Die „Bildzeitung“ selbstverständlich auch.

Unter dem Titel „Ein bequemer Protest“ schrieb Iring Fetscher in der sozialdemokratischen Mitgliederzeitschrift „Vorwärts“ am 16.11.1985:

„Der Streit um Fassbinders nachgelassenes Stück ‘Der Müll, die Stadt und der Tod’ begann mich nachdenklich zu machen, als ich sah und hörte, wer alles – unter den nichtjüdischen Deutschen – gegen die Aufführung protestierte. Das waren in trauter Gemeischaft die gleichen Christdemokraten, die noch am 8. Mai dieses Jahres gegen die Bezeichnung des Datums als ‘Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus’ Einwände erhoben hatten. Die den gemeinsamen Gang des amerikanischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers nach Bitburg verteidigt hatten, die nichts dagegen einzuwenden wussten, als das Bundesinnenministerium die HIAG (= ‘Hilfsgemeinschaft der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS’) aus der Liste der ‘verfasungsfeindlichen’ Organisationen herausnahm.“ (II, S. 234)

Peter von Becker schrieb unter dem Titel „Fast verspielt. Das Theater als unmoralische Anstalt?“ in „Theater heute“, Dezember 1985 über einen sonst weniger beachteten Aspekt:

„Zu vermuten ist, dass der Antisemitismus-Verdacht, gemünzt auf das Werk eines homosexuellen, drogensüchtigen Lederkerls, inzwischen manchen auch als unverdächtiger Vorwand dient für ein Exempel: einmal wenigstens sich diese Art (Entartung?) von ‘moderner Kunst’ nicht mehr bieten lassen zu müssen und die ‘Sumpfblüte Fassbinder’ (FAZ-Leserbrief) entsprechend als Unkraut behandeln zu dürfen. Der Aufstand des Frankfurter Establishments, das zuvor, von stilleren Protesten jüdischer und nicht-jüdischer Mahner ungerührt, den Goethe-Preis der Stadt an den Schriftsteller Ernst Jünger verliehen hatte, erscheint auch als einer des Bürgertums gegen das Unbürgerliche in der Kunst, ist unter den fliegenden Rockschößen der Moral auch ein Exorzismus. Das Stück dient den neuen Reinen, den Nestputzern, Imagepflegern und Saubermachern als Projektionsfläche: denn es schaut schmutzig aus. Man möchte schon das Milieu des Stücks nicht wahrhaben. Will im Stadttheater, das nun immerhin von einem ehemaligen Feuilletonchef der ‘Frankfurter Allgemeinen Zeitung’ geleitet wird, in Fassbinders teils rüd realistischem, teils nachexpressionistisch poetisierendem Ton nichts hören von Huren, Zuhältern, Ganoven, Spekulanten – und auch von unbelehrbaren Antisemiten. Will das Stück nicht, weil man die Erinnerung nicht will an diese Art deutscher Stadt, an diesen unseligen, aber existenten Seelenmüll, an den Tod von einzelnen und von Millionen, einst und jetzt.
Und so steht mit an der Spitze der Prominenten, die in Frankfurt Protesterklärungen gegen die Inszenierung des Stücks unterzeichnet haben, der große einsilbige Bankier, der einst das sogenannte ‘Arisierungsprogramm’ einer großen deutschen Bank mitverantwortet hatte.“ (II, S. 265)

Gemeint war Hermann Josef Abs, der seit 1938 bis zum Kriegsende im Vorstand der Deutschen Bank saß, unter anderem führend tätig bei der Enteignung jüdischer Unternehmer („Arisierung“). Er war auch Mitglied im Aufsichtsrat der IG Farben, die in Auschwitz eine Fabrik errichten ließ, bei deren Bau 25 000 Häftlinge starben. In dem von den US-Besatzungsbehörden nach 1945 vorbereiteten, aber im Zuge des beginnenden Kalten Krieges nicht mehr geführten Prozess gegen die Deutsche Bank wegen Kriegsverbrechen wäre Abs einer der Hauptangeklagten gewesen. In der Nachkriegszeit war er der einflussreichste Bankier der Bundesrepublik mit einer Fülle von Aufsichtsratsmandaten. 1957-1967 war er Vorstandssprecher der Deutschen Bank AG und bis zu seinem Tod 1994 deren Ehrenvorsitzender.

Wanja Hargens macht auf die „sonderbare Koalition“ aufmerksam, die sich im Fall Fassbinder zusammenfand: „Mit der CDU hatte sich ausgerechnet die Partei mit den Frankfurter Juden verbündet, die für viele die treibende Kraft in Richtung einer ‘Schlussstrich-Politik’ war. Zur Koalition gehörte auch Hermann Josef Abs… Hinzu gesellte sich Joachim Fest, der in seiner Hitler-Biografie 1973 die Konzentrationslager auf wenigen Seiten abgehandelt und erfolgreich der Nostalgie und dem Revisionismus der ‘Hitlerwelle’ den Boden bereitet hatte.“ (Hargens 2010, S. 134)

Für die Jüdische Gemeinde Frankfurt war die Bühnenbesetzung ein entscheidender Schritt in die Öffentlichkeit, der den Beginn eines neuen Zusammengehörigkeits- und Selbstwertgefühls bedeutete. Vor allem auch für die zweite Generation der in der Bundesrepublik lebenden Juden:

„Diese Generation engagierte sich nun zunehmend; neben Konservativen wie Michel Friedman traten Cilly Kugelmann, Dan Diner und Micha Brumlik hervor, die sich als politisch links stehend verstanden. Letztere nutzten die Diskussion um Fassbinders Theaterstück zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der Linken. Der generations- und parteipolitisch übergreifende Protest gegen die Aufführung von ‘Der Müll, die Stadt und der Tod’ eröffnete der Jüdischen Gemeinde Frankfurt neue Möglichkeiten der Partizipation. Über religiöse Traditionen hinaus wurde die Gemeinde zum Integrationsfaktor.“ (Hargens 2010, S. 135)

Eine sozio-ökonomische Erklärung für Antisemitismus

Der Schriftsteller Michael Schneider sprach angesichts der heftigen Proteste gegen das Fassbinder-Stück in der Zeitschrift „konkret“, Heft 1/1986 von einer „unheilvollen Verquickung von höchst gegenwärtigen (und nicht bloss jüdischen) Kapitalinteressen und unaufhebbaren Ängsten und Schuldgefühlen, die aus der Vergangenheit resultieren.“ Die subjektive Angst der Überlebenden des Holocaust sei verständlich. Es gebe aber in der Bundesrepublik gegenwärtig keinen Antisemitismus „als gesellschaftliche Strömung und Tendenz“. Und wenn es ihn gäbe, wären diejenigen (Linken), die Joachim Fest des „blinden Antisemitismus“ bezichtigt hatte, „die ersten, die mit den Juden auf die Straße gehen und für ihre Rechte demonstrieren würden.“

In einer längeren Stellungnahme fasste Schneider noch einmal alles zusammen, was von linker Seite – Heinz Brandt, Walter Boehlich u.a. – in die Fassbinder-Debatte eingebracht wurde. Er versuchte eine sozio-ökonomische Erklärung für den Antisemitismus, die über dessen eher sozialpsychologische Definitionen als Vorurteil oder einfach als „Rassismus“ hinausging:

„Das inkriminierte Stück, erst recht aber die Art und Weise seiner Verhinderung, verweist … auf eine ganz andere Kontinuität, von der in dem aufgeregten Antisemitismus-Streit bezeichnenderweise nicht die Rede war. Ich spreche hier von der verschwiegenen Instrumentalisierung der Juden und des Antisemitismus-Problems für die Interessen des deutschen Großkapitals – damals wie heute. Diese Kontinuität – nicht die des Antisemitismus, sondern die seiner gezielten Funktionalisierung – in der deutschen Geschichte konnte und kann nur darum so erfolgreich verschleiert werden, weil die bürgerliche Trennung zwischen Politik (bzw. Ideologie) und Ökonomie, die unser bundesdeutsches Bewältigungsmuster der Vergangenheit überhaupt charakterisiert, auch den Blick für die spezifische politisch-ideologische Funktion verstellt hat, die der Antisemitismus 1933 und danach für das deutsche Besitz- und Kleinbürgertum ausgeübt hat.

Hitler hat die Juden nicht nur für den verlorenen Weltkrieg, den Versailler ‘Schandfrieden’ und die politischen Krisen der Weimarer Republik, sondern auch für sämtliche Krisen und Pannen des (durch die Novemberrevolution schwer angeschlagenen) deutschen Monopolkapitalismus verantwortlich gemacht. Die Juden geisselte er als ‘Strippenzieher der Inflation’; dem ‘jüdischen Finanzkapital’ gab er die Schuld am Währungsverfall, an den steigenden Preisen, an der zunehmenden Arbeitslosigkeit und am wirtschaftlichen Ruin des Mittelstandes. Die NS-Propaganda schien die schwer zu durchschauenden Bewegungsgesetze des Kapitalismus in der Krise für den ‘kleinen Mann’ mit einem Male durchschaubar zu machen: durch die Personifizierung des Übels. Auf ‘den’ Juden ließ sich aller Hass konzentrieren und projizieren.

Das konnte freilich nur funktionieren, weil erstens der Antisemitismus in Deutschland (wie überall in Europa) Tradition hatte, und weil zweitens auch eine Minderheit von Juden zur besitzenden und ausbeutenden Oberschicht in Deutschland gehörte. Das ‘jüdische Finanzkapital’ war keine Erfindung Hitlers, sondern eine empirisch nachweisbare Tatsache. Und natürlich partizipierten die jüdischen Finanzmagnaten und Börsianer nicht weniger am allgemeinen Zins- und Spekulationsgeschäft als ihre ‘arischen’ Geschäftskollegen. Die NS-Propaganda aber pflegte diese kleine jüdische Fraktion des Finanzkapitals mit ‘dem’ Finanzkapital und dieses mit dem ‘raffenden Kapital’ zu identifizieren, während das ‘schaffende Kapital’ als produktives und für die ‘Volksgemeinschaft’ nutzbringendes Kapital davon säuberlich abgetrennt wurde.

Auf diese Weise wurden die unbegriffenen antikapitalistischen Haßgefühle des durch die großen Konzerne und Trusts enteigneten und ruinierten Mittelstandes auf den ‘Geldjuden’ umgepolt, obwohl die Masse der Juden von Inflation, Arbeitslosigkeit und materieller Verelendung ebenso betroffen war wie die übrige Bevölkerung. Für das deutsche Besitzbürgertum war der faschistische Antisemitismus daher ein willkommenes Instrument im ‘Klassenkampf von oben’, auch wenn einzelne der Banker und Magnaten ‘persönlich gar nichts gegen Juden hatten’. Doch hatten sie ein objektives Interesse an Hitlers Rassen-Politik, weil die jüdischen Bankiers und die kleinen jüdischen Kaufleute nun an ihrer Statt zur Zielscheibe umgebogener antikapitalistischer Aggressionen wurden. Zum Lohn für diesen Dienst, den die Juden ihren arischen Geschäftskollegen erwiesen hatten, verleibten diese nach der ‘Reichskristallnacht’ den größten Teil des jüdischen Vermögens (Aktien, Firmen, Häuser, Grund und Boden) ihrem Privatbesitz ein. ‘Arisierung’ nannte man das damals.

In welchem Ausmaß nicht nur der nationalsozialistische Staat, sondern auch deutsche Privatbanken und -Firmen sich an der ‘Arisieriung’ bereichert und darüber hinaus von der kostenlosen Arbeit jüdischer KZ-Häftlinge profitiert haben, ist bis heute kaum genauer untersucht. Wie Benjamin Ferencz in seinem ausgezeichneten Buch ‘Lohn des Grauens. Die verweigerte Entschädigung für jüdische Zangsarbeit’ (Campus Verlag) nachweisen konnte, hat sich fast die gesamte deutsche Industrie damals mit ‘Sklavenarbeitern’ – nicht nur mit jüdischen – eingedeckt, von denen viele schon während des Arbeitseinsatzes starben (‘Vernichtung durch Arbeit’) oder nach ihrer Auspowerung durch die Industrie wieder den KZs zur Vernichtung überstellt wurden. Es ist schon ein kaum zu überbietender Zynismus, wenn gewisse Leitartikler aus dem Umfeld jener Wirtschaftskreise, die damals von jüdischer Sklavenarbeit profitiert haben, sich heute als moralische Sittenwächter des ‘deutsch-jüdischen Verhältnisses’ aufspielen und den Antisemitismus, ‘das ekligste Instrument des Hitlerschen Faschismus dort nachzuweisen suchen, wo es noch kein ernsthafter Mensch vermutet hatte: bei den Linken’ (Walter Boehlich).“ (II, S. 292)

„Frankfurt, Fassbinder und die Juden“ hieß der „Spiegel-Essay“ von Walter Boehlich, aus dem hier zitiert wurde. In ihm hatte Boehlich 1985 noch einmal die Kontroverse um das Fassbinder-Stück resümiert:

„Man kann sich vorstellen, daß ‘Der Müll, die Stadt und der Tod’ vor zehn Jahren ohne jedes Aufsehen im TAT aufgeführt worden wäre. Oder ein paar Jahre später an den Städtischen Bühnen. Diejenigen, zu deren Sprecher Joachim Fest sich gemacht hat, haben das verhindert. Ist es nur bedauerlich? Es könnte ja sein, daß die falsche Emotionalisierung, die auf ungenauem oder fahrlässigem Lesen beruhende Anschwärzung des Stückes eine begrüßenswerte Folge gehabt hätte: den Beginn eines Dialogs, eines öffentlichen Dialogs zwischen den beiden unversöhnbaren Seiten.
Selbst wenn der Dialog nicht sehr ergiebig war – aber was eigentlich wäre geschehen, wenn auch nur einer, der kein Jude ist, versucht hätte, den Angst habenden Juden zu sagen: Was immer geschieht, wenn es noch einmal einen militanten Antisemitismus bei uns geben sollte, diesmal werden wir für euch kämpfen oder gemeinsam mit euch umkommen?
Weil niemand bei uns solche Sätze denken kann, werden wir immer die alte Geschichte wiederholen, die großen Worte herbeten von den jüdischen Mitbürgern und tun, als ginge es um das, was so ziemlich alle vor fünfzig Jahren versäumt haben. Jetzt, wo es zum Discount-Preis zu haben ist, sind sie da, die Kirchen, die Parteien, die Verwaltungen. Wo waren sie damals?“ (Der Spiegel Nr. 45/1988)

„Annäherung an die Wirklichkeit“

Henryk M. Broder schrieb in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 18./19.1.1986 eine sehr sarkastische Abrechnung mit antisemitischen Ressentiments in der bundesdeutschen Gegenwart: „Antisemitismus – ja bitte!“ Es gebe ein stillschweigendes Einverständnis, ein „deutsch-jüdisches Gemeinschaftswerk“, das Ausmaß des real existierenden Antisemitismus nur an den Wahlerfolgen der Rechtsradikalen zu messen – und damit systematisch zu unterschätzen. Die offiziellen Repräsentanten der Juden seien am entschiedensten dabei, die Ergebnisse einer Studie des Soziologen Silbermann zu relativieren, wonach es 20 Prozent manifeste und 30 Prozent latente Antisemiten unter der deutsche Bevölkerung gebe.

Durch den Streit um das Fassbinder-Stück habe das positiv gezeichnete Bild nun einen Riß bekommen. Broder wies als erster darauf hin, dass Fassbinder den Schuldabwehr-Antisemitismus zum Thema macht:

„Ich weiß nicht, ob Fassbinder ein Antisemit war, wahrscheinlich nicht, nehme ich an. Dass er in seinem Müll-Stück Antisemiten auftreten und antisemitische Sätze sprechen lässt, beweist gar nichts. ‘Und schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht, denn er ist da. Wär er geblieben, wo er herkam, oder hätten sie ihn vergast, ich könnte heute besser schlafen. Sie haben vergessen, ihn zu vergasen. Das ist kein Witz, so denkt es in mir…’
Besser, treffender lässt sich die Wut der Täter auf die überlebenden Opfer, deren Existenz eine schwer erträgliche Provokation ist, nicht beschreiben. Antisemitismus wegen Auschwitz – in den Worten des Hans von Gluck findet er seinen authentischen Ausdruck. Das Stück ist ‘antisemitisch’ allenfalls in dem Sinne, dass es als Katalysator für antisemitische Reaktionen dient. Es weckt schlafende Hunde auf, insofern ist es aufklärerisch und verwirrend. Was da alles an die Oberfläche gekommen ist, wer sich alles bis zur Kenntlichkeit entstellt hat, allein deswegen hat sich schon die ganze Aufregung gelohnt. Wir sind bei der Annäherung an die Wirklichkeit ein großes Stück vorangekommen.“ (II, S. 306)

Mit der Bezeichnung „aufklärerisch und verwirrend“ hatte Broder den Hinweis darauf gegeben, dass es eine Art produktive Stereotyp-Verwirrung gibt. Sie kann „kognitive Dissonanzen“ bewirken, die nach Meinung von Sozialpsychologen dazu in der Lage sind, vorurteilshafte Denkmuster aufzulockern.

Leider hat sich Broder später in der Auseinandersetzung mit dem Islam nicht an seine eigenen Erkenntnisse über projektives Denken und dessen Funktionen gehalten.

Zu einigen Motiven in der Debatte seither

Die Kontroverse um Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“ hat die Beschäftigung mit dem Antisemitismus in der Literatur als Thema für Wissenschaft und Publizistik vorangetrieben. Dazu trugen auch die weiteren „Fälle“ der folgenden Jahre bei: Martin Walsers als antisemitisch gewerteter Roman „Tod eines Kritikers“, das Israel-Gedicht von Günter Grass, die kritische Beschäftigung mit der seinerzeitigen Reaktion der Gruppe 47 auf das Gedicht „Todesfuge“ von Paul Celan und anderes mehr. Rückblickende Analysen förderten immer mehr Fragwürdiges an Bildern von Juden in der deutschen Literatur der Nachkriegszeit zutage.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fassbinders Stück kann hier nicht wiedergegeben oder kommentiert werden. In ihr setzten sich die unterschiedlichen, zum Teil diametral entgegengesetzten Interpretationen fort, die für die Rezeption des Stücks von Anfang an charakteristisch waren.

Einen Überblick über die Debatte in den 1980er Jahren bietet Janusz Bodek in seinem Buch über die „Fassbinder-Kontroversen“ (Bodek 1991). Einen Überblick über die Debatte seither gibt Wanja Hargens (Hargens 2010). Ein Standardwerk zum literarischen Antisemitismus, in dem auch der Fall Fassbinder verhandelt wird, ist der von Klaus-Michael Bogdal u. a. herausgegebene Sammelband (Bogdal 2007).

Im Folgenden sollen nur einige Aspekte der nach wie vor nicht beendeten Kontroverse um Fassbinder wiedergegeben werden. Sie zeigen, dass es dabei immer noch um den Schuldabwehr-Antisemitismus, die Täter-Opfer-Thematik und die Frage nach dem Verhältnis von Antisemitismus und Kapitalismuskritik geht.

Zur Ausstellung „Juden. Geld. Eine Vorstellung“, die 2013 im Jüdischen Museum Frankfurt gezeigt wurde und das Ziel hatte, über das Stereotyp des „reichen Juden“ und die angebliche enge „Verbindung von Judentum und Kapitalismus“ aufzuklären, gab es eine Rezension der FAZ, in der es hieß: „Antikapitalismus und Antisemitismus gehen seit jeher Hand in Hand“. Ganz im Sinne der seinerzeitigen Position von Joachim Fest und anderen. (Vgl. dazu Diederich 2013)

In der Ausstellung wurde Fassbinders Stück – ohne Erwähnung der langjährigen Debatte über es – als antisemitisch bezeichnet. Im Katalog dazu argumentierte der Literaturwissenschaftler Stephan Braese differenzierter, kam aber auch zu dem Schluss, dass das Stück nicht dazu geeignet sei, über judenfeindliche Ressentiments aufzuklären, sondern dass es sie – bewusst oder unbewusst – bediene.

Die Bezeichnung „Der reiche Jude“, so Braese, „verzichtet durch die Weglassung eines Eigennamens gleichsam unumwunden und programmatisch auf Individualisierung, zugunsten einer Typisierung, von der schwer zu entscheiden ist, ob sie eher der im Drama gezeichneten Figur aufgezwungen werden soll oder darauf zielt, die antisemitischen Zuschreibungsaffekte des Publikums maximal zu aktivieren. Die Selbstäußerungen des ‘Reichen Juden’ beseitigen jedenfalls jeden Zweifel daran, wie er selbst seinen Status und seine Aufgabe ‘in dieser Stadt’ versteht (…)

Zwar versäumt Fassbinder nicht, mit dem Hinweis des ‘Reichen Juden’ darauf, dass andere den ‘Plan’ geschmiedet haben, die Systemstelle der Zerstörung, die Funktionalisierung des ‘Reichen Juden’ im Kontext ihn überschreitender kapitalistischer Profitinteressen zu markieren. Doch solch ein Einsprengsel unterliegt der enormen suggestiven Kraft, die das personale Getriebensein des ‘Reichen Juden’ ausstrahlt – und zu der sich der Monolog des antisemitischen Hans von Gluck komplementär verhält, in dem sich ebenfalls eine Energie artikuliert, die durch keinen ökonomischen Funktionszusammenhang aufgehoben wird.“ (Braese 2013, S. 398)

Braese räumte ein, dass „kapitalistische Profitinteressen“ von Fassbinder kritisch „markiert“ werden, hielt aber die „suggestive Kraft“ der Hauptfigur und ihrer Motive im Stück für so dominierend, dass beim Publikum letztlich „antisemitische Zuschreibungsaffekte“ aktiviert würden. Den „Monolog des antisemitischen Hans von Gluck“ wertete er nicht als schockhaft kontrastierend zum Part des „reichen Juden“, sondern als „komplementär“ zu ihm, also im schlechten Sinne verstärkend.

Mona Körte hatte in ihrem Beitrag zum Sammelband über literarischen Antisemitismus darauf hingewiesen, dass es bei der Frage, ob ein literarischer Text antisemitisch sei oder judenfeindliche Ressentiments befördere, „des genauen Lesers und der genauen Leserin“ bedarf, „die nicht finden, was sie suchen, sondern sich auf die Bewegung und die Widersprüchlichkeit von Sinnangeboten einlassen (…) Die lange Zeit für die literarische Kommunikation unterschätzte und erst durch die Rezeptionsästhetik und Rezeptionsgeschichte zu einigem Recht gelangte Position von Leser und Leserin, durch die sich ein Werk erst konstituiert, scheint hierbei weniger manipulierbar als angenommen.“ (Körte 2007, S. 66f)

Wenn ein Kunstwerk sich erst durch seine Rezeption konstituiert, sind unterschiedliche Verständnisse von ihm denkbar und möglich, je nachdem, wer sich mit ihm beschäftigt, es wahrnimmt – und wann und unter welchen Umständen. Das gilt ganz besonders für Theaterstücke, die der Inszenierung bedürfen, um sich ihrem künstlerischen Zweck gemäß zu realisieren.

Nach Mona Körte führt „literarischer Antisemitismus also ins Zentrum der Frage nach den Akteuren (Autor: Intentionalität, Leser: Pakt, Komplizenschaft) innerhalb der Literatur als System und bringt das in ihr Sagbare und Unsagbare immerzu ins Gespräch. Literarischer Antisemitismus aktualisiert, wie insbesondere der Streit um Rainer Werner Fassbinders Stück ‘Der Müll, die Stadt und der Tod’ (1976) zeigte, das schwierige Verhältnis von Literatur und Ideologie, fragt nach den Modalitäten des Ästhetischen und taxiert den Grad des individuellen und kollektiven Unbewussten.“ (Körte 2007, S. 67).

Schon 1985 hatte Moishe Postone darauf hingewiesen, dass das Stück von vielen – links wie rechts – nicht als „Spiegel“ real vorhandener antisemitischer Ressentiments (auch bei seinen Lesern und Betrachtern) wahrgenommen wurde, sondern als „Fenster“ zur Realität der Grundstücksspekulation. Damit sei es interessegeleitet missverstanden worden. Das Stück handle vom Antisemitismus, nicht von der Spekulation oder der Rolle „reicher Juden“ bei ihr (Postone 1985, S. 47).

In dem 2012 erschienen Sammelband „Prekäre Obsessionen. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder“ heißt es:

„Fassbinder erklärt die Randbezirke der Gesellschaft zum exemplarischen Ort, an dem sich die allgemeine Struktur der Herrschaftsverhältnisse laborhaft analysieren und veranschaulichen lässt. Diese Perspektivierung, welche die Spezifizität der einzelnen Leidensgeschichten des Außenseitertums gewissermaßen universalisiert, stieß häufig auf Ablehnung und erntete nicht selten harsche Kritik bei den ‘Betroffenen’ selber…
Die zwiespältigen und umstrittenen sozialkritischen Psychogramme Exkludierter stehen im Mittelpunkt von Fassbinders Werk und haben auch in formaler Hinsicht seinen Stil geprägt. Das Zentrum, um das die Diskussion stets aufs Neue kreist, bildet daher die rezeptionsästhetische Frage nach einer Affirmation der Stereotype durch deren kritische Darstellung: Inwiefern gelingt es Fassbinder tatsächlich, die Klischees zu dekonstruieren, ohne sie zu besiegeln?
Fassbinders strategische Hauptwaffe gegen eine indirekte Bestätigung der Vorurteile ist die ironische Distanzierung, die jede Aussage zur Pose gefrieren lässt – eine Strategie, die jedoch angesichts der Ernsthaftigkeit der Probleme und der offensichtlichen Notwendigkeit, politisch und gesellschaftlich darauf zu reagieren, von vielen als unangemessen empfunden wurde und wird.“ (Colin u.a. 2012, S. 8f)

Dabei folge Fassbinder keiner „planen Opfer-Täter-Dichotomie“, sondern zeige „die Ausgegrenzten in ihrer (mitunter Lust erzeugenden) Anpassung an die Unterdrückung“, in „ihren Traumatisierungen und Funktionen für das kapitalistische Ausbeutungssystem“.

Fassbinders Filme werden in dem Sammelband differenziert und kritisch betrachtet. Franziska Schößler kommt in ihrem Beitrag über „ In einem Jahr mit 13 Monden“ und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ zu dem Schluss, dass hier historische Klischees über Juden fortgeschrieben werden. Die „’kalten’ Ausbeutungsmaschinerien“ der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft würden in diesen Filmen „als jüdisch und amerikanisch markiert“, damit also nach einem alten deutschen Muster als etwas „Fremdes“ dargestellt. „Fraglich bleibt daher, so Schößler, ob nicht angesichts der fatalen Ähnlichkeit der neuen Opfer der Nachkriegszeit mit den ‘jüdischen Monstren’ der antisemitischen Propaganda eine Analyse des gesellschaftlichen Machtzentrums geeigneter gewesen wäre, um die bundesdeutschen Hierarchien vorzuführen.“ (Colin u.a. 2012, S. 20f)

Zu fragen ist, warum die Darstellung von Juden in Filmen Fassbinders – auch in „Schatten der Engel“, der Verfilmung von „Der Müll, die Stadt und der Tod“, die 1976 sogar im Wettbewerb um die Goldene Palme bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes stand – nie solche heftigen öffentlichen Kontroversen hervorgerufen hat wie das Theaterstück. Franziska Schößler erklärt das damit, „dass die weitaus realistischer wirkenden Filme – Bilder suggerieren, wie die Filmgeschichte belegt, die Wirklichkeit und das Geschehensein des Erzählten, Bilder lügen nicht – das Klischierte der Darstellung in den Hintergrund treten lassen und das Stereotyp der jüdischen Figuren dissimulieren.“ (Ebda., S. 205)

Was „Der Müll, die Stadt und der Tod“ angeht, schreibt Schößler, dass „das Stereotyp des reichen Juden plakativ umgesetzt, allerdings als Figurenrede ausgewiesen“ sei. „Die dialogische Gattung Drama führt mithin zur Relativierung der antisemitischen Positionen.“ (Ebda.)

Der Beitrag Nike Thurns zu dem Sammelband beschäftigt sich unter dem Titel „Ein ‘Reicher Jude’ – und dessen Konstrukteure“ ausschließlich mit Fassbinders Theaterstück. Ausgehend von der „wirkungsästhetischen Frage“ Sigrid Weigels, ob in dem Stück „das traditierte antisemitische Stereotyp des Wucherjuden fortgeschrieben oder aber dessen kulturelles Konstruktions- und Wirkungsmuster vorgeführt und destruiert werde“ (Weigel 1996, S. 166) kommt Thurn zu dem Schluss:

„Meiner Lesart zufolge lässt sich die stellenweise wie eine antisemitische Zerrfigur wirkende Darstellung des ‘Reichen Juden’ textintern als Projizierung von Klischees eines … sehr fragwürdigen Figurenensembles nachweisen und dadurch demontieren: Die dem Autor Fassbinder vorgeworfenen antisemitischen Stereotype werden im Gegenteil erkennbar als übertragene Vorurteile der von ihm gezeichneten deutschen Nachkriegsgesellschaft, deren immanenter Antisemitismus somit vorgeführt und entlarvt wird.“ (Thurn 2012, S. 271)

Gut und Böse seien nicht so verteilt, wie es in der Literatur über das Stück oft dargestellt wird, wenn sie fast ausschließlich die Figur des „reichen Juden“ in den Blick nimmt. Es gebe gerade kein bipolares Bewertungsschema. Die nichtjüdischen Deutschen seien oft negativer gezeichnet als der „reiche Jude“, dessen Verhalten immer auch als Produkt seiner Umwelt gezeigt werde: „Das Bild vom ‘Anderen’ in Abgrenzung vom konstruierten ‘Wir-Bild’ ist gerade kein alter, das dem ego entgegengesetzt wird, das Negativ ‘des Juden’ wird nicht über das positive ‘Eigene’ der deutschen Nation konstruiert.“ (Ebda., S. 277).

Die Fassbinder unterstellte Täter-Opfer-Umkehr sei „eine List des Textes, der zu einer solchen Lesart verführt, sie jedoch zugleich konterkariert. Die deutlich als NS-Täter gezeichneten Figuren beanspruchen für sich selbst eine Opfer-Rolle und sprechen sich diese (durch nichts ernsthaft gerechtfertigt) selber zu. Wer ihnen diese Opferinszenierung unhinterfragt abnimmt, sitzt der Tücke des Stückes auf. Gezeigt werden hier für die Realität der Entstehungszeit des Stückes typische schuldabwehrantisemitische Vorgänge: Die Figuren vollziehen eine Täter-Opfer-Umkehr, da sie mit ihrer eigenen Schuld und der Unschuld des Opfers nicht fertig werden.“ (Ebda., S. 287)

Thurn zitiert den israelischen Theatermacher Yoram Löwenstein, der das Stück 1999 in Tel Aviv inszenierte. Er fasste sein Verständnis des Textes so zusammen: „Fassbinder ist die Tür in die deutsche Nachkriegsgesellschaft, er bietet Einblicke in das deutsche Unterbewußtsein, gnadenlos, ohne jede politische Rücksicht, er bricht die deutsche Seele auf.“ Das Stück – so Löwenstein – handle gerade „nicht von den Juden, es handelt von den Deutschen“. (Zit. Nach Broder 1999)

Möglicherweise sei das der Skandal gewesen, den Joachim Fest und die konservativen Gegner des Stücks nicht ertragen konnten – wie hier die deutsche Mehrheitsgesellschaft der Nachkriegszeit vorgeführt wurde: „Unaufgearbeitete Vergangenheit, schwelende Ressentiments, Schuldzuweisungen gegenüber ehemaligen Opfern, Fortbestand antisemitischen Gedankenguts, gesellschaftliche Integration und Anerkennung ehemaliger NS-Täter – all das kommt in Fassbinders Stück vor und wird hier erstmals auf eine deutsche Bühne gebracht, d.h. ‘sichtbar’ gemacht.“ (Thurn 2012, S. 288)

Neben dieser Lesart bleiben die anderen Lesarten selbstverständlich bestehen, auch diejenigen von jüdischer Seite, die den „ohne jede politische Rücksicht“ geschriebenen Text Fassbinders nach wie vor nicht als kritisch oder ambivalent wahrnehmen.

Literatur

Werner Bergmann: „Störenfriede der Erinnerung“. Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland. In: Klaus-Michael Bogdal / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2007

Janusz Bodek: Die Fassbinder-Kontroversen: Entstehung und Wirkung eines literarischen Textes. Zu Kontinuität und Wandel einiger Erscheinungsformen des Alltagsantisemitismus in Deutschland nach 1945, seinen künstlerischen Weihen und seiner öffentlichen Inszenierung. Campus Verlag, Frankfurt a.M. 1991

Janusz Bodek: Ein Geflecht aus Schuld und Rache? Die Kontroversen um Fassbinders Der Müll, die Stadt und der Tod. In: Stefan Braese / Holger Gehle / Doron Kiesel (Hrsg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt a.M. / New York 1998

Janusz Bodek: Fassbinder ist nicht Shakespeare, Shylock kein Überlebender des Holocaust. Kontroversen um „Der Müll, die Stadt und der Tod“. In: Klaus-Michael Bogdal / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Metzler Verlag, Stuttgart 2007

Klaus-Michael Bogdal / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2007

Stefan Braese: „…als ob man ein Bündel raschelndes Papiergeld küsst“ – Reiche Juden in der westdeutschen Nachkriegsliteratur. In: Juden. Geld. Eine Vorstellung. Ausstellungskatalog des Jüdischen Museums Frankfurt a. M. 2013

Henryk M. Broder: Universelle Botschaft. In: Der Spiegel Nr. 16/1999, S.238

Nicole Colin / Franziska Schößler / Nike Thurn (Hrsg.): Prekäre Obsessionen. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Transcript Verlag, Bielefeld 2012

Reiner Diederich / Richard Grübling: Plakate des deutschen Faschismus – Die Darstellung des Feindes. In: Frankfurter Kunstverein (Hrsg.): Kunst im 3. Reich. Dokumente der Unterwerfung. Ausstellungskatalog, Frankfurt a. M. 1974

Reiner Diederich: Verpasste Chance. In: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik / Kultur / Wirtschaft Nr. 17/2013

Iring Fetscher: Zur Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland. In: Ders. (Hrsg.): Marxisten gegen Antisemitismus. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1974

Wanja Hargens: Der Müll, die Stadt und der Tod. Rainer Werner Fassbinder und ein Stück deutscher Zeitgeschichte. Metropol Verlag, Berlin 2010

Klaus Holz: Die Paradoxie der Normalisierung. Drei Gegensatzpaare des Antisemitismus vor und nach Auschwitz. In: Klaus-Michael Bogdahl / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2007

Mona Körte: Judaeus ex machina und „jüdisches perpetuum mobile“. Technik oder Demontage eines literarischen Antisemitismus? In: Klaus-Michael Bogdahl / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hrsg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz, Verlag J.B. Metzler, Stuttgart und Weimar 2007

Moishe Postone: Thesen zu Fassbinder, Antisemitismus und Deutschland, in ders.: Deutschland, die Linke und der Holocaust. Politische Interventionen. Ça ira-Verlag, Freiburg 2005

Schauspiel Frankfurt (Hrsg.): Fassbinder ohne Ende. Eine Dokumentation anlässlich der Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, Frankfurt a. M. 1985 (I)

Schauspiel Frankfurt (Hrsg.): Der Fall Fassbinder. Dokumentation des Streits um „Der Müll, die Stadt und der Tod“, Frankfurt a. M. 1987 (II)

Nike Thurn: „…weil er Jud ist und wir die Schuld tragen“. Zum Antisemitismus-Vorwurf gegen Rainer Werner Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“. In: kultuRRevolution Nr. 58, Mai 2010

Nike Thurn: Ein „Reicher Jude“ – und dessen Konstrukteure. Zur Darstellung von Juden und Antisemiten in Fassbinders „Der Müll, die Stadt und der Tod“. In: Nicole Colin / Franziska Schößler / Nike Thurn (Hrsg.): Prekäre Obsessionen. Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder. Transcript Verlag, Bielefeld 2012

Sigrid Weigel: Shylocks Wiederkehr. Die Verwandlung von Schuld in Schulden oder: Zum symbolischen Tausch der Wiedergutmachung. In: Dies. / Birgit Erdle (Hrsg.): Fünfzig Jahre danach. Zur Nachkriegsgeschichte des Nationalsozialismus. Zürich 1996

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