Aus: Andreas Treichler / Norbert Cyrus (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt a. M. 2004
In der Ausbildung von Sozialpädagogen/Sozialarbeitern überwiegt, was den Bereich „Ästhetik und Kommunikation“ angeht, neben traditionellen Sparten wie dem Theaterspiel, die Beschäftigung mit den „modernen“ Medien Fotografie, Film und Video. Die Arbeit mit diesen Medien erscheint besonders praxisnah, wenn man an die Nutzbarkeit im Rahmen der späteren Tätigkeit – besonders in der Jugendarbeit – denkt.
Eine Auseinandersetzung mit bildender Kunst (Malerei und Plastik) findet eher am Rande statt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dies auch etwas mit der tradierten Bildungshierarchie zu tun hat. Die individualisierte, kontemplative Rezeption von Kunstwerken war lange Zeit eine Sache der Ober- und oberen Mittelschicht. Auch wenn sich die Besucherstruktur großer Kunstausstellungen in den letzten Jahrzehnten zugunsten einer größeren sozialen Breite geändert hat, bestehen nach wie vor schichtspezifische Barrieren.
Die Studierenden an den Fachhochschulen stammen vorzugsweise aus Familien der mittleren und unteren Mittelschicht. Der Anteil von Studentinnen und Studenten aus Arbeiterfamilien ist höher als an den Universitäten, wenngleich auch hier keinesfalls von einer Chancengleichheit im Sinne einer repräsentativen Verteilung entsprechend der Berufsgliederung in der Gesamtgesellschaft gesprochen werden kann (vgl. Geißler 1996: 348 ff.). Da sich andererseits das „Klientel“ von Sozialpädagogik/Sozialpädagogik nach wie vor bzw. zunehmend wieder vor allem in der Unterschicht und in Randschichten von Marginalisierten findet, kann davon ausgegangen werden, dass es – angesichts der genannten schichtspezifischen Barrieren im Umgang mit Kunst – in doppelter Hinsicht keine starke Motivation dafür gibt, die Beschäftigung mit bildender Kunst in die Ausbildungsgänge und in die spätere Berufspraxis zu integrieren.
Vom Anspruch einer sozialen Kulturarbeit her, die seit den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts auch als ein Beitrag zur Demokratisierung von Kunst und Kultur gesehen wurde, erscheint das als Manko. Denn die damals entworfenen Konzepte einer „Soziokultur“ (Glaser/Stahl 1974) oder einer „Kultur für alle“ (Hoffmann 1981) waren nicht dazu gedacht, die „hohe Kultur“ zugunsten populärerer Medien auszusparen. Im Sinne Bert Brechts sollte es darum gehen, „den Kreis der Kenner zu erweitern“, statt „volkstümlich“ sein zu wollen. Die Ziele oder Ansprüche eines „soziokulturellen Verständnisses von Kultur, Kulturarbeit und Kulturpolitik“, wie sie seinerzeit formuliert wurden, lassen sich wie folgt zusammenfassen:
- „die kulturelle und künstlerische Selbsttätigkeit der Menschen zu stärken sowie zur Selbstorganisation und Selbstverwaltung von Kultureinrichtungen und Kulturprojekten beizutragen;
- künstlerische Produktions-, Vermittlungs- und Aneignungsformen in die Alltagskultur einzubinden und möglichst vielen Menschen den Zugang zu Kultur und Kunst zu erleichtern;
- die Integration verschiedener Altersgruppen, sozialer Schichten und unterschiedlicher Nationalitäten durch kulturelle Aktivitäten zu unterstützen und somit zum ‘innergesellschaftlichen Kulturaustausch’ (Hermann Glaser) beizutragen sowie
- das Verständnis emanzipativer kultureller Praxis, die helfen möchte, dass Menschen selbst ‘Bilder eines gelungenen Lebens’ entwickeln und ausprobieren können“ (Wagner 2001: 4).
Soziokultur sei, so wurde es von ihren Protagonisten proklamiert, „der Versuch, vorrangig, neben anderen Aspekten, Kunst als Kommunikationsmedium zu begreifen …, die plurale Gesellschaft auf der kommunikativen Ebene zusammenzubringen“ (Glaser/Stahl 1974: 145). Hermann Glaser hat diese Forderung in seinem Beitrag über „soziale Kulturarbeit“ im „Wörterbuch Soziale Arbeit“ präzisiert (Glaser 1996).
Soziale Kulturarbeit grenze sich ab von der „affirmativen Kultur“, die „die geistig-seelische Welt als ein selbständiges Reich von der Zivilisation abzulösen und über sie zu erhöhen trachtet“. Sie wende sich „Personen und Gesellschaftsschichten“ zu, „denen die Erschließung von ‘Kulturräumen’ weitgehend versagt geblieben ist“, weil ihre familiäre und schulische Sozialisation dies nicht ermöglichte. „Sie muß, um ‘Rückstände’ überwinden zu können, ihre Ziele sehr anschaulich definieren, in ihren Methoden und Stoffen (Inhalten) an alltägliche Lebens- und Arbeitserfahrungen anknüpfen“ (a.a.O.: 384). Die dabei angestrebte „Demokratisierung des Ästhetischen“ dürfe aber nicht so verstanden werden, „als ob es eine Zweiklassenkultur gäbe: die hohen erhabenen Güter (‘Hochkultur’) für die Privilegierten; für die anderen eine ‘Popularkultur’.“ Ziel sei „kulturelle Kompetenz“ für alle. Aber: „Angesichts dominanter Warenästhetik und einer zunehmend veroberflächlichten Medienwelt…, angesichts einer anästhetisierenden Beliebigkeitsästhetik hat Kulturpädagogik einen schweren Stand“ (a.a.O.: 384). Andererseits sprächen die in der heutigen Arbeitswelt zunehmend geforderten Schlüsselqualifikationen für den Nutzen „soziokultureller Kompetenz“.
Fasst man das noch einmal zusammen, so können an eine praktikable Methode sozialer Kulturarbeit folgende Anforderungen gestellt werden:
- Sie muss die Arbeit auch mit sogenannten „bildungsfernen“ Gruppen und Schichten und vor allem auch mit Angehörigen der Migrantenpopulation bzw. „ethnischer Minderheiten“ in der Bundesrepublik ermöglichen.
- Sie muss dazu geeignet sein, die Grenzen sprachlicher Niveaus und (sub)kultureller Codes zu transzendieren.
- Sie muss einen Kulturbegriff zugrunde legen, der nicht strikt zwischen „hoher“ und Alltagskultur trennt.
- Sie muss davon ausgehen, dass zwischen Ästhetik und Ethik, Kunst und Politik Verbindungen hergestellt werden können, ohne einem „Inhaltismus“ (Bert Brecht) zu verfallen, der die falsche Alternative zum „Formalismus“ (oder Ästhetizismus) darstellen würde.
- Sie muss auf der Basis einer kulturellen Allgemeinbildung und einer sozialpädogischen Ausbildung erlernt und praktiziert werden können, also nicht kunst- und kulturwissenschaftliches Expertentum voraussetzen.
Diesen Anforderungen entspricht, wie gezeigt werden soll, das Bildergespräch als eine Methode sozio- und interkultureller Arbeit in exemplarischer Weise.
Vom Nutzen der Bilder
„Sehen kommt vor Sprechen.“ Mit diesem Satz leitet der Schriftsteller John Berger eines seiner Bücher über Kunst ein (Berger u.a. 2000: 7). In dem alten Streit zwischen Wort und Bild um den Vorrang scheinen neuerdings die Bilder zu gewinnen. Es ist von einem „iconic turn“ nicht nur in den Wissenschaften die Rede. Gegenüber solch modischem Sprachgebrauch empfiehlt es sich, skeptisch zu bleiben. Es genügt doch, dass es in der neueren Diskussion zur „visuellen Kompetenz“ auch um die mögliche „Visualität von Wissen“ geht (Huber et. al. 2002: 7). Bisher wurde meist davon ausgegangen, dass es sich beim Wissen allein um „sprachlich oder schriftlich verfasstes Wissen“ handelt. Dabei wurden “die Sinne als wichtige Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Wissensquelle … als subjektiv und unzuverlässig abqualifiziert“ (a.a.O.). Bilder haben, abgesehen von ihrer möglichen Nutzung als Wissensspeicher, im Vergleich zu Sprache und Schrift sogar Vorteile. Sie „sind besonders geeignet, eine Orientierungsfunktion zu übernehmen, wie sie ebenfalls in besonderer Weise eine emotionale Kommunikation erlauben“ (Sachs-Hombach 2002: 23). „Es gibt experimentelle Belege, dass die Erzeugung von Emotionen wie die Änderung von Einstellungen im Bildmedium schneller erfolgen und mit einer besonderen Glaubhaftigkeit verbunden sind“ (a.a.O.: 27). Daran ist die „konstitutionelle Vieldeutigkeit der Bilder“ (a.a.O.: 32) insofern beteiligt, als sie einen (spielerischen) Wechsel des eigenen „Standorts“ ermöglicht, ja sogar nahelegt.
Aleida Assmann zitiert zur Begründung des Nutzens von Bildern den Philosophen Friedrich Nietzsche, der den gebildeten Menschen einmal als denjenigen definiert hat, „dessen Horizont mit Bildern umstellt ist. Damit hat er auf das Element Bild im Begriff der Bildung aufmerksam gemacht“ (Assmann 2002: 219). Heute erscheint unser Horizont in ganz anderer Weise „mit Bildern umstellt“. Wie mit der „entfesselten Bilderflut des neuen Medienzeitalters“ umgehen? Nach Assmann stellt sich die Alternative: Entweder eine oberflächliche Akkumulation von visueller Information, eine „Kultur der Ablenkung“, wie sie die Massenmedien bieten, oder eine „Kultur der Versenkung“, die nicht Privileg der Gebildeten bleiben muss bzw. auch diesen schon verloren gegangen ist. Besucher von Museen bleiben nach empirischen Untersuchungen durchschnittlich nur noch 15 Sekunden vor einem Bild stehen. Assmann sieht Abhilfe in der Ausdehnung der Rezeptionszeit durch „verbale Beschreibungen“: „Die Worte halten den Betrachter, der sonst eilig davonlaufen würde, am Bild fest. Durch Verlängerung und Anreicherung der Aufmerksamkeit holen sie Kunstwerke aus einer Kultur der Ablenkung in eine Kultur der Versenkung zurück. Mit dieser Dehnung der Aufmerksamkeit stellen sie zugleich den Gedächtniswert des Bildes wieder her“ (a.a.O.: 218) Das ist ein Hinweis auf den Nutzen des Sprechens über Bilder.
Was für Kunstwerke gilt, gilt auch für Bilder minderer Komplexität, ohne den prinzipiellen Unterschied zwischen Kunst und anderen Bildmedien verwischen zu wollen. Ein frei assoziierendes und interpretierendes Sprechen über Bilder aller Art, an dem sich viele beteiligen, ermöglicht nicht nur den Austausch verschiedener Sichtweisen, das Ausschöpfen der Information, die in Bildern enthalten ist und Erkenntnisse darüber, wie sie gemacht sind. Die Fähigkeit zum kritischen Umgang mit heutigen Bildmedien kann im Gespräch über ihre Erzeugnisse entfaltet werden. Die Beschäftigung mit Werken der bildenden Kunst ist aber durch nichts zu ersetzen, wenn es, wie Aleida Assmann sagt, nicht nur um „Oberflächenbilder“, sondern um „Tiefenbilder“ geht. Kunst hat einen spezifischen „Gebrauchswert“, der auch und gerade darin bestehen kann, die herrschende Tauschwert-Ökonomie in Frage zu stellen (vgl. Diederich 2003; Negt 1995 u.a.).
Kunstwerke gehören zugleich einer historisch und regional besonderen und der universellen Kultur der gesamten Menschheit an. Sie sind deshalb als Gegenstand eines interkulturellen Austauschs prädestiniert. Die Gefahr der „Kulturalisierung“ ihres Verständnisses besteht dann nicht, wenn Kultur nicht als etwas Abgeschlossenes, Widerspruchsfreies, mit sich selbst Identisches gesehen wird; wenn klassen-, schicht- und geschlechtsspezifische kulturelle Varianten und Alternativen nicht zugunsten einer idealtypischen ethno-kulturellen Konstruktion unterschlagen werden. Interkulturalität wäre, um der Falle der Ethnisierung zu entgehen, allgemeiner zu denken. Nicht nur zwischen ethnischen Minderheiten und der Mehrheitsgesellschaft besteht die Möglichkeit und Notwendigkeit eines interkulturellen Austauschs, sondern auch zwischen den verschiedenen Schichten, kulturellen Milieus und (subkulturellen) Gruppen der Gesellschaft insgesamt. Dabei gibt es selbstverständlich „ein Recht auf kulturelle Differenz und entsprechende Selbst- und Fremdabgrenzung. Problematisch ist vor allem die sozial vertikale Ab- und Ausgrenzung, die die horizontale Differenz (zwischen ‚Ethnien‘ und ‚Kulturen‘ – R.D.) benutzt und überlagert“ (Fijalkowski 1999: 212).
Für interkulturelle Kommunikation gilt nach Georg Auernheimer das „Prinzip der Gleichheit und Prinzip der Anerkennung“ (Auernheimer 2003: 20). „Ziele von interkultureller Erziehung und Bildung sind … zum einen Haltungen, zum anderen Wissen und Fähigkeiten, zum Beispiel das Wissen um strukturelle Benachteiligung, Sensibilität für mögliche Differenzen, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel… Verstehen und Dialogfähigkeit sind die anderen übergreifenden Ziele interkultureller Bildung… Nach Auffassung maßgeblicher Theoretiker ist Verstehen immer dialogisch“ (a.a.O.: 21). Interkultureller Pädagogik müsse der „Ausnahmecharakter“ genommen werden. Es gebe „strukturelle Gemeinsamkeiten“ mit anderen Lehr- und Lernsituationen, zum Beispiel die Notwendigkeit der „Individualisierung“ und des „Lebensweltbezugs“. „Es gilt, Fremdheit und Verstehen als pädagogische Grundprobleme zu begreifen“ (a.a.O.: 54f). Dabei ist ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt: „Das, was wir über die Fremden zu wissen meinen, hindert uns am meisten, sie zu verstehen“ (Gaitanides 1993: 192). Diesen Definitionen und Anforderungen kann das Bildergespräch als eine – sicherlich in Anwendung und Wirkung begrenzte – Methode interkulturellen Lehrens und Lernens gerecht werden. Es geht hier um den Dialog, die gemeinsame Interpretation, die Anerkennung dessen, was die anderen sehen und sagen, die Relativierung des Vorwissens und den Versuch, etwas Fremdes zu verstehen – ein Kunstwerk oder ein Bild anderer Art. Die „Fähigkeit zum Perspektivwechsel“ kann durch die Wahrnehmung der prinzipiellen Mehrdeutigkeit und Auslegbarkeit von Kunst gefördert werden (vgl. Diederich 2002).
Jan und Aleida Assmann haben als Voraussetzung für interkulturelle Verständigung die Entwicklung einer „Kultur des Konflikts“ gefordert: „Die Frage ist nicht primär die nach einer gemeinsamen Wahrheit, in der man sich trifft, nach Konsens der Urteile oder Fusion der Horizonte, noch geht es um eine Ethik, die auf der metaphysischen Alterität des Anderen gründet. Die Frage ist allgemeiner und lautet: wie laufen komplementäre Beziehungen ab? Welches sind die Umstände, Bedingungen und mutuellen Determinierungen des Gegenseitigkeitshandelns?“ (Assmann/Assmann 1990: 36). Notwendig sei „eine Praxeologie des Gegenseitigkeitshandeln, die situativ, mutuell und nach vorne offen ist. Diese zeichnet sich ab, wo immer ein Rahmen gefunden wird, in dem das Handeln beider Seiten sich als ein System darstellt“ (a.a.O.: 38). Exemplarisch und im Kleinen kann das Bildergespräch einen solchen Rahmen bieten.
Über Bilder sprechen
Voraussetzung des Sprechens über Bilder ist ihre „kommunikative Funktion“ selber. Bilder sind „mehrdeutig oder kommunikativ unbestimmt, aber auf Mitteilung gerichtet“ (Stöhr 1996: 7). Zwischen Bild und Betrachter gibt es ein „wechselseitiges Bedingungsverhältnis“, d.h. dass Bilder „immer wieder neu und anders“ gesehen werden können (a.a.O.: 8). Ihre Bedeutung konstituiert sich erst in einem aktiven Aneignungsprozess des oder der Betrachtenden. Damit hängt auch die potentiell „gesellschaftsverändernd-emanzipatorische Funktion ästhetischer Erfahrung“ zusammen (a.a.O.: 13). Sich selbst ein Bild machen – das kann man nicht nur von einem Sachverhalt, sondern auch von einem Bild oder mit seiner Hilfe. Dabei ist die Differenz zwischen eigener Imagination, dem Bild und der Wirklichkeit kritisch zu erkennen. Das kann jeder leisten, ganz gleich, welche Vorbildung er hat. Gleichwohl gilt: „Es gibt keine Wahrnehmung, die nicht einen unbewußten Code einschlösse; dem Mythos vom ‚reinen Auge‘ als einer Begnadung, wie sie allein der Einfalt und Unschuld zuteil wird, kann nicht nachdrücklich genug widersprochen werden“ (Bourdieu 1974: 162).
Das Bildergespräch als eine Methode des Sprechens über Bilder ist ein angeleitetes, strukturiertes, aber nicht-direktives Gruppengespräch über ein Bild. Es folgt keinen didaktischen Vorgaben, sondern stellt die Wahrnehmungen, Assoziationen und Interpretationen der Teilnehmenden selbst in den Mittelpunkt, ohne sie zu bewerten. Es setzt voraus, dass die Aneignung von Bildern ein Prozess ist, in dem es nicht in erster Linie um kognitives Wissen geht, sondern um eine Erkenntnis, die durch alle Sinne vermittelt ist. Gegenstand können Bilder aller Art sein – Kunstwerke, Fotografien, Karikaturen, Werbeplakate, Titelblätter von Zeitschriften u.a. Bildergespräche dauern in der Regel, wenn es sich um komplexe Bilder handelt, über eine Stunde. Sie arbeiten heutigen Bildkonsumgewohnheiten entgegen durch eine “bewusste Verlangsamung der Bildwahrnehmung“ (Sauer 2000: 14), wie sie auch vom Einsatz von Bildanalysen in Lernsituationen als erwünschter Nebeneffekt erwartet wird. Im Unterschied zur objektivierenden, lernzielorientierten Bildanalyse arbeitet das Bildergespräch mit und an den subjektiven „unbewussten Codes“ der Teilnehmer – die nicht nur individuell, sondern auch kollektiv (klassen-, schicht-, geschlechtsspezifisch und ethnisch-kulturell) geprägt sind. Sie werden im Verlauf des Gesprächs sichtbar, führen aber nicht zum Auseinanderdividieren der Gruppe, weil sie wegen der „konstitutionellen Vieldeutigkeit“ des Bildes nebeneinander bestehen bleiben können. Dass Andere anders und Anderes sehen als man selbst, wird in der ruhigen, konzentrierten Atmosphäre eines bildzentrierten Gruppengesprächs nicht als Bedrohung der eigenen Position empfunden, sondern als Erweiterung der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit und Vertiefung des eigenen Verständnisses von Bildern.
Erfahrungen mit Bildergesprächen
In der sozialpädagogischen und museumspädagogischen Literatur des letzten Jahrzehnts werden Gruppengespräche über Bilder in der einen oder anderen, meist nicht sehr ausgearbeiteten Form neben anderen erfahrungsorientierten Ansätzen erwähnt (vgl. Mann et. al. 1995; Cremer/Drechsler 1996). Außer verstreuten kleineren Berichten und Materialien scheint es nichts Zusammenfassendes über ihren Einsatz in der sozialen Kulturarbeit und in der sozialpädagogischen Ausbildung zu geben, mit Ausnahme eines Beitrags (Diederich 1993). Was den spezifisch interkulturellen Aspekt betrifft, so hat Annita Kalpaka einen Ansatz zu Bildergesprächen in Seminaren zu den Themen Rassimus und interkulturelles Lernen beschrieben. Bei „hoffnungslos polarisierter Diskussion in der Lerngruppe“ habe sie mit Erfolg Bilder (Fotografien, auf denen „Schwarze“ und „Weiße“ zu sehen sind) eingesetzt, mit den Leitfragen: „Was sehe ich auf diesem Bild? In welcher Beziehung stehen die darauf abgebildeten Personen zueinander? Welche Gefühle löst das Bild bei mir aus?“ (Kalpaka 1994: 212) Sie orientierte sich dabei an den Arbeiten von Philip Cohen (Cohen 1994) und dem britischen „Photolanguage“-Konzept (de Vere/Rhonne 1991). Die Arbeit mit Bildern biete „eine Möglichkeit, den jeweils eigenen Bildern und ihren Entstehungsbedingungen auf die Spur zu kommen“ (Kalpaka 1994: 207). Entscheidend sei dabei, dass sie nicht als „Motivationstrick“ der Lehrenden erscheine, die sich selbst an dem Prozess beteiligen müssten. Nötig seien „Rahmenbedingungen, in denen nicht sanktioniert“ und „Herangehensweisen, die nicht wertend sind“ (a.a.O.: 225). Die Methode sei also weniger für Schulen geeignet, eher für die Erwachsenenbildung und für die Fortbildung von Experten.
Beim gemeinsamen „Bilderlesen“ würden die unterschiedlichen Deutungen und Sinnzuschreibungen als subjektive Produktionen (oder auch Projektionen) deutlich und damit der (Selbst-)Reflexion zugänglich. Verhärtete „Standpunkte“ könnten sich bei der Interpretation eines Bildes gerade dadurch auflockern, dass sie nicht als „richtig“ oder „falsch“ zensiert, sondern nebeneinander gelten gelassen würden. Vor allem könne „bewußt werden, daß es nicht die Bilder an sich sind (sofern sie nicht plakativ bzw. stereotypisierend sind), die etwas Eindeutiges zeigen, sondern daß jede und jeder darin etwas Bestimmtes sieht, was – wenn nicht auf der Beschreibungs- so doch spätestens auf der Interpretationsebene – sehr unterschiedlich … ausfällt. Diese Erfahrung scheint mir von Bedeutung, wenn an dem Aufbrechen von Stereotypen, von vereindeutigten und von rassistischen Bildern gearbeitet werden soll“ (a.a.O.: 217). Die Widersprüche, die dabei deutlich würden, bedeuteten nicht einfach „ein Problem der Wahrnehmung“, sondern verwiesen „auf gesellschaftliche Widersprüche“ (a.a.O.: 223).
Zur Methode des Bildergesprächs
Das Bildergespräch nach der zuerst von Gabriele Sprigath entwickelten Methode beginnt mit spontan geäußerten Geschmacksurteilen der Teilnehmer über das Bild, die vom Moderierenden nur gesammelt, nicht kommentiert werden. Aus ihnen lassen sich Fragen ableiten, die dann zur Beschreibung des Bildes durch die Teilnehmer führen. In dieser Phase achtet der oder die Moderierende darauf, dass möglichst viele der Teilnehmer zu Wort kommen, dass die Beschreibung immer wieder am Bild kontrolliert wird und möglichst detailliert und umfassend geschieht. Die Aussagen der Teilnehmer werden nicht bewertet und auch, wenn sie einander widersprechen, stehen gelassen, sofern etwas nicht durch genaueres Nachschauen geklärt werden kann.
Die Phase der Beschreibung geht zwanglos in die Phase der Interpretation über. Eine strikte Trennung beider Phasen ist nicht möglich und wäre auch nicht sinnvoll, da sonst zuviel von den Assoziationen der Teilnehmer verloren ginge. Wenn sich bei der Interpretation herausstellt, dass Teile des Bildes noch nicht genau genug wahrgenommen bzw. beschrieben worden sind, geht man einen Schritt zurück zur Beschreibung, um dann wieder zur Bedeutung zu kommen. Der oder die Moderierende steuert und strukturiert den Ablauf des Gesprächs durch Zwischenzusammenfassungen und Impulse für den jeweils nächsten Schritt, ohne eine Interpretationsrichtung vorzugeben oder gar eine angeblich „richtige“, vom Künstler gewollte bzw. „wissenschaftlich abgesicherte“ Interpretation als Auflösung des „Bilderrätsels“ zu bringen. Sinnvoll sind allenfalls Erklärungen zu Symbolen, Allegorien oder Mythen, die auf einem Bild dargestellt und zu seinem Verständnis notwendig sind, sofern sie von den Teilnehmern nicht erkannt oder gedeutet werden können. Das Gleiche gilt für Informationen zum zeitgeschichtlichen Hintergrund des Dargestellten.
In der Phase der Interpretation lassen sich noch einmal die Deutung einzelner Elemente des Bildes – Farben, Formen, dargestellte Gegenstände und Personen und ihre Konstellation, Symbole, Komposition, Techniken und Mittel der Darstellung usw. – und die Deutung des Sinns des ganzen Bildes unterscheiden. Zu letzterem fangen die Teilnehmer meist an, „Geschichten“ zu erzählen. Es sind dann immer mehrere, die sich ergänzen oder widersprechen können. Darüber kann an diesem Punkt kein Streit mehr entstehen, weil die Teilnehmer bereits im Verlauf des Bildergesprächs gelernt haben, dass es produktiver ist, den anderen zuzuhören und sich von ihrer Sicht der Dinge anregen und bereichern zu lassen. „Wir basteln unsere Geschichte aus dem Nachhall anderer Geschichten, aus der illusorischen Identifikation mit dem Schöpfer des Bildes, aus unserem technischen und historischen Wissen, aus Klatsch, Schwärmerei und Vorurteil, Erleuchtung, Skrupel, Erfindungskraft, Leidenschaft und Witz. Keine der von einem Bild evozierten Geschichten ist endgültig oder exklusiv, und der Grad ihrer Stimmigkeit richtet sich weitgehend nach den Umständen ihrer Entstehung“ (Manguel 2000: 20).
Erst wenn die Teilnehmer ihre Geschichten zum Bild erzählt haben, sollte der oder die Moderierende eigene Interpretationen, Aussagen der betreffenden Künstlerinnen und Künstler über ihr Werk, kunstwissenschaftliche Analysen oder Deutungen von anderer Seite zum Vergleich bringen. Diese werden nun nicht mehr einschüchternd wirken oder als gültige Antwort auf alle Fragen erscheinen, sondern als gleichberechtigte Beiträge (auch imaginärer) weiterer Teilnehmer am Bildergespräch. Nicht selten stellt sich heraus, dass die Experten eine recht eindimensionale, ihren jeweiligen Interessen und Positionen entsprechende Deutung eines Bildes favorisieren, die es im Grenzfall zur bloßen Illustration ihrer Thesen und Theorien – zum Beispiel der bei Kunsthistorikern und Kunstpädagogen beliebten formalen „Stilgeschichte“ – herabwürdigt. Demgegenüber werden in jedem Bildergespräch die Mehrdeutigkeit von Bildern und die Multiperspektivität ihrer Wahrnehmung deutlich. Zugleich werden die Bilder unmittelbar auf die „lebensweltlichen“ Interessen und Bedürfnisse der Teilnehmer bezogen. Damit verwandeln sie sich, wenn es um Kunstwerke geht, von verdinglichten Bildungsgütern bestimmter sozialer Schichten in „Lebensmittel“ (Georg Bussmann) für prinzipiell jeden.
Jürgen Habermas hat diesen Vorgang einmal so beschrieben: Sobald Kunst „auf Lebensprobleme bezogen“ werde, höre sie auf, eine Sache der „Expertenkultur“ zu sein. „Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretation der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen; sie greift gleichzeitig in die kognitiven Deutungen und die normativen Erwartungen ein und verändert die Art, wie alle Momente aufeinander verweisen“ (Habermas 1980, S. 50). Das ist besonders gut möglich, wenn die Kunstwerke einer Bestimmung Walter Benjamins entsprechen: „Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist“ (Benjamin 1955: 170). Kunst kann, das bekräftigt auch ein „postmoderner“ Theoretiker wie Wolfgang Welsch, „die Sperren eingefahrener Wirklichkeitsauffassungen zugunsten der Potentialität des Wirklichen“ lockern und „Alternativen und Öffnungen ins Unbekannte“ zeigen (Welsch 1990: 76).
- Beispiel: Julika Rudelius (geb. 1968), Fotografie
Über das Bild wurden zwei exemplarische Gespräche mit Studentinnen und Studenten der Sozialarbeit geführt. Die erste Gruppe bestand aus sieben Teilnehmerinnen, darunter drei Aussiedlerinnen. Hier stand die Kleidung der auf dem Foto zu sehenden beiden jungen Frauen im Mittelpunkt des Gesprächs. Auf den ersten Blick schien es sich eindeutig um Frauen islamischen Glaubens in traditionellem Gewand zu handeln. Auf den zweiten wurden Unstimmigkeiten deutlich: Die Füße seien entgegen der traditionellen Vorschrift nicht bedeckt und die Schuhe wirkten zu modisch. Wegen der hellen Gesichtsfarbe seien es vielleicht zwei Deutsche auf Besuch in einem islamischen Land, zum Beispiel Iran, die sich den dortigen Kleidervorschriften angepasst hätten. Sie stünden auf dem Parkplatz eines Einkaufszentrums oder Flughafens. Die sterile und uniforme Modernität der Szenerie kontrastiere mit der Traditionalität ihrer Kleidung. Die Frauen wirkten nicht sehr glücklich, eher skeptisch und unsicher. Sie fühlten sich nicht sehr wohl in ihrer „Haut“. Dies wurde von den Teilnehmerinnen aber nicht darauf zurückgeführt, dass ihnen die Kleidung aufgezwungen worden sei, dass sie mit ihrer Rolle als Muslima oder verkleidete Touristinnen unzufrieden seien, sondern eher als individueller Gefühlszustand gewertet, über dessen Ursache die Betrachterinnen verschiedene Vermutungen anstellten.
Bei diesem Gespräch wurden stereotype Verallgemeinerungen weitgehend vermieden. Das Vorurteil, verschleierte Frauen seien per se unterdrückt oder unemanzipiert, wurde von keiner der Teilnehmerinnen artikuliert. Es ist möglich, dass dies nicht nur für Toleranz und Akzeptanz einer „fremden“ Kleidung spricht, sondern auch einer Vorsicht und Zurückhaltung entspringt, die den Teilnehmerinnen eines Seminars, dass sich mit Migrationsfragen befasst, angebracht erscheint (im Sinne einer unterstellten political correctness). Immerhin sagten einige Teilnehmerinnen, dass sie solche Kleider nicht gerne selbst tragen würden. Die Reaktion bei der Aufdeckung, dass es sich um ein gestelltes Bild handelt, war kaum die des sich bei eigenen Wahrnehmungsstereotypen und Vorurteilen ertappt Fühlens. Das Bild wurde aber als eine Art Testbild für solche Stereotypen gewertet. Eine Teilnehmerin meinte, es könne deshalb gut im Rahmen von Anti-Rassismus-Trainings eingesetzt werden.
Die zweite Gruppe bestand aus vier Teilnehmern, darunter drei iranischer Herkunft. Im Unterschied zur ersten Gruppe wurde die Kleidung der Frauen von den aus dem Iran stammenden Studenten sofort und ausschließlich auf die – negativ gesehene Rolle von Frauen im Islam bezogen. Es handele sich wegen der hellen Hautfarbe eher um in Europa aufgewachsene islamische Frauen bzw. um europäische Frauen aus einer „Mischehe“. Das erkläre auch die Unstimmigkeiten in ihrer Kleidung. Sie fühlten sich nicht wohl, weil sie sich auch in Europa an eine Kleiderordnung halten müssten, mit der sie auffielen. Sie wirkten isoliert, verloren auf dem weiten Platz – ein Symbol für ihre Situation. In dem Zwiespalt zwischen aufgezwungen konservativem Auftritt und modernem Umfeld würden sie zu Außenseiterinnen. Einer meinte, dass sie „gleichsam wie Autos auf dem Parkplatz eines jener weiß umrandeten Felder besetzt halten – abgestellt oder abgelegt in Schubladen“. Den deutschen Studenten interessierten diese Aspekte kaum. Er meinte, dass das Foto wie eine Montage wirke, sehr professionell und gut gestaltet sei. Aber auch er vermutete nicht ein gestelltes Foto mit als Muslima verkleideten Frauen.
Die Teilnehmer dieser Gruppe verfügten mehrheitlich über Erfahrungen mit dem Leben in einem islamischen Land mit rigiden Kleidervorschriften für Frauen. Sie betrachteten das Bild vor diesem Hintergrund sehr kritisch. Die Aufdeckung, dass es sich nicht um ein „echtes“ Foto handelt, führte bei ihnen zu einer Reflexion darüber, dem Augenschein und den eigenen Projektionen etwas weniger zu trauen. Im Vergleich mit der Gruppe der Studentinnen könnte noch darüber nachgedacht werden, was es bedeutet, dass diese ihren Geschlechtsgenossinnen auf dem Bild eine gewisse Kleiderfreiheit zuschrieben oder zugestanden, während die Studenten islamischer Herkunft nur einen Kleiderzwang wahrnahmen, den sie abgeschafft sehen wollten – was ja auf eine neue Norm hinauslaufen könnte.
Beide Gruppen nahmen Unstimmigkeiten in dem Bild wahr und versuchten sie auf ihre Weise „einzuordnen“, kamen aber im Verlauf der jeweils etwa eine Stunde dauernden Gespräche nicht darauf, dass es sich um ein Trugbild handeln müsse. Das Vertrauen auf den dokumentarischen Charakter des Mediums Fotografie war stärker als die Zweifel. Die Rückschlüsse von der Kleidung der gezeigten Frauen auf ihre Religionszugehörigkeit entsprachen den sozial üblichen Zuordnungen. Kleider machen Leute – eben auch „Fremde“. Die Bewertung der Kleidung und der in diesem Zusammenhang vermuteten Situation der beiden Frauen differerierte entlang „kultureller“ Selbst- und Fremdverständnisse. Grob gesagt, hängt sie davon ab, wie man sich zum Islam allgemein oder zu einer von bestimmten islamischen Strömungen bzw. Staaten vertretenen Kleidervorschrift oder zur individuellen, möglicherweise auch religiös motivierten Wahlfreiheit bei der Kleidung stellt.
Wie brisant der Streit um „islamische“ Kleidung, symbolisiert im Kopftuch, in der Bundesrepublik inzwischen geworden ist, zeigt der Fall der Lehrerin Fereshta Ludin, die in Baden-Württemberg Berufsverbot bekam, weil sie nicht ohne Kopfbedeckung unterrichten wollte. Vor und nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts in diesem Fall entbrannte eine heftige öffentliche Debatte, in der sich das Stück Stoff als eine Projektionsfläche für unterschiedlichste Bedürfnisse und Interessen erwies. „In der Wertung des Tuches als ein ‚Symbol der Abgrenzung und Unterdrückung‘ … wird das Tragen durch junge Mädchen und Frauen nicht als deren Ausdrucksmöglichkeit religiösen Lebens und religiöser Überzeugung gewertet, sondern als Stigma gewendet, indem es als ein äußerliches Zeichen innerfamilialer Unterdrückung des weiblichen Teils in türkischen, bzw. islamischen Familien umgedeutet wird“ (Huth-Hildebrandt 2002: 180). Das Kopftuch als „Kollektivsymbol“ für den Islam aus europäischer Sicht hat eine lange Tradition (vgl. Pinn/Weber 1995).
Als Fazit der beiden Gespräche kann festgehalten werden, dass es gelang, mit Hilfe des Bildes von Julika Rudelius nicht nur die Frage „islamischer“ Kleidung (und damit indirekt den Islam) zu thematisieren, sondern vor allem – durch die „schockhafte“ Aufklärung über den Entstehungsprozess des Fotos das Problem stereotypisierter Wahrnehmung und den Unterschied zwischen Erscheinung und Wesen zu vermitteln. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden dafür sensibilisiert, nicht dem ersten Augenschein zu trauen und den Wahrheitsanspruch fotografischer Medien kritisch zu überprüfen. Zugleich haben sie einen Eindruck von den künstlerischen Möglichkeiten der Fotografie – als, in diesem Fall, „gestellte“ Fotomontage bekommen. Das Bild von Julika Rudelius erscheint gut geeignet, solche Lernprozesse in Gruppen in Gang zu setzen.
- Beispiel: Max Beckmann (1884-1950), Die Synagoge (1919)
Max Beckmann malte das Bild nach dem Ersten Weltkrieg als eine seiner ersten Frankfurter Stadtlandschaften. „Es stellt den damaligen Börneplatz im ehemaligen Judenviertel der Frankfurter Altstadt mit der sich im Osten des Platzes befindlichen Synagoge dar… Das Gemälde gibt den Platz mit seinen Gebäuden in einer topographisch genauen Ansicht dar“ (Kujer 1998: 37). Die expressive Komposition des Bildes, seine Farben und die „rätselhaften“ Symbole, die es enthält, verweisen darauf, dass es um etwas anderes geht, als nur um die pittoreske Ansicht eines exotischen Viertels. „Max Beckmann komponiert in sein Bild Wirkliches und Unwirkliches, Reales und Fiktives. Er scheint das lebhafte Treiben und Handeln auf dem Marktplatz vor der Synagoge als einen Brennpunkt in der schicksalhaften Konfrontation von Christen und Juden schon umgedeutet zu haben. Jüdische und christliche Symbole prallen hier aufeinander, ein enger und bedrückender Raum, das panische Gefühl einer zwanghaften Enge wird präsentiert“ (a.a.O.: 41). Diese Interpretation bezieht sich unter anderem darauf, dass Beckmann in dem dreieckigen, umzäunten Platz – dem ehemaligen „Judenmarkt“ – ein aus einfachen Brettern zusammengefügtes Kreuz zeigt, das mit den Davidsternen in den Fensterbögen der Synagoge korrespondiert. Das Kreuz steht hier auch symbolisch für das nicht im Bild erscheinende Dominikanerkloster, das der Synagoge gegenüberstand.
Bei Bildergesprächen mit Studentinnen und Studenten der Sozialarbeit wurde diese Korrespondenz zwar erkannt, aber nicht als „schicksalhafte Konfrontation“ gewertet. Die Ärmlichkeit des Kreuzes, das sich in der Nähe einer Litfaßsäule befindet, auf der ein Plakat mit der Aufschrift „NOT“ und das Gesicht eines Mannes mit aufgerissenen Augen und beschwörend erhobener Hand zu erkennen ist, deute doch eher auf das Versagen des „christlichen Abendlandes“ im Ersten Weltkrieg und die Not der Nachkriegszeit hin. Demgegenüber wirke die Synagoge mit ihren erleuchteten Fenster und ihrer türkisgrünen Kuppel nicht abweisend „fremd“, sondern geradezu „anheimelnd“. Das überraschendste Ergebnis dieser Bildergespräche war es aber, dass Teilnehmerinnen aus türkischen Migrantenfamilien den von einem rötlichen Schimmer umgebenen Halbmond oben im Himmel als Symbol für den Islam betrachteten. Sie ergänzten so die symbolische Gegenüberstellung von Judentum und Christentum zu einem Dreieck der abrahamitischen, monotheistischen Religionen, und dies durchaus nicht in konfrontativer Absicht, sondern eher im Geist von Lessings Ringparabel oder von Goethes west-östlichem Diwan.
Aus den Schriften und mündlichen Äußerungen Max Beckmanns ist kein Hinweis zu entnehmen, dass er eine solche konkrete Absicht mit dem Bild „Die Synagoge“ verfolgt haben könnte. Immerhin ist aber die „orientalisierende“ Gestaltung der Synagogenkuppel bemerkenswert, die kaum der realen Kuppel entspricht, wie sie auf historischen Fotos der am 9./10. November 1938 in der damals so genannten „Reichskristallnacht“ in Brand gesteckten Synagoge zu sehen ist (vgl. Schembs 1987). Die Nähe und formale Verknüpfung von Kuppel und Halbmond auf Beckmanns Bild mag Assoziationen an den vorderen Orient und damit auch an den Islam nahelegen. Zudem ist das ganze Bild aus ineinander verzahnten oder sich überschneidenden dreieckigen Formen und Kompositionslinien zusammengesetzt, so dass die von den Studentinnen vorgenommene symbolische Ergänzung einen Sinn macht. Schließlich kommt es auch nicht allein darauf an, was der Künstler seinerzeit mit seinem Bild „gemeint“ hat, sondern was mit heutigen Augen in ihm gesehen wird. Über dessen Plausibilität entscheidet, ob es sich um eine rein subjektive, individuelle Spekulation handelt, oder ob es mehrfach in verschiedenen Gesprächssituationen geäußert wird und auch von anderen Betrachtern nachvollzogen werden kann. Das war in den Bildergesprächsgruppen der Fall.
Es gibt ein weiteres Detail, das eine solche „interreligiöse“ (und damit interkulturelle) Lesart des Bildes stützen kann. Im Vordergrund ist eine Katze zu sehen: „Wir begegnen ihr häufig in Max Beckmanns Bildern… Hier … erscheint sie als Leitmotiv, als Tier der Nacht, einer Sphinx ähnelnd und eine Wächterposition einnehmend“ (Kujer/Straßheim 1990: 39). In einem der Bildergespräche wurden im Staub oder Schnee der Straße die „Flügel“ der Katze identifiziert – eine Verstärkung ihrer Bedeutung als „Sphinx“ und „Wächter“, die auf frühe Kulte und Kulturen anspielt. Auch hier ist es die Frage, ob Beckmann das bewusst gemalt haben kann. Seinem Stil entsprechen solche ephemeren Andeutungen eigentlich nicht. In der kunstwissenschaftlichen Literatur findet sich nichts dazu. Aber warum soll ein Laie mit unbefangenem Blick nicht etwas sehen können, was den Experten bisher verborgen blieb? Im Fall von Bildern und von bildender Kunst gibt es kein wissenschaftliches Interpretationsmonopol.
Sicherlich wäre es einigermaßen gewagt, in Beckmanns Bild auch eine religionsgeschichtliche Zeitachse entdecken zu wollen: Von der vor-monotheistischen Religiosität mit ihren Tiersymboliken über Judentum und Christentum zum Islam. In jedem Fall enthält das Bild keinerlei negative Wertung des jeweils „Anderen“, bringt verschiedene Religionen und „Kulturen“ auf engem Raum zusammen, ohne dass sie einander abstoßen müssten. Für die Teilnehmer der Bildergesprächsgruppen mit deutscher Herkunft war das Bild wichtig als Zeugnis des alltäglichen Zusammenlebens von jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen in Frankfurt am Main vor der Zeit des Faschismus. Dessen Vorzeichen machten einige in dem „brandigen Rot“ am Himmel aus. Für die Teilnehmer aus Migrantenfamilien war es wichtig, das Bild symbolisch mit dem Zeichen ihrer religiösen Herkunft zu ergänzen und es damit gleichsam als eine frühe Vision ihrer heutigen multikulturellen und multireligiösen Heimatstadt zu sehen. Dass Beckmanns Bild dies möglich macht oder zumindest erträgt, zeigt seine Qualität.
Fazit
Bei der Auswertung von Bildergesprächen mit studentischen Gruppen, an denen Studierende
aus Migrantenfamilien teilnahmen, hat sich ergeben, dass schicht- und geschlechtsspezifisch
geprägte Interpretationsunterschiede generell bedeutsamer zu sein scheinen als diejenigen,
die, mit aller Vorsicht, auf die unterschiedliche ethnische Herkunft zurückzuführen sind. Dies
ist ein Ergebnis, das selbstverständlich durch weitere Versuche überprüft werden müsste und
sich nicht ohne Weiteres auf die Verhältnisse in der Gesamtgesellschaft übertragen lässt.
Es hat sich gezeigt, dass Bildergespräche die Entstereotypisierung der Wahrnehmung befördern und damit Vorurteilsstrukturen zumindest momentan auflockern können. Dazu trägt bei, dass im Bildergespräch die Objektivierung eigener Werturteile dadurch ermöglicht wird, dass zwischen den subjektiven Assoziationen, Interpretationen oder auch Projektionen, die man zu einem Bild entwickelt, und dem Bild selbst im Verlauf des Gesprächs immer stärker differenziert werden kann.
Bildergespräche könnten in diesem Sinn auch Teil einer angewandten „visuellen Sozialwissenschaft“ sein. Soziale Verhältnisse und Strukturen, die in Bildern aller Art symbolisch repräsentiert sind und über die Wahrnehmung unbewusst rezipiert und reproduziert werden, wären beim gemeinsamen assoziativen und interpretierenden Sprechen über diese Bilder zu rekonstruieren und damit bewusster Reflexion zugänglich zu machen.
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