Das Bildergespräch – eine Methode sozialer Kulturarbeit

Aus: Hans-Jürgen Häßler / Christian von Heusinger (Hrsg.): Frieden, Tradition und Zukunft als Kulturaufgabe, Würzburg 1993

Ausstellung zum 100. Geburtstag von Otto Dix in der Galerie der Stadt Stuttgart. Vor einem Bild von 1920 stehend, auf dem Dix den preußisch-deutschen Etappenhengst des Ersten Weltkrieges karikiert, erklärt ein junger Mann seiner Begleiterin, dass der Künstler ganz unpolitisch gewesen sei, weder links noch rechts, und dass er ganz gut durchs Dritte Reich gekommen sei. Auf den Widerspruch zwischen seiner Meinung und der offenkundigen Aussage des Bildes aufmerksam gemacht, fragt er etwas verwirrt, wie dann das Bild die Nazizeit überlebt habe und jetzt in der Ausstellung hängen könne.

Man mag bestreiten, dass solche Erfahrungen mit Besuchern populärer Ausstellungen typisch sind. Auch wenn sie es nicht sind, bleibt die Frage, was Aufklärung über Kunst vermag, wenn die wachsende Zahl der Kunstinteressierten nicht ihren eigenen Augen zu trauen und mit denen der anderen zu sehen gelernt hat. Die Vermittlungsformen in Museen und Kunsthallen orientieren sich immer noch weitgehend am bildungsbürgerlichen Interesse an Wissen über Kunst – oder an heute vorherrschenden Konsumgewohnheiten. So sollten in der Stuttgarter Dix-Ausstellung schwarz und weiß gestrichene Styropor-Ruinen und dramatische Beleuchtungseffekte sowohl den Genuß an der Kunst steigern als auch den Besuchern eine Ahnung von der Realgeschichte vermitteln, die sich in den Bildern, mehr oder weniger verarbeitet und symbolisch verschlüsselt, wiederfinden lässt oder von der sie sich distanzieren. Vermutlich hat diese Inszenierung aber eher das Bild vom unpolitischen Nietzscheaner Dix bestärkt, das anlässlich seines 100. Geburtstages in den Feuilletons verbreitet worden war – und sich in der zitierten Meinung eines Ausstellungsbesuchers widerspiegelte.

Dem feuilletonistischen Zeitgeist entgegen stellte sich fast als einziger Eduard Beaucamp in der Frankfurter Allgemeinen: „Wer hätte geahnt, dass der hundertjährige Dix als gesamtdeutscher Künstler gefeiert wird. Von keinem Regime und keiner Partei hat sich Dix vor den Karren spannen lassen (…) Überall Widersprüche, Ambivalenzen, Brüche, Ungleichzeitigkeiten (…) Künstlerisch war er, der Diktatur zum Trotz, im Osten mehr zu Hause. Hier wurde er bewundert und machte Schule, während ihn der Westen erst spät wieder wahrnahm, weil dieser sich nach 1945 den hilfreichen Illusionen der Abstraktion, des Internationalismus und einer Überwindung von Geschichte und Wirklichkeit hingegeben hatte (…) Dix fand im Westen seine Sammler und Interpreten, aber im Osten, und zwar in Leipzig, (…) seine passionierten Jünger (…) Die Leipziger Maler teilen jetzt das Nachkriegsschicksal von Dix, das ihn erbitterte: im Westen verkannt und ignoriert zu werden.“ 1)

Welche Möglichkeiten haben der Ausstellungsbesucher und die Ausstellungsbesucherin, Widersprüche und Ambivalenzen, Zeitbezogenheiten und Ungleichzeitigkeiten im Werk eines Künstlers zu entdecken? Es gibt dickleibige Kataloge, Führungen und kunstpädagogische Angebote, Sendungen im Fernsehen und andere Informationen, die dabei helfen können. Nicht als Alternative dazu, sondern als eine Möglichkeit der Annäherung an Kunst unter anderen soll hier das Bildergespräch vorgestellt werden. Es setzt von vornherein auf den Dialog und darauf, dass es auf die eigene Wahrnehmung des Betrachters, seine Form- und Sinnassoziationen ankommt. Deshalb erscheint das Bildergespräch besonders geeignet, die Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeit von Werken der Kunst, ihre sozialen Funktionen oder „lebensweltlichen“ Bezüge zu erkennen. In ihm macht jeder Teilnehmer unmittelbar „die Erfahrung, dass andere anders deuten als ich“. 2)

Das Bildergespräch kann in verschiedenen Zusammenhängen eingesetzt werden und spielt dabei jeweils eine unterschiedliche Rolle. 3) Wenn es hier als Methode sozialer Kulturarbeit bezeichnet wird, so soll das darauf hinweisen, dass es nicht nur um die Aneignung von Kunst, um ästhetische Bildung geht (oder gehen muß), sondern auch um einen Gruppenprozeß, in dem Kunstwerke als Wahrnehmungs- und Gesprächsgegenstand, als Medium der Konzentration und Entfaltung von Phantasie genutzt werden. Dass dabei – je nach den Voraussetzungen und Interessen der Teilnehmer und je nach den Kenntnissen und dem Geschick derjenigen, die solche Gespräche leiten – auch allerhand Wissen über Kunst und Künstler, also ästhetische Bildung entstehen und vermittelt werden kann, ist selbstverständlich. Das Wichtigste: Auch Menschen, die ganz ungeübt sind, mit Kunst umzugehen, die nicht das Glück hatten, einen gymnasialen Kunstunterricht zu erleben, die beim Betreten von Museen und Galerien – trotz aller Erfolge des „Kultur für alle“-Konzepts – immer noch Schwellenangst haben, können mit Hilfe des Bildergesprächs ihren Zugang finden. Wir machen diese Erfahrung seit mehreren Jahren mit Studentinnen und Studenten der Sozialarbeit, mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern von Fortbildungsseminaren der IG Metall und mit informellen Gruppen von Ausstellungsbesuchern. 4)

Gabriele Sprigath, von deren „Modell“ des Bildergesprächs wir uns anregen ließen, hat den Sinn der Methode so bezeichnet: „Erst im Gespräch kann sich der Betrachter seine persönliche Beziehung zum Bild in Form von Assoziationen bewusst machen. Hat er dazu keine Gelegenheit, dann werden ihm auch die dabei hervortretenden Ängste, Sehnsüchte, Bedürfnisse und Erwartungen nicht bewusst, die er stattdessen weiter verinnerlicht. Die im Gespräch realisierte Phantasietätigkeit, in der der Betrachter sich ein eigenes Stück Selbstbewusstsein erobert, findet nicht statt.“ 5) Damit sich die Phantasietätigkeit der Teilnehmer entfalten kann, dürfen ihre Aussagen nicht nach „richtig“ oder „falsch“ bewertet oder in ein didaktisch vorformuliertes Interpretationskonzept gepresst werden. Als sinnlich-gegenständliche und zugleich symbolische Gebilde bieten Kunstwerke vielfältige Assoziationsmöglichkeiten, von denen nicht einfach die eine oder die andere „richtig“ ist. Mehrere Augenpaare sehen mehr und anderes als eines – und sei es das des kunstwissenschaftlichen Experten. Dabei kann es dennoch eine für alle oder die meisten Teilnehmer annehmbare Lesart geben, in der die subjektiv unterschiedlichen Wahrnehmungen aufgehoben sind. Das Bildergespräch ist auch ein Prozess der Meinungsbildung, in dessen Verlauf sich eine Gruppe von Menschen ihrer unterschiedlichen und gemeinsamen Sichtweisen und Ansichten bewusst wird. Persönliches kann indirekt, vermittels des Bildes, auf das der Gesprächsleiter oder die Gesprächsleiterin immer wieder hinlenkt, zur Sprache kommen. Weil die Teilnehmer im Verlauf des Gesprächs etwas über sich selbst und die anderen erfahren, kann es dazu dienen, eine Gruppenbildung zu fördern oder vorher verhärtete Gruppenstrukturen aufzulockern. Schließlich bringt die oft über eine Stunde dauernde, dabei aber nicht ermüdende Konzentration auf ein Bild eine gegenüber heutigen Sehgewohnheiten neuartige Erfahrung. 6)

Das Gespräch kann mit den spontanen und meist kontroversen Geschmacksurteilen der Teilnehmer beginnen. Oder es wird gleich mit einer Beschreibung des Bildes durch die Teilnehmer angefangen, in deren Verlauf dann die individuellen Wertungen vorgenommen werden. In dieser Phase ermutigt der Gesprächsleiter die Teilnehmer zu eigenen Aussagen, lehnt das Ansinnen ab, das Bild zu erklären oder zu verraten, was denn der Künstler gemeint habe, und greift nur strukturierend ein. Dabei zeigt sich immer wieder, dass sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen ergänzen und die Teilnehmer – einschließlich der Gesprächsleiter – mehr und Komplexeres sehen, als wenn sie sich allein, eventuell mit Hilfe angebotener Interpretationen, mit einem Bild auseinandersetzen würden. Die Beschreibung des Bildes – der dargestellten Gegenstände, Personen und ihrer Beziehung zueinander, der Formen und Strukturen, der Farben, der Komposition – geht über in oder ist schon verbunden mit Assoziationen zum Bedeutungsgehalt, zum Sinn einzelner Elemente oder Zusammenhänge. Allzu spekulative Deutungsversuche oder abstraktes Bildungswissen über Kunst können dabei durch das bewusste Hinlenken auf das Bild überprüft und gegebenenfalls relativiert werden.

Bei der gemeinsamen Interpretation gibt der Gesprächsleiter alle ihm zugänglichen Informationen, die beispielsweise zum Verständnis von Symbolen oder des zeitgeschichtlichen Hintergrunds von Formen und Inhalten notwendig sind und von den Teilnehmern nicht gewusst werden können. Allerdings vermeidet er es, nun die „eigentliche“, wissenschaftlich abgesicherte Interpretation zu bringen, sondern bestärkt die Teilnehmer darin, dass sie letzten Endes die Interpretation selbst leisten, weil das Bild hier und heute etwas für sie selbst bedeutet. Im weiteren Verlauf beziehungsweise gegen Ende eines Bildergesprächs können zusätzliche kunstwissenschaftliche Informationen – zur Biographie des Künstlers, zur Position seines Werkes in der Kunstgeschichte, zum Vergleich mit anderen Bildern und so weiter – sinnvoll sein. Oft sind sie nach unserer Erfahrung nicht mehr notwendig oder erwünscht, weil die Teilnehmer ganz unter dem sich überwältigenden Eindruck stehen, dass sie, „ohne vorher etwas zu wissen“, so lange über ein Bild reden konnten, dass es für sie lebendig und spannend wurde, dass sie eventuell ihr anfänglich negatives Urteil revidieren konnten. Gabriele Sprigath beschreibt das Bildergespräch als Entfaltung der „Fähigkeit, Dinge im Zusammenhang zu sehen. In dem Maße, in dem uns das gelingt, können wir beim Betrachten eines Bildes die in ihm vergegenständlichte dialektische Beziehung zwischen seiner subjektiven und seiner allgemeinen Bedeutungsebene erkennen und uns aneignen. Dies ist (…) nicht in erster Linie ein von Bildung abhängiger Vorgang, sondern ein Bewusstseinsprozess, in dem sich Bildung vollzieht“. 7)

Zwar lässt sich die Methode des Bildergesprächs – wie jede Methode – allein durch die Praxis, durch gute Erfahrungen mit ihr oder gesicherte Ergebnisse rechtfertigen. Es gibt aber auch theoretische Anknüpfungspunkte und Begründungen für sie. In der kunstwissenschaftlichen und kunstpädagogischen Debatte der letzten Jahre spielen „Wahrnehmung“, „Bilderlebnis“, „ästhetisches Denken“, „Kunst als Kommunikationsprozess“ eine immer größere Rolle. Wolfgang Welsch hat in seinem Essay „Zur Aktualität ästhetischen Denkens“ eine allgemeinere Begründung dafür gegeben: „Wirklichkeit – nicht nur die äußere, sondern schon die innere des Selbstverständnisses und der Sozialprogrammierung – ist heute weitgehend über massenmediale Wahrnehmung konstitutiert(…) Wo Wirklichkeit aus weichen Mäandern und ununterscheidbaren Übergängen von Schein und Realität oder Fiktion und Konstruktion besteht, da braucht es, um solchen Prozessen auf die Spur zu kommen und einigermaßen gewachsen zu sein, ein ähnlich bewegliches und geschmeidiges Denken, da ist nur noch ein ästhetisches Denken navigationsfähig.“ 8)

Ästhetisches Denken bedeutet, dass die subjektiven Wahrnehmungen, Sichtweisen und Sinnzuschreibungen ernst genommen und nicht zugunsten eines zu erkennenden Objektiven abgewertet oder unterschlagen werden. Dabei handelt es sich nicht um „ein simples Plädoyer für Empfindung, Gefühl, Affekt und dergleichen – jedenfalls so lange nicht, wie man diese Phänomene noch traditionell, also im Schema einer Gegenüberstellung zu Reflexion, Gedanke, Begriff denkt“. 9) Für den Umgang mit Kunst heißt das, dass die sinnliche Wahrnehmung und die Sinnassoziationen des oder der Betrachtenden für die Aneignung und Bedeutung eines Kunstwerks entscheidend sind. Gunter Otto schreibt dazu aus kunstpädagogischer Sicht: „Wahrnehmung ist in diesem Verständnis subjektbezogen, auf Sprache, Handlung und soziale Interaktion verweisen. Implizit orientieren sich gerade auch neuere Aktionskonzepte der Ästhetischen Erziehung, der Kulturpädagogik und der Museumspädagogik an dieser Grundfigur.“ 10)

Für Wolfgang Welsch stellt Kunsterfahrung auch deshalb eine Einübung in die heutige soziale Wirklichkeit dar, weil sie „eine exemplarische und mustergültige Einübung in Pluralität“ sei.11) Die Fähigkeit, unterschiedliche Deutungen und Bedeutungen zu erkennen und als gleichwertig anzuerkennen, ist heute gleichbedeutend mit interkultureller Lernfähigkeit. Wenn das Schlagwort von der multikulturellen Gesellschaft einen Sinn haben soll, dann doch den, dass von einem allgemeingültigen Kulturverständnis nicht (mehr) ausgegangen werden kann. Das Geltenlassen unterschiedlicher Sichtweisen soll nach Welsch nicht zur Indifferenz, zum „anything goes“ führen, sondern gerade zu einer Auseinandersetzung und zur Suche nach Verbindungen anregen. „Denn in der Tat ist es das Problem einer aus hochgradig pluralen Lebensformen zusammengesetzten Gesellschaft, dass sie Wege finden muß, wie diese Formen zu verbinden sind.“ 12) Auch dafür gelte: „Kunsterfahrung kann geradezu als Exerzitium unserer Lage (…) betrachtet werden.“ 13) Von anderen theoretischen Voraussetzungen her als Welsch kommt Jürgen Habermas zu dem Schluß: Sobald Kunst „auf Lebensprobleme bezogen“ werde, höre sie auf, eine Sache der „Expertenkultur“ zu sein. „Die ästhetische Erfahrung erneuert dann nicht nur die Interpretation der Bedürfnisse, in deren Licht wir die Welt wahrnehmen; sie greift gleichzeitig in die kognitiven Deutungen und die normativen Erwartungen ein und verändert die Art, wie alle Momente aufeinander verweisen.“ 14) Noch einmal Welsch: „Wer durch die Schule der Kunst gegangen ist und in seinem Denken der Wahrnehmung Raum gibt, der (…) lockert die Sperren eingefahrener Wirklichkeitsauffassungen zugunsten der Potentialität des Wirklichen und entdeckt Alternativen und Öffnungen ins Unbekannte.“ 15) Ästhetisches Denken verbinde „mit seinem Wahrnehmungsbezug Wahrheitsansprüche“.

Zwei Beispiele für Bildergespräche

 I

 Mehrmals wurde mit Gruppen von Studentinnen und Studenten der Sozialarbeit das im Frankfurter Städel hängende Bild „Der Hof des Waisenhauses im Amsterdam“ (1881/82) von Max Liebermann besprochen. Dabei kam das Verhältnis von Muße und fortgesetzter Arbeit in der „Freistunde“ der Waisenmädchen zur Sprache, die Spannung zwischen uniformer Kleidung und individuellen Haltungen, zwischen „freier“ Zeit und der Abgeschlossenheit des Innenhofs. Daraus wurde auf Liebermanns Verständnis von Handarbeit als nützlichem Tun, seine Darstellung bürgerlicher Wohlfahrtseinrichtungen in den Niederlanden als gelungene Lösung sozialer Fragen geschlossen.

Im Katalog zur Ausstellung „Max Liebermann in seiner Zeit“ in Berlin 1979 heißt es dazu: „Liebermann fand in diesem Motiv (…) das von ihm so geschätzte Ethos bürgerlichen Gemeinsinnes, das sich nicht nur in der Sorge für Alte, Kranke und Waisen äußerte, sondern auch in der unausgesetzten, gemeinschaftlichen Arbeit, in der der einzelne sich mit den anderen, die Tradition mit der Gegenwart verbindet. Nur die Arbeit schien ihm die Ordnung des bürgerlichen Gemeinwesens zu garantieren, das er in den alten Städten Hollands so exemplarisch verkörpert fand.“ 16) Dagmar Schlapeit-Beck hat darauf aufmerksam gemacht, dass die idyllische Szene einen „harten Bezug zur Realität“ aufweist: „Denn auch hier wird nicht freiwillig oder aus Spaß am Nähen gearbeitet, sondern aus dem Zwang der Anstalt heraus. Die wenigen Mädchen, die offensichtlich so schnell gearbeitet haben, dass sie sich als einzige in der Pause wirklich erholen können, platzierte Liebermann im Hintergrund. Die in ihre Arbeit vertieften Mädchen des Vordergrundes sind deutlicher zu erkennen (…) die nähenden Waisen sind ernst, konzentriert und z. T. auch apathisch. Das Bild ist trotz impressionistischer Anklänge keine Momentaufnahme, sondern Liebermann hat es nach vorhergehenden Studien in München im Garten seines Hauses gemalt und hat Modelle in den von ihm mitgebrachten Trachten abgebildet.“ 17) Der Absicht, die Verinnerlichung von Pflichten zu zeigen, entsprach es, dass Liebermann – wie auch in dem einige Jahr früher entstandenen Bild „Nähschule im Amsterdamer Waisenhaus“ – das Aufsichtspersonal wegließ, das auf zeitgenössischen Fotografien dieser Institution zu sehen ist.

In einem der Bildergespräche wies eine Studentin überraschend auf das bis dahin unbeachtet gebliebene Mädchen, das fast in der Mitte neben dem Brunnen steht. Durch näheres Herangehen an das Bild konnte geklärt werden, dass es in der linken Hand Körner oder Brotkrumen hält, die es den vor ihr pickenden Spatzen hinstreut. Warum war diese kleine Szene trotz ausführlicher Bildbeschreibungen bisher nicht aufgefallen? Die Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf den Kontrast zwischen den Gruppen der Mädchen auf der linken Seite des Bildes, die miteinander spielen oder sich unterhalten, und der Mädchengruppe auf der rechten Seite, die mit Näharbeiten beschäftigt ist. Zwar wurde erkannt, wie durch die perspektivische Darstellung der Fensterfront mit den hervorgehobenen Backstein-„Säulen“ Schutz und zugleich Eingeschlossensein der Mädchen symbolisiert wird. Dem Mädchen in der Mitte, das vor einer dieser „Säulen“ steht und mit dem Kopf fast auf gleicher Höhe mit zwei Mädchen der linken und einem der rechten Gruppe ist, wurde aber keine weitere Beachtung geschenkt – zumal ihr Bezug zu den Spatzen nur bei sehr genauer und naher Betrachtung erkennbar wird. Als er gesehen wurde, erschien er bedeutsam für die Aussage des Bildes. Die fürsorgliche Zuwendung zur Tierwelt spiegelt symbolische die Caritas wider, die den Waisenmädchen selbst durch die philanthropische Stiftung reicher Amsterdamer Bürger zukomme. Auch die Ärmsten und Geringsten sollen leben können. Aber das Bild sagt auch: Ohne Arbeit keine Hilfe. 17a)

Die Entdeckung dieser für das Verständnis von Liebermanns Bild nicht unwichtigen Szene hätte ich ohne Bildergespräch nie gemacht. In der mir zugänglichen kunstwissenschaftlichen Literatur habe ich nichts dazu gefunden. Aber selbst wenn sie irgendwo beschrieben und interpretiert worden ist, hätte ihre jeweilige Entdeckung im Verlauf eines Bildergesprächs eine viel stärkere Wirkung als das Zeigen und Zitieren. Solche Entdeckungen fallen übrigens leichter, wenn man sich beim Sprechen über Bilder auch auf formale Kompositionsprinzipien bezieht; in diesem Fall auf die Regel, dass fast immer bedeutsam ist, was in der Mitte eines Bildes geschieht.

II

 Mit einer Gruppe von Beschäftigten und Funktionären der IG Metall wird im Rahmen eines Fortbildungsseminars über das Bild „Die Argonauten“ (1990) von Anselm Kiefer gesprochen. Es befindet sich als Leihgabe des Künstlers im Frankfurter Städel. Fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben diese Kunstsammlung noch nie besucht, kennen sie kaum vom Hörensagen.

Zunächst zeigt die Gruppe eine starke Abwehr. Das Bild sehe ja furchtbar aus, als habe der Künstler beliebiges Zeug angehäuft und aufgeklebt: Geschirrscherben, angekohltes Holz, ein Kleiderbügel aus Draht uns so weiter. Die Farben seien schrecklich: Schwarz, Grau, Braungelb, schmutziges Weiß. Nachdem der erste Schock überwunden ist, kommt nicht die übliche Frage, was das denn mit Kunst zu tun habe, sondern ein Deutungsversuch. „Das ist ein Bild der Zerstörung … Krieg … Tschernobyl … Müllhalde unserer Zivilisation …“ Das Bild wird von den Teilnehmern wörtlich und gegenwärtig genommen – sein Titel interessiert zunächst niemanden, weil niemand sich in den Sagen des klassischen Altertums auskennt. Die abwehrende Reaktion gegen die „Materialität“ des Bildes bleibt nicht gegen das Bild oder den Künstler gerichtet, sondern bezieht sich – beim zweiten Blick – auf das, was das Bild symbolisch zu repräsentieren scheint. Bildergespräche ermöglichen ja zweite, dritte, vielfache Blicke.

Es folgt eine Phase der genaueren Beschreibung. Dabei gibt es für die auf dem Bild angebrachten kleinen Hemden aus Stoff und das große Hemd mit den aus Schlangenhaut gebildeten Armen und dem Gürtel aus Tierzähnen assoziative Bedeutungszuschreibungen: „Es sieht aus wie eine Kreuzigung  … wie ein heidnischer Fetisch …wie nach einem Bombenangriff, wenn Puppen- oder Kinderkleider auf dem Boden verstreut liegen … wie nach dem Abwurf einer Neutronenbombe, die menschliches Leben zerstört, aber Kleider und andere Gegenstände intakt lässt … die Hemden symbolisieren Macht und Ohnmacht … das große sieht wie das Hemd eines Jägers aus …“ Sollten diese vielleicht naiv erscheinenden Deutungsversuche ersetzt werden durch die „wahre“ Bedeutung, die sich aus dem Werk Anselm Kiefers, den kunsthistorischen Zusammenhängen oder der Argonautengeschichte ergibt, auf die im Titel des Bildes angespielt wird? Dann käme beispielsweise heraus, was in einem Faltblatt des Frankfurter Städel zu lesen ist: „Auch im Bild Die Argonauten spricht Kiefer das eingangs beschriebene Thema des suchenden und getriebenen Menschen an. Die hilflos wirkenden Hemdchen, die nur äußerst fragil mit ihrem Führer verbunden sind, spiegeln die Naivität wider, mit der sich die Argonauten auf den Weg machten.“ 18) Oder soll man die Deutung des Künstlers übernehmen? In einem Werkstattgespräch sagte Kiefer selbst über sein Bild: „Es wird erzählt, wie sich Medea an Glauke rächte, der zweiten Frau Jasons. Sie schenkte ihr eine schönes Kleid, das vergiftet war. Als sie es anzieht, löst sie sich sofort in nichts auf. Nur das Kleid bleibt übrig. Da haben wir das Kleid.“ 19) Aber Kiefer sagt auch, dass er die Argonautensage gar nicht gelesen hatte, als er das Bild konzipierte. Die Assoziationen der Teilnehmer sind durch die kunstwissenschaftliche Interpretation oder die Aussage des Künstlers (die sich in diesem Fall noch dazu widersprechen) nicht widerlegt und ersetzbar. Sie entsprechen ihrer heutigen Erfahrung. Kiefer könnte ihnen zustimmen, sagt er doch über seine Malerei: „Nicht die großartigen, sondern die banalen Dinge enthalten das, was weiterführt.“ 20) Und Kiefer setzt ja „auf die Offenheit und Vieldeutigkeit, die Geschichte als reales Geschehen einmal hatte. Er setzt auf die Durchmischung des Wissens mit Ahnung und Empfindung“. 21) „Ich habe ja fast schon etwas gegen das Wort Geschichte: Alles ist in gewisser Weise Gegenwart. Die Katalaunischen Felder sind Gegenwart, Homer, ein Epos wie Gilgamesch, das ist teils Geschichte, teils Mythos. Und das ist ja nicht tot, nicht geschichtlich, das ist unmittelbar.“ 22)

Nachdem die Erzählung von Jason und den Argonauten skizziert worden war, gab die Gruppe dem Bild noch eine weitere Bedeutung: Die Jagd nach dem „Goldenen Vlies“ habe kein Glück gebracht, und diese Lehre der Argonautensage können man vermittels des Bildes auch auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft anwenden. 23)

Die Auseinandersetzung mit dem Bild von Anselm Kiefer weckte bei den Teilnehmern ein Interesse an zeitgenössischer Kunst, das vorher kaum vorhanden gewesen war. Sie förderte den Gruppenprozess, was sich im weiteren Verlauf der Fortbildungswoche zeigte.

Zu den Möglichkeiten und Grenzen des Sprechens über Bilder hat der Kunsthistoriker Georg Schmidt einmal gesagt: „Das Wort kann nie mehr sein als günstigenfalls der Schlüssel, der die Pforte zum eigenen Erlebnis auftut. Kunst kann wohl missverstanden werden, aber es genügt nie, sie bloß verstanden zu haben.“24)

 

Anmerkungen:

 1) Eduard Beaucamp: Der souveräne Prolet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.9.1991.

2) Gunter Otto: Denken auf eigene Rechnung, in : Erziehung & Wissenschaft (Zeitschrift der GEW), Heft 7-8/1991.

3) In ihrem Buch: Bilder anschauen – den eigenen Augen trauen, Jonas Verlag, Marburg 1986, stellt Gabriele Sprigath das Bildergespräch als „Modell zur Kunstvermittlung“ dar und berichtet über praktische Erfahrungen mit dieser Methode in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Bildergespräche mit Arbeitern (allerdings sehr „lernzielorientiert“ geführte) dokumentiert auch Max Imdahl in seinen Büchern: Arbeiter diskutieren moderne Kunst – Seminare im Bayerwerk Leverkusen, Edition Kunstbuch Berlin im Rembrandt Verlag, Berlin  1982; und: Diskussionen über Malerei – Seminare mit Vertrauensleuten der Bayer AG Leverkusen, Bayer AG 1988. – Zu ähnlichen Ansätzen im Kunstunterricht vgl. die Debatten und Projektberichte in der Zeitschrift Kunst + Unterricht, Friedrich Verlag, 3016 Seelze 6. – Bildergespräche werden heute auch in therapeutischen Zusammenhängen eingesetzt. Einige Aspekte des spontanen Sprechens über Kunst zwischen oder mit Krankenhauspatienten sind z.B. dargestellt in: Der andere Blick. Heilungswirkung der Kunst heute, hg. von Walter Smerling und Evelyn Weiss, DuMont Buchverlag, Köln 1986.

4) Auf das Bildergespräch sind wir gekommen, als wir 1981 bis 1987 in Frankfurt am Main eine nichtkommerzielle Galerie für realistische Kunst machten. Aus der „Galerie im Bunker“ entwickelte sich die KunstGesellschaft, ein Verein mit etwa fünfzig Mitgliedern, der Bildergespräche in Ausstellungen und kunstpolitische Diskussionen veranstaltet. Wesentlich für die Hinwendung zu dieser Methode war die schon früher vertretene Position, dass Bilder immer mehrdeutig oder mehrfach codiert sind, auch die scheinbar eindeutigen der Werbung der politischen Propaganda. – Vgl. z.B. Reiner Diederich/Richard Grübling: Der deutsche Adler – Funktionen eines politischen Symbols, Ausstellungskatalog, Frankfurter Kunstverein 1973.

5) Gabriele Sprigath, a.a.O., S. 102.

6) Dazu ein Zitat von Karl Max Kober: „Die Bedeutung bildender Kunst besteht darin, dass sie als einzige Gattung Momente des Lebens modellhaft und statisch für mehr oder weniger lange Zeit festhalten kann. Bilder sind Weltmodelle, sie sind Fenster und Spiegel (…) Eben weil alles in Bewegung geraten ist, gewinnt die bildende Kunst zunehmend eine geradezu psychotherapeutische Aufgabe, indem  sie stabile Formgebilde zum Verweilen, ja zur Meditation anbietet.“ – Karl Max Kober: Betrachtungen zur Visualität. Über das Betrachten von Bildern, in: Bildende Kunst (Zeitschrift des Verbandes bildender Künstler der DDR), Heft 12/1988, S. 532.

7) Gabriele Sprigath, a.a.O., S. 99. Vgl. auch zu der hier gegebenen Skizze des Verlaufs von Bildergesprächen die Darstellung bei Gabriele Sprigath: Vom spontanen zum bewussten Sehen, a.a.O., S. 89 f.

8) Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken, Reclam Universal Bibliothek Nr. 8681, Stuttgart 1990, S. 59.

9) Ebd., S. 54 f.

10) Gunter Otto: Ästhetisches Denken und ästhetische Rationalität, in: Kunst + Unterricht, Heft 155/1991, S. 37.

11) Wolfgang Welsch, a.a.O., S. 70.

12) Ebd., S. 72.

13) Ebd., S. 71.

14) Jürgen Habermas: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, zit. nach Martin Zülch. Vom Eigensinn zum Hintersinn. Zur erkenntnisstiftenden Dimension der ökologischen Lesart, in: Kunst + Unterricht, Heft 150/1991, S. 19.

15) Wolfgang Welsch, a.a.O., S. 76.

16) Matthias Eberle: Katalog der Gemälde, in: Max Liebermann in seiner Zeit, Ausstellungskatalog, Nationalgalerie Berlin, Staatliche Museen – Preußischer Kulturbesitz, Berlin (West) 1979, S. 195.

17) Dagmar Schlapeit-Beck: Frauenarbeit in der Malerei 1870-1900, Verlag für Ausbildung und Studium in der Elefanten Press, Berlin (West) 1985, S. 140.

17a) Nachträgliche Anmerkung (2013): Erst bei späteren Gesprächen zu Liebermanns Bild wurden weitere Details der Szene erkannt, die bisher übersehen worden waren. Rechts neben dem Waisenmädchen im Zentrum, das die Spatzen füttert, pumpt ein anderes Wasser in den Bottich, so dass er überläuft und sich eine Pfütze bildet, aus der die Spatzen trinken können. Eine Verstärkung der Geste der Fürsorglichkeit. Andererseits hält das Mädchen, das mit der Linken den Spatzen etwas zum Picken hinstreut, in der Rechten (spielerisch drohend?) erhoben ein gebogenes Stöckchen, mit dem es sie verjagen könnte, wenn es ihr Spaß machte oder sie zu „frech“ würden. Liebermann hat die sonst von ihm nicht dargestellte „andere Seite“ der „totalen Institution“ Waisenhaus – Disziplinierung, Bestrafung, Züchtigung, Willkür und Launen des Personals – bewusst oder unbewusst in diesem kleinen Zeichen symbolisiert.

18) Stephan Mann: Anselm Kiefer – Über Räume und Völker, Faltblatt, Städtische Galerie im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main.

19) “Nachts fahre ich mit dem Fahrrad von Bild zu Bild“. Werkstattgespräch mit Anselm Kiefer, von Christian Kämmerling und Peter Pursche, in: Süddeutsche Zeitung, Magazin Nr. 46, 16.11.1990, S. 24 f.

20) Ebd., S. 27.

21) Georg Bussmann: Anselm Kiefer, in: Arbeit in Geschichte – Geschichte in Arbeit. Ausstellungskatalog, Georg Busmman und Projektgruppe der Gesamthochschule Kassel, Kunsthaus und Kunstverein Hamburg, 1988, S. 160.

22) „Aus dem Absturz heraus entsteht der Gesang“. Gespräch mit Anselm Kiefer, in: Die Welt, 2.3.1992.

23) Die Symboldeutung, die die Gruppe aus ihrem „lebensweltlichen“ Verständnis heraus vornahm, entspricht natürlich nicht – oder nur im Sinne einer kritischen Lesart, dem ursprünglich gemeinten Sinn der griechischen Sage: „Die Suche nach dem Goldenen Vlies versinnbildlicht das Streben, das scheinbar Unerreichbare zu finden. Dies zu erlangen ist notwendig, um die dunkle Seite der Natur zu überwinden, die vom Drachen und von Medea verkörpert werden, und das erfordert heroischen und mystischen Sieg.“ In: J. C. Cooper: Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, Drei Lilien Verlag, Wiesbaden 1986, S. 66.

24) Georg Schmidt: Umgang mit Kunst. Ausgewählte Schriften, Walter Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1966, Motto.

 

 

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