Text und Thesen für die gemeinsame Veranstaltung mit Prof. Dr. Georg Bussmann: „Über Bilder sprechen. Von August Wilhelm Schlegels ‚Die Gemälde. Gespräch‘ bis zum Bildergespräch heute“ am 5. Februar 2020 in der Denkbar, Frankfurt am Main. Vorgestellt wurden die Methode des Bildergesprächs und langjährige praktische Erfahrungen mit ihr.
Bilder sagen mehr als tausend Worte, heißt es. Über Bilder zu sprechen erscheint deshalb als fast paradox. Dennoch geschieht es, um das, was Bilder sagen können, in Worte zu fassen und sich mit anderen darüber zu verständigen, soweit das möglich ist.
Auch Kunstwerke sind in diesem Sinn Anlass und Mittel zur sprachlichen Kommunikation. Sie gehen aber nicht auf in dieser Funktion. Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens über sie hat der Kunsthistoriker Georg Schmidt einmal gesagt: „Das Wort kann nie mehr sein als günstigenfalls der Schlüssel, der die Pforte zum eigenen Erlebnis auftut. Kunst kann wohl missverstanden werden, aber es genügt nie, sie bloß verstanden zu haben.“ (Schmidt 1966, Motto)
Befreites Sehen
Die Formen des Sprechens über Bilder hängen eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen zusammen. So bekommt das „Kunstgespräch“ in der Renaissance eine Rolle bei der Emanzipation von kirchlichen und weltlichen Autoritäten:
„Die Bilder, die über Jahrhunderte zur Vermittlung autoritärer Botschaften und dogmatischer Aussagen gedient haben, sind unversehens zum Medium öffentlicher Auseinandersetzung geworden… Nicht selten werden die Kunstgespräche der Renaissance unmittelbar vor den Bildern geführt. Die Dialoge über allgemeine Fragen der Kunst dokumentieren zugleich den konkreten Umgang mit den Kunstwerken selbst. Dabei entwirft das kultivierte Gespräch, das Künstler, Auftraggeber, Intellektuelle, Kunstkenner und lernbegierige Kunstfreunde versammelt, eine gesellschaftliche Utopie. Über mehr als ein Jahrhundert erscheint das Kunstgespräch als Dialog auf Augenhöhe, bis es um die Mitte des 16. Jahrhunderts wiederum alten (kirchlichen) und neuen (akademischen) Autoritäten unterstellt wird, die dann über lange Zeit das Recht in Anspruch nehmen werden, über die richtige Art der Darstellung und die angemessene Form der Betrachtung von religiösen und weltlichen Bildern zu befinden.
Kennzeichnend für das Kunstgespräch der Renaissance ist der offene Meinungsaustausch mit unterschiedlichen Positionen und gegensätzlichen Vorstellungen. Durch Rede und Gegenrede sollen Kunstfertigkeit der Künstler und Kunstverständnis der Betrachter gleichermaßen erweitert und vertieft werden.“ (Held 2016: 26 f.)
Das freie Sprechen über Kunst und vermittels der Kunst hat also etwas mit Befreiung zu tun – mit der Emanzipation von vorgegebenen Interpretationsmustern, von „autoritären Botschaften und dogmatischen Aussagen“. Es blüht auf in gesellschaftlichen Umbruchzeiten. So auch wieder im Zusammenhang mit der beginnenden Emanzipationsbewegung des Bürgertums inmitten der noch feudalen Gesellschaftsordnung.
In der Einladung zu dieser Veranstaltung zitieren wir aus einem Text des Literaturwissenschaftlers Heinz Schlaffer, der unter dem sarkastisch gemeinten Titel „Betreutes Sehen“ 2011 in der Zeitschrift „Merkur“ erschienen ist: „In Gesprächen über Kunst erprobten die Bürger des 18. Jahrhunderts, denen das Mitspracherecht in politischen und religiösen Angelegenheiten vorenthalten war, Tugenden einer noch nicht existierenden Demokratie. Gleichberechtigung aller Beteiligten (auch der Laien mit den Kennern, der Liebhaber mit den Gelehrten), freie Äußerung des subjektiven Urteils, zwanglose Verständigung mit den anderen.“
Entsprechend hat es der Kunsthistoriker Heinrich Dilly in einem Beitrag über den Umgang mit Bildern in der „Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss als „alten bürgerlichen Anspruch“ bezeichnet, „dass die Kunst – anders etwa als die Wissenschaft – ein Unternehmen ist, über das jeder sprechen kann und es auch tut“ (Dilly 1983: 299).
Dieser Anspruch datiert seit den Zeiten, als die Fürsten ihre Kunstsammlungen für das gebildete Publikum öffneten und allmählich die ersten Museen entstanden. Louis Marin schreibt in seinem Buch „Über das Kunstgespräch“ dazu: „Vom Jahr 1725 an veranstaltete die Académie Royale de Peinture et Sculpture im Salon Carré du Louvre regelmäßig Kunstausstellungen. In diesen kam von Seiten der Besucher der Wunsch nach Kommentaren zu den Bildern auf, die in Gesprächsform schließlich durch qualifizierte Personen erteilt wurden“ (Marin 2001: 72).
Das Kunstgespräch, wenn auch zunächst offenbar recht didaktisch geführt, stellte also gewissermaßen eine Frühform bürgerlicher Öffentlichkeit dar. Marin: „Dazu fügt sich jener andere ebenfalls historische Grund, dass das Kunstwerk in seiner Bewegung des ‚Autonomwerdens’ in gewissen Augenblicken und an gewissen Orten einen Diskurs verlangt, der es als solches, d.h. als Kunstwerk anerkennt“ (ebd.: 25) Das Kunstwerk braucht nicht nur den stillen Betrachter, der sich in es versenkt, sondern auch die kommunikative Auseinandersetzung mit ihm und über es, um zur Geltung zu kommen. Damit verbunden: Es ist potenziell für alle da, für ein breites Publikum, nicht nur für Gebildete und Experten.
August Wilhelm Schlegels „Gemäldegespräch“
In Deutschland finden sich die Anfänge dieses Gedankens in der Frühromantik, in der der Impuls der französischen Revolution ja noch zu spüren und die reaktionäre Wende der Spätromantik noch nicht vollzogen war. August Wilhelm Schlegels Buch „Die Gemählde. Gespräch“ erschien zuerst 1799. Hier geht es unter anderem darum, dass die subjektiven, emotionalen und unterschiedlichen „Eindrücke eines Kunstwerks“, das, „was der Betrachter mit hinzubringt“, ausgesprochen werden können, statt ihm einen „Maulkorb“ umzuhängen und ihn auf das „trockene Urteilen“ des „Kunstverständigen“ zu verweisen. Es geht also um die „Selbsttätigkeit“ von „Laien“.
August Wilhelm Schlegels Text beruht auf Gesprächen über Kunst, die im Kreis der Frühromantiker um die Gebrüder Schlegel in der Dresdner Gemäldegalerie geführt wurden, deren berühmtestes Bild die „Sixtinische Madonna“ von Raffael war.
Melanie Waldheim schreibt dazu in ihrem Buch „Kunstbeschreibungen in Ausstellungsräumen um 1800“: „Die königliche Gemäldegalerie in Dresden gehörte in der Entstehungszeit und bis heute zu den wichtigen Sammlungen alter Meister in Europa… Mit der Öffnung der Sammlungen stieg ihr Ansehen in der Öffentlichkeit. Anfangs konnte sich trotz des uneingeschränkten Zugangs nicht jeder das hohe Trinkgeld für die Wärter und Inspektoren leisten, was die Zahl der Besucher indirekt regulierte. Ab 1784 gab es regelmäßige Öffnungszeiten, zu denen jeder ohne Voranmeldung kommen konnte.“ (Waldheim: 50 f.)
Es handelt sich bei „Die Gemählde. Gespräch“ nicht um die literarische Wiedergabe von realen Gesprächen vor Bildern, sondern um eine idealtypische Konstruktion: Drei Personen, eine Frau und zwei Männer, unterhalten sich am Elbufer über ihre Eindrücke von Gemälden der Dresdner Galerie und vertreten dabei unterschiedliche Positionen: „Louise (spricht) aus subjektiver Erfahrung, Reinhold (ein Maler – R.D.) aus berufspraktischer Erfahrung und Waller aus kunsttheoretischer Kenntnis heraus“ (a.a.O.: 70). Die drei tauschen sich aus, widersprechen sich auch, aber es entsteht bei der Leserin und dem Leser nicht der Eindruck, dass die Spezifik und die Widersprüche ihrer Wahrnehmungen und Interpretationen nach einer Seite hin aufgehoben werden könnten.
Nach Melanie Waldheim lässt August Wilhelm Schlegels Text als „geschriebene Galerie“ (AWS: 77) „polyperspektivische Sichtweisen“ zu: „Dazu agiert das Gemäldegespräch auf allen drei Ebenen einer ‚geselligen Wechselberührung‘ (AWS: 20): Malerei – Plastik, Malerei – Literatur, Betrachter – Malerei und Betrachter – Betrachter.“ (Waldheim: 49)
Wozu das im Weiteren führen kann, stellt Melanie Waldheim so dar: „Die ‚gesellige Wechselberührung‘ geht über die Interaktion der Künste hinaus und umfasst ebenso die Interaktion der Betrachter. Das Museum, so argumentiert Louise gegen die Selbstbezogenheit von Kunst, ist ein Ort, in dem der Austausch stattfinden kann. ‚So arbeitete ja der Künstler immer nur für den Künstler; Eine Gemähldesammlung würde auf die andre gepfropft, und die Kunst fände, wie es leider oft der Fall ist, in ihrem eignen Gebiete den Ursprung und das Ziel ihres Daseyns. Nein, mein Freund, Gemeinschaft und gesellige Wechselberührung ist die Hauptsache.‘ (AWS: 20) Das bedeutet, dass Galerien nicht nur der Rezeption von Künstlern dienen, sondern darüber hinaus auch die Interaktion zwischen Betrachter und Kunstwerk ermöglichen und dem Kontakt mit anderen menschlichen Ausdrucksformen Raum geben, wie es für Sprache und Poesie maßgeblich ist. Die Kunst braucht einen Rezipienten und eine sprachliche Aneignung. Damit würde der Wirkungskreis über den Ort der Galerie und die Personengruppe der Künstler hinausreichen zu allen Menschen. Louise betont mehrfach die Aneignung der visuellen Kunst über Sprache und löst dies auch mit ihren Beschreibungen ein. Gleichzeitig vermittelt sie durch die Beschreibung die Kunst an weitere Personen.“ (a.a.O.: 78 f.)
Diese Position könnte man als frühe Begründung für den Sinn des freien Sprechens über Kunst sehen – gewissermaßen als Geburt des Bildergesprächs aus dem Geist der Frühromantik. Sie richtet sich zugleich gegen eine L‘art pour l‘art-Haltung bei den Künstlern wie gegen die Auffassung, es komme darauf an, individuell möglichst viel Bildungswissen über Kunst als „kulturelles Kapital“ anzusammeln, um in der Konkurrenz mit anderen einen „Distinktionsgewinn“ (Pierre Bourdieu) einzustreichen. Die „Aneignung der visuellen Kunst über Sprache“ soll, so das Ziel, gemeinsam und in gleicher Weise „allen Menschen“ möglich sein.
Melanie Waldheim beschreibt, welche „immense Auswirkung“ August Wilhelm Schlegels „Gemäldegespräch“ hatte. Der Museumsbesuch und die Auseinandersetzung mit den im Museum gezeigten Werken großer Meister wurden immer attraktiver: „Etliche Besucher pilgerten zu Raffaels Sixtinischer Madonna und notierten ihre Erlebnisse in Reisetagebüchern und Schriften.“ (a.a.O.)
Kleist und die „gegenseitige Belehrung“
Auch Heinrich von Kleists 1810 in den von ihm herausgegebenen Berliner Abendblättern veröffentlichter Artikel „Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft“ bezog sich, zumindest indirekt, auf Schlegels „Gemäldegespräch“. Grundlage für den Artikel waren Unterhaltungen von Besucherinnen und Besuchern in der Ausstellung von Caspar David Friedrichs Bild „Mönch am Meer“ in der Berliner Akademie, die Kleists Dichterkollegen Clemens von Brentano und Achim von Arnim notiert hatten.
Am Schluss von Kleists Text steht eine eklatante Wendung hin zum Betrachter, zu dessen Subjektivität und Souveränität – und zur Betrachtung als aktiver Aneignung von Kunst. Für seine Wahrnehmungen und Fragen vor dem Bild sucht Kleist nicht etwa Rat und Hilfe bei Kunstexperten oder Aufklärung durch das Lesen gelehrter Bücher. Vielmehr will er sich von anderen Betrachtern des Bildes dadurch Anregungen holen, dass er ihren Kommentaren zuhört: „Doch meine eigenen Empfindungen, über dies wunderbare Gemälde, sind zu verworren; daher habe ich mir, ehe ich sie ganz auszusprechen wage, vorgenommen, mich durch die Äußerungen derer, die paarweise, von Morgen bis Abend, daran vorübergehen, zu belehren.“
Den Schritt zum Bildergespräch, zum offenen Diskurs mit anderen, wagt Kleist noch nicht. Immerhin ist es ein virtueller oder imaginärer Austausch mit dem Ziel der Klärung von Positionen, den er sich vorstellt. Damit würde ein Bild der Einsamkeit, vor dem der Betrachter zunächst einsam steht, zum Mittel der Stiftung eines sozialen Zusammenhangs. Dieser könnte auch das Gefühl aufheben oder mildern, das Kleist – und nicht nur er – vor dem Bild empfindet: „Der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis zu sein“. Nichts könne „trauriger und unbehaglicher sein, als diese Stellung in der Welt“, schreibt er. Indem Kleist beschließt, „von Morgen bis Abend“ anderen dabei zuzuhören, was sie zu dem Bild zu sagen haben, könnte er seine eigene Isolation, seine Stellung in der Welt potenziell zumindest eine Zeit lang aufheben oder aufgeben.
Voraussetzung dafür ist, dass die vorübergehenden Betrachter des Gemäldes ihre Empfindungen und Wahrnehmungen nicht für sich behalten, dass sie sie den anderen – ihren Partnerinnen und Partnern – preisgeben und dabei darauf vertrauen, ernst genommen zu werden, weil sie die Erfahrungen der anderen auch ernst nehmen. Die gegenseitige Bereicherung und „Belehrung“, die dabei entsteht, hat nichts von der autoritativen Wissensvermittlung durch Experten oder trockener Gelehrsamkeit an sich. Alle können und dürfen etwas sagen und einander zuhören. Auch derjenige wird geduldet, der, wie Kleist, allen anderen nur zuhören möchte, bevor er seine eigene Meinung „ganz auszusprechen wagt“. Dies entspricht dem Ideal eines demokratischen Umgangs miteinander, das Kleist hier, ohne es bewusst zu wollen oder vielleicht auch nur zu ahnen, formuliert hat.
Wider die „kunsthistorische Halbbildung“
Im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden die Ansätze zu einer freien Kommunikation der Besucherinnen und Besucher in Galerien und Museen zurückgedrängt zugunsten des Anspruchs der Häuser auf fachliche Führung. Die Kunsthistorikerin Gabriele Sprigath, die in ihrem Buch „Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen“ ein Konzept für Bildergespräche und Erfahrungen damit dargestellt hat, beschreibt in ihren Veröffentlichungen, wie die Kunstgeschichte als „späte Wissenschaft“ sich, um ihre Wissenschaftlichkeit zu beweisen, auf positivistische Verfahren, ikonografische Vergleiche und die Konstruktion von Kunstepochen und Stilen verlegte. Die Seite der Rezeption wurde vernachlässigt, die subjektive Wahrnehmung von Kunstwerken durch ihre Betrachterinnen und Betrachter galt als eher unwissenschaftlich. Die „Gefühlswirkung der Kunst“ (Sprigath) blieb außerhalb des Horizonts der Kunsthistoriker, die auch die Aufklärung des Kunstpublikums über Kataloge und Führungen in die Hand nahmen. Joachim Penzel bezeichnet diese Entwicklung als „Monopolisierung des lauten Sprechens über Kunstwerke“ durch die Experten (Penzel 2007: 249).
Damit einher ging die einseitige Orientierung der Kunstvermittler auf die Kunstgeschichte, im engeren Sinn auf die Stilgeschichte als das, was zum Verständnis eines Kunstwerks angeblich unabdingbar notwendig sei. Heinrich Wölfflin, der an das „Erklären von Kunstwerken“ (so der Titel eines Aufsatzes von ihm) die strengsten Maßstäbe anlegte, hat in seinem Text „Über kunsthistorische Verbildung“ von 1909 dazu gesagt: „Kunstgeschichte kennen gilt als gleichbedeutend mit Kunst verstehen. Und eben das ist falsch, und das Laienpublikum kommt in ein ganz schiefes Verhältnis zur Kunst, indem es die Vorteile seines natürlich-unhistorischen Standpunktes preisgibt, ohne doch den andern Standpunkt, den fachmännisch-historischen, gewinnen zu können.“ (Wölfflin 1961: 45) Was so bestenfalls entstehe, sei „kunsthistorische Halbbildung“ und „eine Art von falschem Kennertum“ (a.a.O.: 48).
Der „natürlich-unhistorische Standpunkt“ von im Sinne Wölfflins unverbildeten Kunstbetrachtern und Kunstbetrachterinnen bezieht Bilder dagegen unmittelbar auf die Gegenwart, auf eigene Bedürfnisse und Interessen, lässt Bilder auf sich wirken, statt sich von vorneherein an einem Bildungskanon zu orientieren.
Wölfflins Unterscheidung zwischen dem kunstwissenschaftlichen Blick und dem des Laienpublikums ist zwar von der Kunstpädagogik aufgenommen worden, hat aber bis heute wenig Konsequenzen im Kunst- und Kulturbetrieb. Man nehme nur die dickleibigen Ausstellungskataloge, in denen Fachwissen ausgebreitet und popularisiert werden soll. Oder die Vielzahl von Führungen in Museen und Galerien, bei denen der Standpunkt der Laien überhaupt nicht zur Geltung kommt, wie man an der Stummheit des Publikums beobachten kann. Nur bei dialogischen Formen des Umgangs mit Kunst könnte das anders sein.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelten sich solche Formen des Dialogs über Kunst erneut im Rahmen der Volkserziehungs- und Kunsterziehungsbewegung. Hier ist als Pionier Alfred Lichtwark zu nennen, der als Leiter der Hamburger Kunsthalle 1886 mit Schulklassen „Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken“ machte. Auch bei der Führung von Gruppen aus der Industriearbeiterschaft durch die Museen wurde seine – allerdings noch sehr lernzielorientierte – Methode des angeleiteten gemeinsamen Sprechens über Kunst angewandt.
Dass das Kunst- oder Bildergespräch im Rahmen reformpädagogischer Ansätze und Praxen vor dem Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Zeit aufgegriffen worden ist, steht zu vermuten. Quellen dazu sind mir leider nicht bekannt.
Kunst als Lebensmittel für alle
Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint das Bildergespräch als explizite Methode erst im Zusammenhang mit dem Wiederaufleben reformpädagogischer Ansätze in den 1960er Jahren – dann auch in Folge der 68er-Bewegung – erneut praktiziert worden zu sein. Zu nennen sind hier vor allem der Kunsthistoriker Max Imdahl, der mit Arbeitern von Bayer Leverkusen Gespräche über moderne Kunst führte (vgl. Imdahl 1982) und, wie schon erwähnt, Gabriele Sprigath, an deren Methode sich auch die Frankfurter KunstGesellschaft bei ihren Bildergesprächen seit den 1990er Jahren orientierte (vgl. Sprigath 1986 und Diederich 2014).
In der DDR gab es Ansätze zu Bildergesprächen mit Betriebs- und Besuchergruppen bei den zentralen Kunstausstellungen in Dresden, bei denen Bilder direkt auf die Lebens- und Arbeitssituation der Beteiligten bezogen wurden. In mindestens einem Museum gab es ein „Kunstkabinett“ mit methodischen Bildergesprächen für Schülerinnen und Schüler.
Zum Sinn des freien Sprechens über Kunst hat Gabriele Sprigath angemerkt: „Erst im Gespräch kann sich der Betrachter seine persönliche Beziehung zum Bild in Form von Assoziationen bewusst machen. Hat er dazu keine Gelegenheit, dann werden ihm auch die dabei hervortretenden Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Erwartungen nicht bewusst, die er stattdessen weiter verinnerlicht. Die im Gespräch realisierte Phantasietätigkeit, in der der Betrachter sich ein eigenes Stück Selbstbewusstsein erobert, findet nicht statt.“ (Sprigath 1986)
Erkenntnistheoretische Begründungen und Rechtfertigungen für eine Methode, die vom Subjektiven, von den unterschiedlichen Perspektiven und Betrachtungsweisen ausgehend zum Objektivierbaren und Objektiven voranschreiten will, gibt es selbstverständlich auch. Als Beispiel sei hier ein Diktum von Friedrich Nietzsche zitiert: „Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein.” (Nietzsche 1887)
Die Methode des Kunst- oder Bildergesprächs ist, trotz aller inzwischen erfolgten Aufnahme dialogischer Elemente in die Museumspädagogik und die Kunstvermittlung, nach wie vor eher randständig und erscheint im gegenwärtigen Kulturbetrieb als fast schon etwas subversiv. Ihr geht es um die „freie Assoziation“ in des Wortes doppelter Bedeutung: Als Freisetzung von Wahrnehmungen und Interpretationen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die nur moderiert, aber nicht auf ein schon vorgegebenes Ergebnis hin geführt werden. Und als gemeinsame Aktivität einer Gruppe, die der demokratischen Forderung „Kultur für alle“ nachkommt. Dieser emanzipatorische Anspruch widerspricht dem Bemühen von verschiedenen Seiten, die Interpretationshoheit über kulturelle Erzeugnisse zu behalten.
Dabei geht es auch um die Rolle der Kunst in der und für die Gesellschaft. Jürgen Habermas hat das einmal so beschrieben: Sobald Kunst nicht mehr dem Prinzip L‘art pour l‘art folge, sondern „auf Lebensprobleme bezogen“ werde, höre sie auf, eine Sache der „Expertenkultur“ zu sein. „Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretation der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen…“ (Habermas 1980: 50).
Wenn Kunst nicht mehr als Kulturgut für eine Minderheit der Wissenden und Gebildeten betrachtet wird, sondern als „Lebensmittel“ für jede und jeden, wenn die Formen ihrer Aneignung dem entsprechen, dann kann sich ihr kritischer und potenziell utopischer Gehalt besser entfalten. Ganz im Sinne von Walter Benjamins Bestimmung: „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“ (Benjamin 1955: 170).
Über den durch „ästhetisches Denken“ und Wahrnehmen geförderten „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil) schreibt der Kunstwissenschaftler Wolfgang Welsch: „Wer durch die Schule der Kunst gegangen ist und in seinem Denken der Wahrnehmung Raum gibt, der (…) lockert die Sperren eingefahrener Wirklichkeitsauffassungen zugunsten der Potentialität des Wirklichen und entdeckt Alternativen und Öffnungen ins Unbekannte.“ (Welsch 1990: 76).
Das Bildergespräch kann dazu einen Beitrag leisten.
Literatur:
Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a. M. 1955
Reiner Diederich: Zur Geschichte der KunstGesellschaft, in: Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft, Band 16. Schwerpunkt: Die Wirklichkeit der Kunst. Das Realismus-Problem in der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit. V&R unipress GmbH, Göttingen 2014 [Link]
Heinrich Dilly: Die Kunstgeschichte in der Ästhetik des Widerstands, in Alexander Stephan (Hrsg.): Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M. 1983
Jürgen Habermas (1980): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, zit. nach Martin Zülch. Vom Eigensinn zum Hintersinn. Zur erkenntnisstiftenden Dimension der ökologischen Lesart, in: Kunst + Unterricht, Heft 150/1991, S. 19
Heinz Georg Held: Die Leichtigkeit der Pinsel und Federn. Italienische Kunstgespräche der Renaissance, Wagenbach Verlag, Berlin 2016
Max Imdahl: Arbeiter diskutieren moderne Kunst – Seminare im Bayerwerk Leverkusen, Edition Kunstbuch Berlin im Rembrandt Verlag, Berlin 1982
Ders.: Diskussionen über Malerei – Seminare mit Vertrauensleuten der Bayer AG Leverkusen, Bayer AG 1988
Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, in: Berliner Abendblätter, 13. Oktober 1810
Louis Marin: Über das Kunstgespräch. Diaphanes Verlag 2001
Friedrich Wilhelm Nietzsche: Zur Genealogie der Moral, 1887 – Kapitel 5, Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?
Joachim Penzel: Der Betrachter ist im Text. Berlin 2007
Heinz Schlaffer: Betreutes Sehen, Merkur Heft 744, 2011
August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde. Gespräch, Dresden 1996
Georg Schmidt: Umgang mit Kunst. Ausgewählte Schriften, Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1966
Gabriele Sprigath: Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen. Marburg 1986
Melanie Waldheim: Kunstbeschreibungen in Ausstellungsräumen um 1800, Würzburg 2014
Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Reclam Universal Bibliothek Nr. 8681, Stuttgart 1990
Heinrich Wölfflin: Aufsätze. Das Erklären von Kunstwerken. Reclam Nr. 8490, Stuttgart 1961
Anhang
Das Bildergespräch als angeleitetes Gruppengespräch über ein Bild
Reiner Diederich
1. Das Bildergespräch geht von der Anschauung aus, um zu einem Verständnis von Kunstwerken oder anderen visuellen Erzeugnissen zu gelangen. Das bedeutet „anschauendes Denken“ – vom Einzelnen zum Allgemeinen, vom Konkreten zum Abstrakten – anstelle begrifflicher Deduktion und Definition, z.B. durch Zuordnen eines Bildes zu einem „Stil“.
2. Das Bildergespräch setzt das subjektive Urteil über ein Kunstwerk frei, das auch zunächst negativ sein kann. Danach sind die Teilnehmenden aufgefordert, ihr Urteil zu begründen. Dies geht zwanglos in die Beschreibung des Bildes und später in seine Interpretation über.
3. Das Bildergespräch negiert nicht – wie bei Führungen und anderen Formen der Kunstvermittlung meistens üblich – die individuelle emotionale Wirkung von Bildern, um stattdessen Bildungswissen über Kunst zu vermitteln.
4. Der Zugang zu Kunstwerken oder anderen visuellen Erzeugnissen wird beim Sprechen über sie für diejenigen Teilnehmerinnen und Teilnehmer erleichtert, die im Umgang mit Bildern nicht so geübt sind.
5. Es handelt sich um eine Art Selbstermächtigung von Laien inmitten der „Expertenkultur“, denn auch die das Bildergespräch Moderierenden müssen nicht Kunstwissenschaftlerinnen und Kunstwissenschaftler sein. Hingegen sind gruppenpädagogische Fähigkeiten und Erfahrungen in nicht-direktiver Gesprächsführung unabdingbar, um Bildergespräche gut anleiten zu können.
6. Zum Verständnis des Bildes notwendig erscheinende Informationen werden von den das Gespräch Moderierenden erst gegeben, nachdem die Gruppe zunächst einmal durch freie Assoziation und Reflexion versucht hat, sie sich selbst zu erarbeiten.
7. Kunstwissenschaftliche Erkenntnisse und Interpretationen können zum Schluss eingebracht werden, um sie mit den Ergebnissen der Gruppe zu vergleichen.
8. Das Bildergespräch ist eine Form der aktiven Aneignung von Kunst in einer Gruppe anstelle der konsumtiven Wissensvermittlung bei Führungen oder durch individualisierende Audioguides.
9. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer vergegenwärtigen sich das Bild, d.h. sie beziehen es unwillkürlich auf ihre eigene Situation und die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse. Dies soll im Verlauf des Gesprächs bewusst gemacht werden. Dabei kann auch der kritische und utopische Gehalt von Kunst zur Geltung und Wirkung kommen – im Sinn einer Entwicklung des Blicks für andere, neue Möglichkeiten.
10. Bei der gemeinsamen Interpretation von Bildern stellen sich unterschiedliche Sichtweisen heraus. Sie sollen festgehalten, betont und nicht zugunsten „wissenschaftlich gesicherter“ Erkenntnisse aufgegeben werden. Zumal sie auch neue Aspekte enthalten können.
11. Die unterschiedlichen Sichtweisen und Sinnzuschreibungen können und sollen nebeneinander bestehen bleiben. Das ist damit zu rechtfertigen, dass Bilder mehrdeutig sind, mehrere Deutungen zulassen, was aber nicht heißt, dass sie beliebig deutbar wären. Alle Deutungen müssen sich am Bild bewähren, d.h. aus ihm begründbar sein, was rein subjektives „Hineindeuten“ ausschließt.
12. Eine wesentliche Erkenntnis für die an Bildergesprächen Teilnehmenden ist es, dass andere anders und anderes sehen als man selbst, ohne dass es nach „falsch“ und „richtig“ sortiert werden könnte. Es gibt darüber auch keine sinnvolle Mehrheitsentscheidung. Multiperspektivisches Sehen kann sich im günstigen Fall als Bereicherung aller herausstellen.
13. Das Bildergespräch fördert das Bewusstsein für Ambivalenzen und Widersprüche. Damit steht es gegen ein Denken in Stereotypen, Vorurteilen und Dogmen und gegen das sich Einschließen in Informations- und Meinungs-Blasen.
14. Auf seine spezifische Weise stellt das Bildergespräch eine Einübung in demokratisches Denken und Verhalten dar.
15. Das Bildergespräch als Methode veranschaulicht und ermöglicht, dass Bilder immer wieder neu gesehen werden.